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HBS Böckler Impuls

Tarifpolitik in Europa: Deutschland hält die rote Laterne

Ausgabe 14/2005

2004 war für die Arbeitnehmer in Europa kein gutes Jahr: Die Löhne blieben hinter dem wirtschaftlich Möglichen zurück. Schlusslicht bei der Einkommensentwicklung ist Deutschland.

In Deutschland wurde der verteilungsneutrale Spielraum nicht annähernd ausgeschöpft: Preise und Produktivität stiegen zusammengenommen um 2,8 Prozent, die Nominallöhne jedoch nur um 0,1 Prozent - bleibt eine Verteilungslücke von 2,7 Prozent. Deutschland falle damit "deutlich aus dem europäischen Rahmen", stellt Thorsten Schulten vom WSI fest.

In den letzten Jahren sei die jährliche Steigerung der Nominallöhne in Europa zwar "etwas zurückgegangen", hat Schulten festgestellt. Doch besonders in den Ländern, die im vergangenen Jahr der EU beigetreten sind, hat ein deutlicher Aufholprozess eingesetzt: In Lettland stiegen die Löhne im vergangenen Jahr nominal um 16,5 Prozent, in der Slowakei um 10,8 Prozent und in Litauen um 10,0 Prozent. Selbst im "alten" Europa hatten die Beschäftigten spürbar mehr auf dem Konto: 5,7 Prozent in Irland und Griechenland, rund 4 Prozent in Spanien und Großbritannien.

Die rote Laterne hält Deutschland: Es habe nicht nur die "mit Abstand schlechteste Verteilungsbilanz", sondern sei "das einzige Land mit einer negativen Reallohnentwicklung", so Schulten. Und das seit langem: Deutschland ist das einzige europäische Land, in dem die Beschäftigten real (also wenn man die Preissteigerung berücksichtigt) weniger Geld zur Verfügung haben als vor zehn Jahren. Ursache sind nicht nur zu niedrige Lohnabschlüsse: Das WSI berücksichtigt die tatsächlichen Einkommen. Dabei wirkt sich aus, dass besonders in Deutschland Tariferhöhungen von den Unternehmen nicht an die Beschäftigten weitergegeben, sondern mit übertariflichen Leistungen verrechnet werden (negative Lohndrift).

Beschäftigte von Konjunktur abgekoppelt

Die Auswirkungen bekommen nicht nur die Beschäftigten in Deutschland zu spüren. Dass der Verteilungsspielraum ausgeschöpft wird, wäre Voraussetzung dafür, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung gleichgewichtig teilhaben und das Verhältnis zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen konstant bleibt. Das hat sich jedoch deutlich zugunsten der Arbeitgeber verschoben. Die daraus resultierende Konsumschwäche in Deutschland bremse nicht nur die Konjunktur in ganz Europa. Deutschland ziehe zudem "ökonomisch hochgradig abhängige Nachbarstaaten" wie Belgien, die Niederlande und Österreich "in den Sog einer extrem moderaten Lohnentwicklung", befürchtet Schulten.

Für 2005 besteht wenig Hoffnung, dass sich die Verhältnisse bessern: Das WSI geht davon aus, dass die gesamt-europäische Verteilungsbilanz 0,4 Prozentpunkte zu Lasten der Beschäftigten ausweist; in Deutschland werden es voraussichtlich sogar 0,9 Prozentpunkte sein. Eher trübe Aussichten auch bei der Arbeitszeit: Abgesehen von Frankreich und Belgien ist die tarifliche Arbeitszeitverkürzung zum Erliegen gekommen. "Ausgehend von den Auseinandersetzungen in Deutschland", so Schulten, deute sich in vielen Ländern sogar ein "arbeitszeitpolitischer Paradigmenwechsel hin zu längeren Arbeitszeiten an". Es drohe ein "europaweiter Wettlauf um die längsten Arbeitszeiten".

  • 2004 war für die Arbeitnehmer in Europa kein gutes Jahr: Die Löhne blieben hinter dem wirtschaftlich Möglichen zurück. Schlusslicht bei der Einkommensentwicklung ist Deutschland. Zur Grafik
  • 2004 war für die Arbeitnehmer in Europa kein gutes Jahr: Die Löhne blieben hinter dem wirtschaftlich Möglichen zurück. Schlusslicht bei der Einkommensentwicklung ist Deutschland. Zur Grafik

Thorsten Schulten, "Europäischer Tarifbericht des WSI - 2004/2005", in: WSI-Mitteilungen 7/2005

Thorsten Schulten, Solidarische Lohnpolitik in Europa - Zur Politischen Ökonomie der Gewerkschaften; VSA-Verlag, Hamburg 2004.
mehr Infos zum Buch 

Gabriele Sterkel / Thorsten Schulten / Jörg Wiedemuth (Hrsg.): Autonomie im Laufstall - Gewerkschaftliche Lohnpolitik in Euroland; VSA-Verlag, Hamburg 2004. mehr Infos zum Buch

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