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HBS Böckler Impuls

Tarifautonomie: Das Prinzip Eigenverantwortung

Ausgabe 11/2005

Prof. Dr. Thomas Dieterich, ehemaliger Präsident des Bundesarbeitsgerichts, sagt: Die Tarifautonomie ist unersetzlich. Gesetzliche Öffnungsklauseln würden das System zerstören.

F: Viele Ökonomen behaupten, die Tarifautonomie hindere Unternehmen an der Anpassung an den globalen Wettbewerb und gefährde so Arbeitsplätze. Sind verfassungsrechtliche Vorgaben und wirtschaftliche Notwendigkeiten in Konflikt geraten?

Dieterich: Nein. Unsere Verfassung ist wirtschaftspolitisch neutral. Sie folgt ordnungspolitisch einem marktwirtschaftlichen Konzept, indem sie Privatautonomie, Berufsfreiheit und Privateigentum gewährleistet. Tarifautonomie beruht ebenso wie die Vertragsfreiheit auf der liberalen Überzeugung, dass die Betroffenen ihre Rechtsbeziehungen am besten selbst regeln können. Sie müssen dazu aber auch in der Lage sein. Die dafür erforderliche Verhandlungsstärke fehlt den Arbeitnehmern. Deshalb haben sie sich zusammengeschlossen, um der Arbeitgeberseite auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten zu können. Die Verfassung garantiert das ebenso wie die daraus folgende Tarifautonomie. Diese ist nichts anderes als eine kollektive Privatautonomie, die den einzelnen Arbeitnehmer vor Erpressung und Übervorteilung schützt.

F: Kritiker behaupten, daraus sei ein Kartell geworden, das seine Macht ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Unternehmen und zum Nachteil der Arbeitslosen ausübe.

Dieterich: Tarifautonomie dient nicht dem Missbrauch, sondern dem Ausgleich von Marktmacht. Ihr Zweck ist nicht die Störung, sondern die Herstellung des Gleichgewichts bei Vertragsverhandlungen. Und sie ist keine Zwangsbeglückung. Das ganze System beruht auf Freiwilligkeit und steht im Wettbewerb mit denen, die den Verbänden nicht angehören. Ordoliberale müssten es von Herzen lieben.

F: Gegen die Flächentarife wird eingewandt, sie seien zu starr und undifferenziert für die differenzierte und sich rasch wandelnde Lage von Unternehmen.

Dieterich: Flächentarifverträge schreibt das Gesetz doch gar nicht vor. Die Tarifparteien, auch jeder Arbeitgeber, können firmenbezogene Tarifverträge schließen. Davon wird auch reichlich Gebrauch gemacht. Von den zurzeit gültigen rund 57.300 Tarifverträgen sind fast die Hälfte Firmentarifverträge. Überhaupt ist die Tarifpraxis viel differenzierter und betriebsoffener, als manche Polemik glauben machen will. Den starren Einheitstarif gibt es kaum noch. Das Spektrum betrieblicher Öffnungsklauseln ist schon so groß, dass Zweifel an der Steuerungsfähigkeit des Systems laut werden.

F: Union und FDP wollen Betriebsräte sogar gesetzlich dazu ermächtigen, von den Tarifverträgen abzuweichen. Betriebsräte wüssten schließlich am besten, was gut ist für die Belegschaft des einzelnen Betriebes.

Dieterich:  Die Verbindlichkeit von Tarifverträgen schützt nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Unternehmen. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass tarifgebundene Konkurrenten mit vergleichbaren Personalkosten kalkulieren. Aber vor allem kann und darf ein Betriebsrat nicht die Gewerkschaft ersetzen. Eine Betriebsvertretung mit der Kompetenz, geltendes Tarifrecht zu verändern oder zu verdrängen, wäre nichts anderes als eine beitragsfreie Betriebsgewerkschaft mit Zwangsmitgliedschaft, aber ohne Arbeitskampfbefugnis.

F: Und wenn es eine Art demokratischer Legitimation durch Belegschaftsabstimmung gäbe?

Dieterich: Das würde nichts daran ändern, dass Tarifverträge keine echten Verträge mehr wären. Sie würden zu unverbindlichen Richtlinien, die nur so lange Geltung beanspruchten, bis ein Arbeitgeber seine Belegschaft mit Stilllegungs- oder Verlagerungsprojekten so unter Druck setzen könnte, dass sie alles unterschreiben - in der Hoffnung, ihren eigenen Arbeitsplatz zu retten. Also auch mit einer Belegschaftsabstimmung wäre eine gesetzliche Öffnung von Tarifverträgen ein zerstörerischer Eingriff in die Koalitionsfreiheit und mit Sicherheit verfassungswidrig.

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Tarifliche Regelungen zur Arbeitszeit und ihrer Gestaltung. Eine Analyse von 24 Tarifbereichen, April 2005
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Frank Bauer, Eva Munz: Arbeitszeiten in Deutschland: 40plus und hochflexibel;
in: WSI-Mitteilungen 01/2005
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