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HBS Böckler Impuls

Niedriglöhne: Auffanglinie Tarifvertrag

Ausgabe 04/2005

Mit den Hartz-Gesetzen wächst in Deutschland ein riesiger Niedriglohnsektor heran. Wer Arbeitslosengeld II bekommt und arbeitsfähig ist, muss jeden legalen Job annehmen - auch wenn der Lohn deutlich unter dem ortsüblichen oder tariflichen Entgelt liegt. Die niedrigsten Tariflöhne liegen aber jetzt schon - ohne "Zumutbarkeitsabschlag" - weit unter fünf Euro brutto pro Stunde.

Arbeitslose, die in einem tarifgebundenen Betrieb eine neue Stelle finden und in einer Gewerkschaft sind, müssen auch nach den neuen Zumutbarkeitsregeln wenigstens den Tariflohn bekommen. So weit, so gut. Eine Garantie für ein auskömmliches Einkommen bei Vollzeitarbeit ist das aber nicht. Der Landwirtschaftsarbeiter in Thüringen hat in der Stunde tariflich gerade mal auf 4,44 Euro Anspruch, die ausgebildete Friseurin in Sachsen verdient nach Tarif brutto 615 Euro im Monat - nicht halb so viel, wie der Gesetzgeber als Pfändungsfreigrenze festgelegt hat, unter der ein Gerichtsvollzieher Milde walten lässt (Tabelle).

Ist der Arbeitgeber nicht tarifgebunden, kein Branchentarifvertrag vorhanden oder der Bewerber nicht in der Gewerkschaft, wird die Entscheidung, ob zumutbar oder nicht zumutbar kompliziert. Da es in Deutschland keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, müssen Langzeitarbeitslose im Prinzip für jeden Lohn arbeiten. Grenzen setzt das Bürgerliche Gesetzbuch mit dem Verbot "sittenwidriger" Löhne - doch ab wann ein Lohn zum Hungerlohn wird, liegt im Ermessen der Gerichte und dort bisher im Dunkeln.

Die häufig genannte "Lohnabstandsgrenze" von 30 Prozent ist eher eine griffige Zahl der Medien als ein rechtsverbindlicher Wert. Im Falle des Landarbeiters hieße das 3,11 Euro brutto die Stunde. Selbst ein Lohn unterhalb des Sozialhilfeniveaus macht den Arbeitslohn nicht automatisch sittenwidrig, urteilte das Bundesarbeitsgericht 2004. Unter den 2,6 Millionen betroffenen Beziehern von Arbeitslosengeld II dürfte sich sicher bald ein Kläger finden, der die Gerichte über die Zumutbarkeit entscheiden lässt. Thomas Dieterich, ehemaliger Präsident des Bundesarbeitsgerichts, meint dazu: "Es gibt ganz sicher eine untere Lohnschwelle, die die Menschenwürde tangiert. Und damit ist die Verfassungsfrage gestellt."

Tarifpolitischer Jahresbericht des WSI 2004
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