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Alle Beschäftigten profitieren Böckler Impuls

Mindestlohn: Alle Beschäftigten profitieren

Ausgabe 12/2023

Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro hat dazu beigetragen, dass auch die Tariflöhne in einigen klassischen Niedriglohnbranchen deutlich angehoben wurden. Hiervon profitierten nicht nur die untersten Lohngruppen, sondern alle Beschäftigten.

Hat sich der Abschluss von Tarifverträgen in Branchen mit niedrigen Löhnen nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und seiner mehrfachen Erhöhung erledigt? Das haben Forschende des WSI und des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer umfangreichen Studie für die Mindestlohnkommission untersucht. Ihr Ergebnis: keineswegs. Die Bereitschaft der Sozialpartner, Tarifverträge abzuschließen, hat sich in den allermeisten untersuchten Branchen nicht verändert. In der Regel hatten sowohl Gewerkschaften als auch Unternehmen ein Interesse daran, durch neue Abschlüsse zu verhindern, dass der gesetzliche Mindestlohn die Tariflöhne „überholt“. 

Die Forschenden haben Tarifverträge aus elf Niedriglohnbranchen ausgewertet sowie Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände geführt. Dabei haben sie sich auf den Zeitraum von 2020 bis 2022 konzentriert – eine Phase, in der der Mindestlohn sechsmal erhöht wurde und mit der Anhebung auf 12 Euro im Oktober 2022 einen deutlichen Sprung vollzog.. Ost- und Westdeutschland sind gleichermaßen repräsentiert. 

Auch auf die Mitgliederzahlen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden hat der Mindestlohn der Studie zufolge keinen nennenswerten Einfluss. Zwar sind diese Zahlen auf beiden Seiten in bestimmten Bereichen leicht rückläufig. Die Befragten ziehen jedoch meist keine Verbindung zum Mindestlohn. So machen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter eher die schwierigen Bedingungen während der Corona-Pandemie verantwortlich, Arbeitgeberverbände verweisen auf Übernahmen kleinerer Betriebe durch größere, was die Zahl der Arbeitgeber naturgemäß senkt. Lediglich in Einzelfällen wurde ein Zusammenhang zum Mindestlohn hergestellt. 

Höhere Tariflöhne

Abgesehen vom Einzelhandel, der in der Regel etwas besser bezahlt als andere untersuchte Branchen, hatten die Mindestlohnanpassungen seit 2020 überall „einen deutlichen Einfluss auf die Tariflohndynamik“. Die Löhne stiegen „erheblich schneller, als sie ohne Mindestlohnanpassung gestiegen wären“, vor allem durch den letzten Schritt auf 12 Euro pro Stunde. Die Erhöhungen waren zum Teil erheblich. Im Friseurhandwerk, wo in der Coronazeit kein neuer Abschluss zustande gekommen war, stieg das Entgelt in den beiden – stark besetzten – unteren Tarifgruppen für Beschäftigte mit Abschluss um 25 Prozent. Im Gastgewerbe wurden die unteren Stufen, meist in mehreren Schritten, um 20 bis 30 Prozent angehoben. Wach- und Sicherheitsleute in den untersten Gruppen bekommen in Berlin-Brandenburg 14,5 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 12,3 Prozent mehr. 

In der Systemgastronomie und im Gastgewerbe gibt es tarifvertragliche Abstandsklauseln. Das heißt: Wenn der Mindestlohn die unteren Lohngruppen überholt, werden diese automatisch auf ein bestimmtes Niveau oberhalb des neuen Mindestlohns angehoben. In anderen Branchen sollen überholte Entgeltgruppen in der nächsten Tarifrunde angepasst werden. Ein Sonderfall ist die Floristik in Ostdeutschland. Hier wurde die komplette Tarifstruktur durch den höheren Mindestlohn unwirksam und kein neuer Abschluss erzielt. 

Auswirkungen auf höhere Lohngruppen 

Während in den jüngsten Tarifverhandlungen allen Beteiligten klar war, dass die untersten Gruppen wenigstens auf Mindestlohnniveau angehoben werden mussten, drehten sich die Tarifverhandlungen vor allem um die Frage, wie stark die Löhne oberhalb des Mindestlohns steigen sollten. Gewerkschaften wie Arbeitgeber hielten es für notwendig, gewisse Lohnabstände, etwa zwischen Angelernten und Fachkräften, aufrechtzuerhalten, um die Qualifikationen der Ausgebildeten nicht zu entwerten. Dem stand allerdings das Interesse der Arbeitgeber entgegen, den Anstieg der Personalkosten zu begrenzen. 

Im Ergebnis führten die mindestlohnbedingten Anpassungen „in der Regel sowohl zu einer Stauchung als auch zu einer deutlichen Anhebung der gesamten Lohnstruktur“. Wobei die Stauchung meist am unteren Ende der Lohnstruktur entstand. Gelegentlich verringerten sich aber auch die oberen Lohnabstände, wenn die mittleren Gruppen ebenfalls deutlich angehoben wurden. Das war beispielsweise in der Gebäudereinigung, der westdeutschen Floristik sowie dem Gastgewerbe und Friseurhandwerk in NRW der Fall. In einigen Bereichen bewegte sich auch das gesamte Entgeltgefüge. In der ostdeutschen Landwirtschaft etwa verschob sich das Lohngitter um etwa 20 Prozent nach oben, in der Systemgastronomie sogar fast um 30 Prozent. Ähnliches gilt für Teile des Gastgewerbes.

Andere Tarifinhalte wie beispielsweise Arbeitszeiten blieben laut der Untersuchung von den Mindestlohnerhöhungen unberührt. Die Arbeitgeber haben höhere Lohnkosten also nicht durch Abstriche an anderer Stelle kompensiert. Auch zwischen Mindestlohn und Allgemeinverbindlicherklärungen konnten die Forschenden „keine direkte Wechselwirkung“ ausmachen. Allgemeinverbindlicherklärungen spielten nur insofern eine Rolle, als sie es Arbeitgebern erleichterten, Tariflöhnen oberhalb des Mindestlohns zuzustimmen, ohne einen Unterbietungswettbewerb durch tariflose Konkurrenten fürchten zu müssen. So war es etwa bei Wach- und Sicherheitsdiensten sowie im Friseurhandwerk in NRW. In der Fleischwirtschaft wurde festgelegt, dass der jüngste Tarifabschluss nur wirksam wird, wenn er allgemeinverbindlich erklärt wird.

Unter dem Strich, halten die Forschenden fest, hätten nicht nur in die unteren Tarifgruppen, „sondern alle Beschäftigten von der mindestlohninduzierten Anpassung der Tarifverträge profitiert“. Entgegen mancher Befürchtungen habe sich der Mindestlohn insgesamt positiv auf die Tarifvertragsbeziehungen ausgewirkt und zu einer deutlichen Aufwertung der genannten Tarifbranchen beigetragen.

Reinhard Bispinck u.a.: Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf das Tarifgeschehen, Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission, Juni 2023

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