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HBS Böckler Impuls

Lehrstellen: Berufsausbildung: Generation in der Warteschleife

Ausgabe 09/2007

Die duale Berufsbildung steckt in der Krise, die Betriebe bieten immer weniger Lehrstellen an. Vier von zehn Ausbildungswilligen müssen in Übergangsprogramme ausweichen - vorerst ohne Aussicht auf einen Berufsabschluss.

Praxiserfahrungen im Betrieb, dazu Unterricht in der Berufsschule - die duale Berufsausbildung galt lange als Erfolgsmodell. Doch das System steckt in der Krise: Während die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen im vergangenen Jahrzehnt um etwa 180.000 Kandidaten je Jahr zugenommen hat, ist das Angebot an betrieblichen Lehrstellen zurückgegangen. Im dualen System kamen bis 1995 mehr als die Hälfte der Ausbildungswilligen unter, aber 2004 war nur noch für 43 Prozent von ihnen Platz. Stark gewachsen sind dagegen Programme von beruflichen Schulen und der Bundesagentur für Arbeit, in denen sich Jugendliche weiterbilden können, aber keinen Berufsabschluss erwerben. In diesem Übergangssystem landen gut 40 Prozent der Berufsbildungs-Interessenten.

Diese Akzentverschiebung hat Folgen - sie bedeutet, "dass die strukturelle Unsicherheit für eine ganze Generation zugenommen hat", so Martin Baethge, Heike Solga und Markus Wieck vom Soziologischen Forschungsinstitut an der Uni Göttingen (SOFI). Die Forscher haben für die Friedrich-Ebert-Stiftung das deutsche Berufsbildungssystem untersucht. Im sich ausdehnenden Übergangswesen sehen sie ein ernstes Problem. Eine halbe Million Jugendlicher durchlaufe "Maßnahmen mit wenig beruflicher Perspektive und hoher Arbeitsmarktunsicherheit". Baethge, Solga und Wieck warnen vor langfristigen Konsequenzen: Es drohe verstärkt der gesellschaftliche Ausschluss von gering Qualifizierten. Zudem könne es sein, "dass hier ein Potenzial an Arbeitskräften brachgelegt wird, das angesichts der demographischen Entwicklung mittel- und langfristig fehlen könnte".

Fachkräftemangel, selbst verursacht: Die Wissenschaftler sehen einen Zusammenhang zwischen dem vor Jahren reduzierten Ausbildungsangebot und den gegenwärtig nicht zu besetzenden Facharbeiterstellen. "Die sich abzeichnende Lücke ist hausgemacht", schreiben sie. So gab es in den vergangenen beiden Jahren in den wichtigsten Metallberufen 80 Prozent mehr offene Stellen, in Elektrikberufen sogar ein Plus von 92 Prozent. Ein Zuwachs, den nicht allein der Aufschwung gebracht hat. Gerade in diesen Berufsgruppen hat sich die Zahl der neuen Ausbildungsverträge seit Mitte der 80er-Jahre mehr als halbiert. Wenn die Betriebe die Zahl der Ausbildungsplätze nicht wieder ausbauen sollten, sei künftig mit einem ernsthaften Fachkräftemangel zu rechnen.

Deutschlandweit verbreiterte sich zwischen 2000 und 2004 die Ausbildungslücke. Überall in der Republik ist das Risiko hoch, ohne Ausbildungsplatz dazustehen. Bayern verfügt zwar über das robusteste Angebot an betrieblichen Lehrstellen - 56 Prozent der Jugendlichen im Berufsbildungswesen bekommen eine. Doch selbst hier findet sich jeder vierte Ausbildungswillige in Übergangsprogrammen wieder. Eine so hohe Marke erfolgloser Bewerber entkräftet auch das Argument, mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger sei das Problem, stellen die Wissenschaftler fest. Der Rückgang der dualen Ausbildung hat andere Ursachen.

Der Wandel der Wirtschaftsstruktur und die starke Rolle  des Controllings sind die beiden Hauptgründe, warum heute deutlich weniger Betriebe ausbilden als in den 80er-Jahren.

Der Strukturwandel führt dazu, dass Arbeitgeber andere Ausbildungsprofile bevorzugen. Der Ausbildungsbedarf in Handwerk und Industrie schwindet. Die Anforderungen in der Produktion ändern sich: Erfahrungswissen genügt an immer mehr Arbeitsplätzen nicht mehr, verstärkt verlangt werden umfassendere Kenntnisse, so genanntes systemisches Wissen. Deshalb rekrutieren selbst Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes zunehmend Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten. 1991 gab es in Deutschland im verarbeitenden Gewerbe noch etwa 2,5 Millionen Facharbeiter, am Ende der Dekade nur noch 1,7 Millionen. Die Hälfte der Lehrstellen in traditionellen Fertigungsberufen ist seit 1977 weggefallen. Und Dienstleistungsunternehmen füllen die Lücken nicht - sie bilden seltener dual aus.

Die Unternehmenssteuerung per Controlling hat sektorübergreifend den betrieblichen Beitrag zur Ausbildung gekappt. Aufwendungen für Aus- und Weiterbildung galten in den 80er-Jahren noch als Gemeinkosten, heute werden sie in der Regel den einzelnen Fachbereichen zugeordnet. Eine Folge dieser Umstellung: In den Unternehmen wird Ausbildung nun eher als Kostenfaktor denn als langfristige Zukunftsinvestition gesehen. "Im Prinzip der Kostensteuerung der Ausbildung ist kaum Raum für soziales Commitment oder langfristige Personalstrategien", beobachten die Experten.

Hauptschüler im Nachteil: Die einstige Stärke der dualen Ausbildung, durch die Verbindung von praktischen und theoretischen Elementen auch bildungsschwächere Jugendliche zu integrieren, greift immer weniger. Das Durchschnittsniveau in der Berufsbildung ist mittlerweile der Realschulabschluss. Wer darunter liegt, hat es schwer, beobachten die Experten des SOFI: "Die Verschlechterung der Ausbildungschancen verteilt sich extrem ungleich nach schulischer Vorbildung." Nur zwei Fünftel der Hauptschüler schaffen es, eine Lehrstelle im dualen System zu bekommen, von den Abgängern ohne Abschluss sogar nur ein Fünftel.

Das Elend der jungen Männer: Besonders benachteiligt werden junge Männer mit niedrigen Schulabschlüssen, stellen die Wissenschaftler fest. Der anhaltende Rückgang der traditionellen Männerberufe trifft sie mit ganzer Wucht. Im Handwerk gab es massive Ausbildungsplatz-Verluste; besonders gravierend bei Reparaturjobs wie Kfz- und Fernsehtechniker. Solche Berufe haben in der Vergangenheit noch einen Großteil von männlichen Hauptschulabsolventen aufgenommen. "Hierfür ist kein Ersatz in Sicht", so die Forscher.

Der Strukturwandel hin zu mehr Dienstleistung kommt eher Frauen zu Gute. Ihr Anteil in der voll qualifizierenden Ausbildung kletterte bis 2004 auf knapp über die Hälfte. Männer landen dagegen mit einer Teilnehmerquote von 58 Prozent häufiger in Übergangsprogrammen, ihre Arbeitslosenquote bei den Unter-25-Jährigen liegt vier Prozentpunkte höher. Die gesellschaftspolitische Relevanz dieser Entwicklung sei sehr ernst zu nehmen, warnen die Soziologen. Denn es ist nicht auszuschließen, "dass sich die Frustration über die fehlenden Erwerbsperspektiven in sozialer Unruhe Gehör verschafft".

Im Übergangssystem versammeln sich etwa 80 Prozent der Schulabgänger ohne Abschluss, rund 60 Prozent der Hauptschüler, mehr als 25 Prozent der Realschüler. Die Programme innerhalb des Übergangssystems unterschieden sich je nach Bundesland. Allen gemeinsam ist, dass sie die Arbeitsmarktchancen verbessern sollen, aber nicht den Weg zu einem qualifizierten Abschluss bahnen. Dazu zählen Angebote wie

=> Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, die Defizite der Bewerber um eine Lehrstelle beheben sollen;

=> Berufsfachschulen, die keinen beruflichen Abschluss vermitteln;

=> Berufsvorbereitungs- (BVJ) oder Berufsgrundbildungsjahr (BGJ).

Trotz allen Aufwandes: Untersuchungen belegen meist nur einen geringen Ertrag. "Maßnahmen im Übergangssystem sind häufig der Beginn von Maßnahmekarrieren", resümieren die Forscher. Nur knapp 40 Prozent der Teilnehmer schaffen anschließend den Sprung zu einer regulären Berufsausbildung. Die Autoren der Studie kritisieren vor allem die Ausgliederung benachteiligter Jugendlicher in ein Parallelsystem. Landet ein Realschul-Absolvent hier, wird auch er wie ein Lernbeeinträchtigter behandelt. Im BVJ oder BGJ erwirbt ein Viertel einen Schulabschluss, in der Regel einen Hauptschulabschluss. Das heißt aber auch: Drei Viertel gehen ab, ohne etwas Zählbares mitzunehmen. Und kehren meist als Lehrstellensucher wieder.

Besser als ein Parallelsystem wäre es, die verschiedenen Segmente des Berufsbildungssystems zu verzahnen. Baethge, Solga und Wieck raten, die Mobilität zwischen Übergangs- und voll qualifizierendem System zu erhöhen. Etwa durch Modularisierung: Zunächst werden Grundberufe unterrichtet, auf die weitere Bausteine folgen können. "Erst in einer nach Modulen oder Bausteinen gegliederten Ausbildung lassen sich berufsvorbereitende Leistungen des Übergangssystems an das Berufsbildungssystem anschlussfähig und berechenbar machen." Außerdem empfehlen die Forscher, schon in der Schule bessere Bildungsangebote für benachteiligte Gruppen zu schaffen - für Jungen, Migranten und Bildungsferne. 

  • Das Handwerk bildet immer weniger aus. Zur Grafik
  • Immer mehr Jugendliche landen in einer Übergangsmaßnahme statt in einer regulären Lehrstelle. Zur Grafik
  • 2004 mussten fast 40 Prozent der Ausbildungswilligen mit einer Übergangsmaßnahme vorliebnehmen. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Zur Grafik

Martin Baethge, Heike Solga, Markus Wieck: Berufsbildung im Umbruch. Signale eines überfälligen Aufbruchs, Berlin, 2007. Studie zum Download (pdf)

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