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HBS Böckler Impuls

Tarifpolitik: Blauer Kragen, weißer Kragen: Eine überholte Unterscheidung verschwindet

Ausgabe 03/2008

Derzeit läuft eine der größten Tarifreformen der Republik: In der Metall- und Elektroindustrie wird neu definiert, wie viel die Arbeit von Millionen Beschäftigten wert ist. Verteilungskonflikte erschweren die Umsetzung des Entgeltrahmenabkommens (ERA).

Was schon eine Weile etwas antiquiert wirkt, dürfte bald auch  Tarifgeschichte sein: Wenn das Entgeltrahmenabkommen (ERA) in der Metall- und Elektroindustrie umgesetzt ist, verschwindet die Trennung von Arbeitern und Angestellten. "Bisher sind die Unterschiede zwischen den Tarifverdiensten von Angestellten und Arbeitern mit vergleichbaren Anforderungen beträchtlich", schreiben Reinhard Bahnmüller und Werner Schmidt vom Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur (F.A.T.K.) der Universität Tübingen. So liegt in Baden-Württemberg die Ecklohngruppe der Facharbeiter um mehr als 400 Euro unter der als gleichwertig geltenden Tarifgruppe der Techniker.

Das einheitliche Entgeltrahmenabkommen für Angestellte und Arbeiter soll die Kriterien der Entlohnung in der Metall- und Elektrobranche aktualisieren und nicht gerechtfertigte Unterschiede beheben. Wissenschaftler des F.A.T.K. beobachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung die ERA-Umsetzung in den Betrieben in Baden-Württemberg. Dafür haben sie Interviews mit Experten der Tarifparteien, mit Betriebsräten, Personalverantwortlichen und Beschäftigten geführt.

Das neue Entlohnungssystem. Das von den Tarifparteien 2002 beschlossene Entgeltrahmenabkommen wird derzeit in den Betrieben umgesetzt. Es handelt sich - so Bahnmüller und Schmidt in einem Zwischenbericht - um "eines der größten entgeltpolitischen Reformprojekte der Nachkriegszeit". Weil die bisherigen Bewertungskriterien die gewandelten Aufgaben in der Metall- und Elektroindustrie nicht mehr hinreichend erfassen, wird die Arbeit und Leistung von zwei Millionen Beschäftigten neu bewertet. Das Entgelt soll stärker als bisher die tatsächlichen Arbeits- und Leistungsanforderungen widerspiegeln.

Arbeitgeber und -nehmer wollen die Leitfunktion von Tarifverträgen stärken. Allerdings unterscheiden sich ihre Strategien und ihr Vorgehen in der Umsetzungsphase, beobachten die Wissenschaftler in Baden-Württemberg: Eigentlich soll ERA kostenneutral sein, doch in den Betrieben kommt es bei der Einführung zu Verteilungskonflikten. Differenzen treten oft bei der Bewertung von Beschäftigten auf, deren Arbeitsentgelt sich zwar nicht real verringert, die aber nach dem neuen Rahmenabkommen in eine niedrigere Entgeltgruppe kommen. Außerdem sorgen die Aufgabenbeschreibungen für Diskussionen: Wie konkret soll sie sein? Der Arbeitgeberverband schlägt vor, recht allgemeinen Mustern zu folgen. 122 Beispiele sollen 75 Prozent der Tätigkeiten abdecken. Die Arbeitnehmer bevorzugen eine präzisere Formulierung unter Einbeziehung der Betriebsräte.

Eine Frage der Anerkennung. Welche Beschäftigtengruppen mehr im Geldbeutel haben, wenn ERA etabliert sein wird, ist schwer abzuschätzen, schreiben die Forscher der Uni Tübingen. "In der Tendenz zeigt sich, dass Facharbeitertätigkeiten in der Produktion und in produktionsnahen Bereichen - wie intendiert - höher bewertet werden." Angelernte Beschäftigte und jene mit einfachen Büro-Tätigkeiten dürften hingegen seltener von der Umstellung profitieren. Hier gibt es auch häufiger niedrigere Bewertungen. Zu direkten Einbußen führt ERA nicht. Wer heute als so genannter Überschreiter gilt, bekommt nicht weniger - er bekommt allerdings, falls nichts anderes geregelt ist, von künftigen Tarifsteigerungen einen geringeren Anteil als die Kollegen.

Bei der Umstellung geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Fragen der Anerkennung, erklären Bahnmüller und Schmidt. Viele Beschäftigte, die einer neuen Tarifgruppe zugeordnet werden, glauben einen Mangel an Wertschätzung wahrzunehmen. So werde die Eingruppierung in die bislang ungenutzte unterste Entgeltgruppe als Signal aufgefasst: Wer hier landet, ist ganz unten angekommen - selbst wenn er nicht weniger verdient als zuvor. Und wer niedriger als bisher eingruppiert wird, kann leicht das Gefühl haben, dass er zuvor einen Teil des Verdienstes zu Unrecht bekam. Als "Missachtung der beruflichen Identität" wird verstanden, wenn etwa ausgebildete Ingenieure nach der Neubewertung ihrer Arbeit als Techniker eingestuft werden. 

Reinhard Bahnmüller, Werner Schmidt: Auf halbem Weg - Erste Befunde zur ERA-Umsetzung in Baden-Württemberg, in: WSI Mitteilungen, 7/2007

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