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HBS Böckler Impuls

Europäische Union: Ein Stabilitätspakt für Europas Sozialstaaten

Ausgabe 14/2011

Mit der Wirtschaftskrise haben die Staaten Europas enorme Schulden aufgehäuft. Viele Sparprogramme sehen Einschnitte bei den Sozialleistungen vor. Eine Koordinierung der EU-Sozialsysteme könnte unzumutbaren Härten vorbeugen.

Wenn bestimmte Schwankungsbreiten für die Sozialhaushalte europaweit festgeschrieben würden, ließen sich ein Anstieg der Armut und ein „race to the bottom“ zwischen den EU-Mitgliedern verhindern. Dies ist die Grundidee des in den 1990er-Jahren entwickelten Korridormodells von Klaus Busch, Politikprofessor an der Universität Osnabrück.

Es setzt die Sozialleistungen mit der Wirtschaftskraft eines Landes in Beziehung – und definiert so einen Korridor, innerhalb dessen die Sozialausgaben dem Wohlstand eines Landes ange­messen sind. Die rein quantitative Betrachtung entspricht einem empirisch nachweisbaren Zusammenhang: Die Quali­tät der Sozialleistungen lässt sich im Wesentlichen nur durch höhere Ausgaben steigern.

Konzept gegen Sozialdumping zwischen den EU-Mitgliedern

Derzeit, da unter anderem Länder wie Irland und Großbritannien als Reaktion auf die Wirtschaftskrise tiefe Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme vornehmen, sei eine Koordinierung auf europäischer Ebene besonders dringend erforderlich, so der Politologe. Das Konzept könne Sozialdumping zwischen den Staaten vermeiden und sozialstaatliche Aufholprozesse der schwächer entwickelten Staaten ermöglichen.

Ein entscheidender Vorteil: Es würden nur die Sozialleistungsquoten reguliert, also der relative Anteil der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung. So entscheiden die einzelnen Staaten weiterhin selbst, welche Leistungen sie konkret anbieten wollen.

Busch hat sein Modell ständig weiterentwickelt – und nun einen neuen Indikator gefunden, um die Angemessenheit der Sozialleistungen zu messen: die Sozialschutzausgaben pro Kopf in Kaufkraftstandards (KKS) im Vergleich zum Pro-Kopf-Einkommen in KKS. Daraus ergibt sich eine im Zeitablauf stabile Kennzahl, die das Niveau der sozialen Sicherung verlässlich wiedergibt.

Mit Hilfe des neuen Indikators lässt sich ein Korridor für alle Staaten festlegen. Innerhalb dieses Korridors dürften die Sozialschutzausgaben schwanken. Über seine Schwankungsbreite – 10, 15 oder 20 Prozent – wäre politisch zu entscheiden.

Bei einer Bandbreite von 20 Prozent würden auf Basis der Werte für 2007 Schweden, Frankreich, Portugal, Ungarn, Polen, Bulgarien und Rumänien den Korridor nach oben überschreiten, hätten also überdurchschnittliche Sozialausgaben. Als Länder mit unterdurchschnittlichen Sozialausgaben lassen sich Irland, Großbritannien, Spanien, Zypern, Malta, Tschechien, Estland, Litauen und Lettland identifizieren.

Bei der Umsetzung des Korridormodells wären allerdings einige Probleme zu berücksichtigen: Differenz von Brutto- und Nettogrößen. Die EU-Staaten belegen ihre Sozialleistungen in unterschiedlichem Maße mit Beiträgen und Steuern. Das Korridormodell müsste neben den direkten Steuern und Beiträgen auch die indirekten Steuern und alle Steuerbegünstigungen für soziale Zwecke berücksichtigen, um vergleichbare Werte zu erhalten.

Konjunkturelle Verzerrungen. Bei der Ermittlung des Pro-Kopf-Einkommens in Kaufkraftstandards wäre ein Verfahren zu wählen, das unempfindlich gegenüber konjunkturellen Schwankungen ist. Denn in Zeiten des Booms liegt das Pro-Kopf-Einkommen höher als in der Krise. Die Schätzung des potenziellen Outputs ist allerdings mit großen methodischen Unsicherheiten behaftet, so Busch. Er lässt offen, mit welchem Verfahren sich Verzerrungen am besten minimieren ließen.

Unterschiedliche Einkommensquellen. Von Land zu Land variiert, wie viel die Empfänger der Leistungen, die Unternehmen und der Staat zur Finanzierung von Sozialleistungen beitragen. Beispielsweise sind Arbeitgeber in vielen osteuropäischen Ländern überdurchschnittlich, Arbeitgeber in Dänemark hingegen weit unterdurchschnittlich belastet. In 9 von 27 EU-Staaten unterschreitet der Finanzierungsanteil der Unternehmen den Wert von 35 Prozent; Deutschland liegt mit 34,9 Prozent knapp darunter.

Der Politikprofessor empfiehlt, für den Arbeitgeberanteil einen Zielkorridor von 35 bis 45 Prozent zu vereinbaren. Denkbar wäre auch, die gesamte Steuer- und Abgabenbelastung des Unternehmenssektors europaweit zu koordinieren.

Kasten:

Europa: Konzepte für mehr soziale Koordinierung

Für die Koordinierung der Wohlfahrtsstaaten auf EU-Ebene liegen außer dem Korridormodell weitere, sehr unterschiedliche Konzepte vor.

Offene Methode der Koordinierung. Dieses Verfahren wendet die EU bereits an. Es sieht vor, über nationale und regionale Aktionspläne gemeinsame Leitlinien umzusetzen. Bislang haben die Staaten dadurch zwar vermehrt Informationen und Erfahrungen ausgetauscht, lobt Klaus Busch. Ob sie Empfehlungen umsetzen, entscheiden allerdings allein die nationalen Regierungen. Damit reiche die Methode nicht aus, um eine parallele Entwicklung von ökonomischem und sozialem Fortschritt in der EU zu gewährleisten.

Mindeststandards. Mindestvorschriften für soziale Standards gehören zu den am häufigsten genannten Vorschlägen zur Regulierung der Wohlfahrtsstaaten. Diese eignen sich jedoch nur bei einer ökonomisch weitgehend homogenen Staatengruppe, so Busch. In der EU wäre dieser Ansatz zweifach gefährlich: Ein zu hohes Niveau würde ärmere EU-Staaten überfordern – und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährden. Zu niedrige Standards könnten reichere Länder dazu verleiten, ihre Leistungen abzubauen.

Sozialschlange. Der Vorschlag der beiden Belgier Michel Dispersyn und Pierre van der Vorst legt für jede soziale Leistung ein mittleres EU-Niveau fest. Staaten mit einer positiven Abweichung dürften ihre Sozialleistungen nur steigern, wenn sie Gelder an Staaten mit einer negativen Abweichung überweisen. Mit der Zeit würden die wohlfahrtsstaatlichen Niveaus harmonisiert.

Dem Grundgedanken der Idee sei zwar zuzustimmen. Sie ließe sich allerdings politisch nur schwer umsetzen, wendet der Politikprofessor ein.

  • Mittels eines Indikators lässt sich die Angemessenheit der Sozialleistungen verlässlich messen: den Sozialschutzausgaben pro Kopf in Kaufkraftstandards (KKS) im Vergleich zum Pro-Kopf-Einkommen in KKS. Zur Grafik

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