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HBS Böckler Impuls

Gesundheitsreform: Einig in der Diagnose, was ist die passende Kur?

Ausgabe 03/2006

2006 plant die Bundesregierung einen neuen Anlauf zu einer Gesundheitsreform. Forschungsinstitute haben im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung verschiedene Reformkomponenten durchgerechnet. Ergebnis: Eine stärkere Steuerfinanzierung und ein einheitlicher Versicherungsmarkt würden mehr Stabilität und Gerechtigkeit ins Gesundheitssystem bringen und Impulse für neue Arbeitsplätze schaffen.

Die Kontroverse Bürgerversicherung versus Kopfpauschale löst sich auf. Simone Leiber, Expertin für Sozialpolitik im WSI, skizziert einen pragmatischen Pfad: "Bei den beiden Konzepten handelt es sich nicht um einander vollständig ausschließende Modelltypen. Die aktuell diskutierten Vorschläge beruhen auf Einzelelementen, die verschieden miteinander verknüpft werden können." Das Internationale Institut für Empirische Sozialökonomie (INIFES) kommt zum selben Schluss: "Im Prinzip können einzelne Gestaltungselemente auch unterschiedlich kombiniert werden", so die Forscher um die Ökonomieprofessorin Anita Pfaff, die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung Finanzierungsalternativen für die Gesetzliche Krankenversicherung untersuchen.

Das bedeutet: Kombitherapie schlägt Patentrezept. Beliebig sind die Zutaten jedoch nicht. Insbesondere zwei Komponenten halten viele Wissenschaftler für zentral:

=> Gemeinsamer Markt für Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und Private Krankenversicherung (PKV).

Das System der Krankenversicherung ist bislang in Deutschland, international fast einmalig, strikt zwischen GKV und PKV aufgeteilt. In die PKV können nur Selbstständige und Beamte eintreten sowie Besserverdienende, deren Gehalt oberhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt. Die INIFES-Forscher plädieren für einen einheitlichen Krankenversicherungsmarkt: "Eine Ausweitung des Pflichtversichertenkreises auf möglichst die gesamte Bevölkerung könnte verschiedene Mängel des bestehenden Systems korrigieren." Denn aus Sicht vieler Experten machen die ungleichen Wettbewerbsbedingungen keinen Sinn. Die Versicherungspflichtgrenze "generiert im Gegenteil eine Tendenz zur Risikoentmischung und ist auch aus verteilungspolitischen Gründen bedenklich", schreiben die "Wirtschaftsweisen" des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Das bedeutet keineswegs das Aus für die Privaten Krankenversicherer. Im Gegenteil: Sie können im fairen Wettbewerb mit den Gesetzlichen einen Basistarif und darüber hinaus auch künftig Zusatzversicherungen anbieten. Das Institut für Gesundheit und Sozialforschung (IGES) hat im Auftrag der Stiftung untersucht, ob die Einbeziehung möglich ist, ohne die bisherigen privat Versicherten in ihren Rechten zu beschneiden. Ergebnis: Es gibt mehrere Möglichkeiten dafür. So könnten etwa GKV und PKV in einen einheitlichen Risikostrukturausgleich einbezogen werden. Allein durch Ausweitung des Versichertenkreises könnten die Beitragssätze laut IGES um 0,6 bis 0,7 Prozentpunkte sinken.
 
=> Mehr Steuerfinanzierung in der Sozialversicherung.

Die Sozialversicherungen werden heute zum größten Teil über Beiträge bezahlt, die nur die abhängig Beschäftigten (und deren Arbeitgeber) aufbringen müssen. Dabei enthalten sie zahlreiche so genannte versicherungsfremde Leistungen, die im Interesse der gesamten Gesellschaft liegen -  etwa Teile der Rentenangleichung in Ostdeutschland oder die beitragsfreie Kinderversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Für solche Aufgaben sind die Steuern aller Bürger die bessere, weil breitere Finanzierungsbasis. Mit mehr Steuerfinanzierung ließe sich eine schleichende Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte stoppen: die systematische Entlastung der öffentlichen Haushalte zu Lasten der Sozialversicherungen. Die Ausmaße dieses Trends stellt Professor Bert Rürup in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Expertise dar: Während die Steuerquote in Deutschland 2003 mit gut 20 Prozent deutlich niedriger lag als 1970, stieg die Sozialbeitragsquote von knapp 11 auf mehr als 16 Prozent. Summiert man die gesamten Steuereinnahmen und vergleicht sie mit der Summe der Sozialbeiträge, betrug das Verhältnis 1970 gut zwei Drittel zu einem Drittel. Bis 2003 verschoben sich diese Anteile auf nur noch 55 zu 45. Und das, obwohl höhere Beiträge als Lohnzusatzkosten "eine wichtige Ursache für die unbefriedigende Beschäftigungsentwicklung sind", so Rürup.

Bis zu 83,7 Milliarden Euro jährlich müssen die Sozialversicherten derzeit jährlich für Leistungen im gesamtgesellschaftlichen Interesse aufwenden. Das errechnet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für alle Zweige der Sozialversicherung. Je nach Definition der versicherungsfremden Leistungen schwanken die Zahlen jedoch. Grund dafür ist die schwierige Abgrenzung zwischen genuiner Versicherungsleistung und versicherungsfremdem Transfer: Knapp 22 Milliarden berechnet das DIW allein für die Gesetzliche Krankenversicherung. Werner Sesselmeier, Professor an der Universität Koblenz-Landau, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: 27,5 Milliarden Euro. Den Löwenanteil in beiden Berechnungen macht die beitragsfreie Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehegatten und von Kindern aus. Das sieht auch der Finanzwissenschaftler Rürup so. Sein Verständnis von versicherungsfremden Leistungen geht jedoch noch weiter. Er fasst darunter alle Leistungen und Umverteilungsströme in der Krankenversicherung, die nicht dem Ausgleich zwischen niedrigen und hohen Gesundheitsrisiken dienen. Daher kommt er auf eine noch höhere Summe: gut 44 Milliarden Euro.

Egal, welcher Berechnungsvariante man folgt, die gigantischen Summen wären kaum ohne Steuererhöhungen zu finanzieren. Selbst die gegenwärtig diskutierte "Einstiegslösung", künftig die Kinder-Krankenversicherung aus Steuermitteln zu finanzieren, würde nach INIFES-Berechnungen 18 Milliarden Euro im Jahr erfordern. Doch Modellrechnungen zeigen auch, dass sich der Umfinanzierungs-Aufwand lohnt, weil er Impulse für mehr Beschäftigung setzen kann: So ließen sich nach DIW-Simulationen mit einer Erhöhung des vollen Mehrwertsteuersatzes um zwei Prozentpunkte und einem zehnprozentigen Aufschlag auf die Einkommensteuer Beitragssenkungen in der Sozialversicherung von vier Prozentpunkten oder knapp 50 Milliarden Euro gegenfinanzieren. Haushalte von Arbeitern und Angestellten bis zu einem Bruttoeinkommen von 4.276 Euro sowie Rentner würden dabei etwas weniger zahlen als bisher, Arbeitslose netto maximal einen Euro pro Monat mehr. So könnten bis zu 500.000 neue Arbeitsplätze entstehen.

Diesen grundsätzlichen Vorzug sehen die meisten Experten. Unterschiedliche Ansätze verfolgen sie bei der konkreten Ausgestaltung der Umfinanzierung. Etwa bei der Frage, wie der Steuerzuschuss am besten in die Sozialkassen fließt. Der SVR-Vorsitzende Rürup plädiert im Fall einer umfassenden Reform der Kranken- und Pflegeversicherung dafür, Pauschalbeiträge für alle Versicherten einzuführen. Haushalte, bei denen die Pauschale eine bestimmte Einkommensgrenze überschreitet, sollen einen Ausgleich aus Steuermitteln erhalten. Diese Finanzierungsweise über eine "Bürgerpauschale" entlaste die Beschäftigten "zielgenauer", argumentiert Rürup.

Allerdings ist für einen solchen Reformschritt die Gegenfinanzierung über Steuermittel besonders teuer. Die IGES-Forscher haben einen Pauschalbeitrag kalkuliert - als eine von mehreren Möglichkeiten, die Krankenversicherung zu entlasten. Ergebnis: 189 Euro müsste jeder erwachsene Versicherte im Durchschnitt an seine Krankenversicherung bezahlen. Zusätzlich müssten 39 Milliarden Euro an steuerfinanzierten Beitragszuschüssen fließen. "In der gegenwärtigen politischen Lage ist eine Bürgerpauschale wenig realistisch, weil der Konsolidierung des Haushalts hohe Priorität eingeräumt wird", analysiert WSI-Forscherin Leiber. Die Suche nach den passenden Komponenten aus dem Reformbaukasten wird also weitergehen.

  • Die gesetzlichen Krankenkassen kommen für Ausgaben auf, für die keine Versicherung abgeschlossen wurde. Zur Grafik
  • Die gesetzliche Krankenversicherung finanziert den größten Teil der Kosten der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Zur Grafik
  • Was kann eine Gesundheitsreform bewirken? Zur Grafik

Weitere Infos zum Thema

Prof. Dr. Bert Rürup: Das Verhältnis von Beitragsfinanzierung und Steuerfinanzierung in der Sozialen Sicherung am Beispiel der Gesetzlichen Krankenversicherung, Technische Universität Darmstadt, Institut für Finanz- und Wirtschaftspolitik, 2006. Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Mehr Infos zum Projekt

Wilhelm F. Schräder: Bürgerversicherung im Gesundheitswesen - Organisatorische Ausgestaltung und Umsetzung sowie einzelwirtschaftliche Konsequenzen, Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) 2006. Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Mehr Infos zum Projekt

Anita Pfaff: Finanzierungsalternativen der Gesetzlichen Krankenversicherung - Einflussfaktoren und Optionen der Weiterentwicklung, INIFES 2006. Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Mehr Infos zum Projekt

Volker Meinhard, Rudolf Zwiener: Gesamtwirtschaftliche und Verteilungseffekte einer Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Sozialversicherung, Gutachten des DIW im Auftrag des DGB-Bundesvorstands, der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung, März 2005. Mehr Infos zum Projekt

Werner Sesselmeier: Gesamtgesellschaftliche Leistungen in der Gesetzlichen Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung - Abgrenzung und Umfang, Uni Koblenz-Landau, Gutachten im Auftrag des DGB-Bundesvorstands, Juni 2005.

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