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WSI-Arbeitskampfbilanz 2017: Von 462.000 auf 238.000 – Halbierung der Ausfalltage trotz anhaltend vieler Arbeitskämpfe

22.03.2018

2017 sind in Deutschland auf Grund von Arbeitskämpfen rund 238.000 Arbeitstage ausgefallen. Damit hat sich das Arbeitskampfvolumen gegenüber dem Jahr 2016, als das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung rund 462.000 Ausfalltage verzeichnete, beinahe halbiert. Sehr viel niedriger war auch die Zahl der Streikenden. Von rund einer Million Streikteilnehmerinnen und -teilnehmern 2016 ging ihre Zahl im letzten Jahr auf 131.000 zurück. Dies zeigt die neue Jahresbilanz zur Arbeitskampfentwicklung, die das WSI heute vorlegt. Schon jetzt steht allerdings fest, dass die Bilanz für 2018 wieder erheblich höher ausfallen wird.

„Entscheidend war 2017, dass es weder im öffentlichen Dienst der Kommunen noch in der Metallindustrie große Tarifrunden gab. Breit angelegte Warnstreikwellen waren nicht zu verzeichnen. Ebenso fehlten 2017 wochenlange Streikaktionen in einem größeren Maßstab“, sagt WSI-Arbeitskampfexperte Dr. Heiner Dribbusch. „Deshalb ging das Arbeitskampfvolumen auf den niedrigsten Stand seit 2010 zurück, als lediglich 173.000 Arbeitstage ausfielen.“ Von Arbeitsniederlegungen begleitete Tarifrunden gab es im vergangenen Jahr unter anderem im öffentlichen Dienst der Länder, im Einzelhandel, bei Versicherungen und beim Flughafen-Bodenpersonal sowie vor allem auch im Zusammenhang mit Haus- und Firmentarifverträgen.

International: Deutschland im unteren Mittelfeld
In der internationalen Streikstatistik, bei der die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte betrachtet werden liegt Deutschland weiterhin im unteren Mittelfeld (siehe Grafik 2). Nach Schätzung des WSI fielen hierzulande zwischen 2007 und 2016, das jüngste Jahr, für das internationale Vergleichsdaten vorliegen, im Jahresdurchschnitt pro 1.000 Beschäftigte rechnerisch 16 Arbeitstage aus. In Dänemark waren es im gleichen Zeitraum 119 und in Frankreichs Privatwirtschaft 117 Ausfalltage. Auch in Belgien, Kanada, Norwegen oder Irland fallen, zum Teil deutlich, mehr Arbeitstage durch Arbeitskämpfe aus. Ein merklich niedrigeres Streikvolumen findet sich Polen, Schweden, Österreich und der Schweiz. In Italien und Griechenland wird seit vielen Jahren keine Streikstatistik mehr geführt.

Beim internationalen Vergleich ist laut Dribbusch jedoch zu beachten, dass die Arbeitskampfstatistiken auf teilweise sehr unterschiedlichen Erfassungsmethoden basieren. Die Zahlen für Frankreich beziehen sich allein auf die Privatwirtschaft (einschließlich der Staatsunternehmen), in Spanien sind die großen Generalstreiks der vergangenen Jahre nicht enthalten. In den USA werden Streiks erst ab 1.000 Beteiligten pro Tag einbezogen, während in Dänemark auch die kleinste Arbeitsniederlegung gezählt wird. In Dänemark und Kanada ist das Arbeitskampfvolumen zudem stark durch Aussperrungen beeinflusst. Erhebliche Lücken hat auch die amtliche Statistik in Deutschland, die von der Bundesagentur für Arbeit erstellt wird. Auf Grund von Defiziten in der Erhebung weist sie von 2007-2016 mit durchschnittlich 6 Ausfalltagen lediglich ein Drittel des vom WSI ermittelten Streikvolumens aus. Die Bundesagentur ist sich dabei der Defizite ihrer Statistik bewusst, die im Wesentlichen auf lückenhaften Meldungen der Arbeitgeber basieren.

Ausblick 2018
Das Tarifjahr 2018 hat mit außergewöhnlich umfangreichen Streiks in der Metallindustrie begonnen. Die IG Metall meldete rund 1,5 Millionen Streikende. Mehrere hunderttausend Beschäftigte legten dabei für einen ganzen Tag die Arbeit nieder. Daneben gab es bereits Streiks bei Deutscher Post DHL, und in der Tarifrunde im öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden haben umfangreiche Warnstreiks begonnen. Damit ist das relativ niedrige Arbeitskampfvolumen des Jahres 2017 bereits jetzt erheblich überschritten. Zudem sei auch nicht damit zu rechnen, dass die Zahl der Haustarifauseinandersetzungen signifikant in diesem Jahr abnimmt, erklärt Dribbusch.

Das Arbeitskampfjahr 2017 im Überblick
Auch wenn die Zahl ausgefallenen Arbeitstage und der Streikenden weitaus niedriger war als 2016: Die Zahl der Arbeitskämpfe selbst blieb 2017 nahezu unverändert. Im Verlauf des Jahres registrierte das WSI 194 Tarifauseinandersetzungen mit jeweils zumindest einer Arbeitsniederlegung – fünf weniger als im Jahr davor. Wie 2016 fand etwas mehr als die Hälfte davon im Dienstleistungssektor statt, fast alle im Organisationsbereich der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Schwerpunkt war wie in den Vorjahren der Gesundheitsbereich, gefolgt vom Verkehrsbereich (inkl. Luftfahrt). Außerhalb des Dienstleistungsbereiches sind die Organisationsbereiche von IG Metall und NGG diejenigen, in denen es relativ häufig zu, wenn auch meist kurzen, Arbeitsniederlegungen kommt.

Die ersten Warnstreiks um einen Flächentarifvertrag fanden Anfang 2017 im öffentlichen Dienst der Länder statt. Vorher hatten in verschiedenen Bundesländern mehrere tausend Beschäftigte für Warnstreiks die Arbeit niedergelegt. Die größte Gruppe unter den Streikenden waren wie schon in den Vorjahren die in der GEW organisierten angestellten Lehrerinnen und Lehrer.

In der traditionell nicht für umfangreiche Arbeitsniederlegungen bekannten Versicherungsbranche gab es 2017 größere Warnstreiks zur Unterstützung von ver.di bei den Tarifverhandlungen. Neben einer Tariferhöhung ging es vor allem auch um die tarifvertragliche Gestaltung der Digitalisierung. Erste Einstiege gelangen unter anderem mit einem Qualifizierungstarifvertrag. Mehrere Arbeitsniederlegungen begleiteten im Finanzsektor auch die Tarifrunde für die Beschäftigten der Postbank. Hier ging es neben einer Entgeltforderung vor allem um den Kündigungsschutz im Zusammenhang der Integration des Unternehmens in die Deutsche Bank. Die im Oktober 2017 erfolgte Einigung sieht nun den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen für die Beschäftigten der Postbank und der Deutschen Bank (Privat- und Firmenkundengeschäft) bis Ende Juni 2021 vor.

Während in der Versicherungsbranche (inkl. der Pensionskassen) noch mehr als drei Viertel der Beschäftigten tarifgebunden sind, ist es im Einzelhandel ungefähr noch ein Drittel. Seit Jahren bröckelt die Tarifbindung, wichtige Unternehmen, darunter auch gewerkschaftlich gut organisierte wie das SB-Warenhaus real, haben inzwischen den Flächentarifvertrag verlassen. In der Tarifrunde 2017 rückte die Gewerkschaft deshalb neben dem Entgelt das Thema Allgemeinverbindlichkeit des Einzelhandelstarifvertrages in den Vordergrund, doch stieß ver.di hier wie in den vergangenen Jahren auf Arbeitgeberseite auf schweren Widerstand. „Selbst einfache Entgeltabschlüsse lassen sich in dieser Branche seit Jahren nicht mehr am Verhandlungstisch erzielen, auch weil die zunehmende Zersplitterung die gewerkschaftliche Organisierung extrem erschwert“, sagt Arbeitskampfforscher Dribbusch. Wieder bedurfte es zahlreicher kleinerer und größerer Streikaktionen bis Ende Juni 2017 ein erster Pilotabschluss in Baden-Württemberg gelang.

Die Entwicklung hin zum online-Handel sei für Beschäftigte der Branche bislang besonders problematisch, konstatiert der Experte. Die Brancheriesen Amazon und Zalando lehnen beide eine tarifliche Zuordnung zum Einzel- und Versandhandel strikt ab. Amazon verweigere darüber hinaus kategorisch überhaupt jedwede Tarifverhandlung. In diesem nunmehr seit 2013 laufenden Arbeitskampf ist nach wie vor keine Einigung in Sicht. Auch die Modekette Adler weigerte sich, den Einzelhandelstarifvertrag anzuerkennen, was im Dezember in mehreren Städten zu ganztägigen Streiks führte.

Erheblichen Druck können nach Dribbuschs Analyse die Beschäftigten an Flughäfen entfalten. Die größte öffentliche Aufmerksamkeit fanden deshalb im März 2017 die Streiks an den Berliner Flughäfen Schönefeld und Tegel. Dabei ging es um bessere Bezahlung für die Beschäftigten des Bodenpersonals, die häufig niedrig bezahlte Tätigkeiten wie Ladearbeiten, Check-in oder Fahren von Abfertigungsfahrzeugen ausüben. Arbeitsniederlegungen an weiteren Flughäfen folgten. Im April gelang dann der Durchbruch bei den Verhandlungen.

Außergewöhnlich, obwohl von seiner Dimension her begrenzt, war im Dezember 2017 der erste Warnstreik von Pilotinnen und Piloten bei Ryanair, zu dem die Vereinigung Cockpit aufgerufen hatte. Ryanair hatte zuvor nach erheblichem internationalen Druck und zunehmenden Schwierigkeiten, Personal für die Kanzel zu finden, erstmals überhaupt seine Bereitschaft zu Tarifverhandlungen erklärt. Eine Einigung gestaltet sich jedoch offenbar schwierig.

Gewerkschaftsübergreifend organisierte Arbeitsniederlegungen gab es neben dem öffentlichen Dienst im Jahr 2017 auch bei verschiedenen Rundfunkanstalten. Im Oktober 2017 riefen dabei beim Saarländischen Rundfunk sowohl ver.di und der Deutschen Journalistenverband als auch die zum Beamtenbund gehörende Vereinigung der Rundfunk-, Film- und Fernsehschaffenden (VRFF) zur Beteiligung am Warnstreik auf.

Zu einem drastischen Mittel griffen im Dezember 2017 drei rumänische Bauarbeiter, die auf einer Großbaustelle der Firma Strabag in Düsseldorf für sechs Stunden einen Baukran besetzten und drohten, sich in die Tiefe zu stürzen. Das Subunternehmen Aquis, bei dem sie angestellt waren, hatte ihnen mehrere tausend Euro an Lohn nicht ausgezahlt. Mit Hilfe der Gewerkschaft IG BAU konnte schließlich eine für von den Bauarbeitern akzeptierte Einigung erzielt werden.

Konfliktfeld Haustarifvertrag
Wie in den Vorjahren betraf auch 2017 die übergroße Mehrheit aller Arbeitskämpfe Auseinandersetzungen um Haus- und Firmentarifverträge. „Diese Auseinandersetzungen machen immer wieder deutlich, dass der Abschluss eines Tarifvertrages in vielen Branchen keineswegs mehr für alle Unternehmen selbstverständlich ist“, sagt Dribbusch. „Zäh und langwierig wird es häufig dann, wenn es darum geht, überhaupt erst einmal einen Tarifvertrag zu erstreiten oder wenn Unternehmen aus dem Tarifvertrag aussteigen wollen.“

Die seit längerem große Zahl der Auseinandersetzungen um Haustarife im Dienstleistungssektor ist laut Dribbusch Ergebnis der Zersplitterung der Tariflandschaft in Folge der Privatisierung weiter Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie dem öffentlichen Personentransport, den Post- und Telekommunikationsdiensten sowie dem Gesundheitswesen.

Doch beschränken sich Firmen- und Haustarifverhandlungen keineswegs nur auf den Dienstleistungsbereich, so der Experte. Auch im Organisationsbereich der IG Metall, sowie in den kleinteiligen Branchen der Lebensmittelindustrie gebe es Jahr für Jahr Warnstreiks bei nicht verbandsgebundenen Unternehmen, um Anschluss an die Flächentarifverträge zu halten, oder überhaupt einen Abschluss zu erhalten. Als Beispiel dafür, mit welchen Verhältnissen Beschäftigte heute teilweise konfrontiert sind, nennt Dribbusch den im Frühherbst 2017 begonnenen Arbeitskampf bei der lediglich 22 Beschäftigte zählenden Paderborner Firma Faethe-Labor, die Analysen für Nahrungsmittelhersteller durchführt. Die in der NGG organisierte Hälfte der Belegschaft griff hier zum Mittel des Streiks, aber auch zu anderen öffentlichkeitswirksamen Aktionen, wie einem begrenzten Hungerstreik, um nach 15 Jahren überhaupt wieder einmal eine Lohnerhöhung zu erhalten. Die Firma weigert sich bisher, darüber auch nur zu verhandeln. All dies führte in der Region zu einer breiten öffentlichen Solidarisierung mit den Streikenden, so der Arbeitskampfforscher.

Anmerkung zur Methode
Die Arbeitskampfbilanz des WSI ist eine Schätzung auf Basis von Gewerkschaftsangaben, Pressemeldungen und eigenen Recherchen. Warnstreiks, insbesondere wenn sie lokal begrenzt sind, werden nicht von allen Gewerkschaften erfasst. Auch Streiks außerhalb des Tarifgeschehens, wie z. B. betriebliche Proteststreiks, werden nur in Ausnahmefällen bekannt. Die Zahl der arbeitskampfbedingten Ausfalltage (bzw. Streiktage) ist ein rechnerischer Wert, in den neben den von Gewerkschaften gemeldeten Personen-Streiktagen (d. h. der Summe der Kalendertage, an denen individuelle Mitglieder Streikgeld empfingen) auch der vom WSI geschätzte Arbeitsausfall bei Warnstreiks ohne Streikgeldzahlung einbezogen wird. Analog zur amtlichen Statistik werden bei der Streikbeteiligung Beschäftigte, die an zeitlich getrennten Streiks oder Warnstreiks teilnehmen, gegebenenfalls mehrfach gezählt. Die erfasste Streikbeteiligung ist daher teilweise erheblich höher als die Anzahl der individuellen Arbeitnehmer, die ein- oder mehrmals gestreikt haben.

Weitere Informationen:

Von den Arbeitgeberverbänden veröffentlicht, soweit bekannt, lediglich Gesamtmetall Angaben zur Teilnahme an Warnstreiks.

Heiner Dribbusch: WSI-Arbeitskampfbilanz 2017 (pdf). WSI-Policy Brief Nr. 22, März 2018.

Kontakt:

Dr. Heiner Dribbusch
WSI, Referatsleiter Tarif- u. Gewerkschaftspolitik

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

Die Pressemitteilung mit Grafiken (pdf)

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