zurück
Jahresbericht Tarifarchiv Pressemitteilungen

Jahresbilanz des WSI-Tarifarchivs: Reale Tariflöhne aktuell nur noch auf dem Niveau von 2016, trotz Kaufkraftsicherung 2023 – Experte erwartet „offensive Tarifrunde“

13.02.2024

Durch die starke Inflation in den vergangenen Jahren sind die realen Tariflöhne in Deutschland im Durchschnitt auf das Niveau von 2016 zurückgefallen. Die Kaufkraft der Tarifbeschäftigten lag Ende 2023 im Mittel sechs Prozentpunkte niedriger als 2020, was eine Folge der drastischen Reallohnverluste 2021 und insbesondere 2022 ist. Im vergangenen Jahr konnte die weiterhin hohe Inflation immerhin weitgehend ausgeglichen werden: Die Tariflöhne in Deutschland stiegen nominal gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 5,5 Prozent. Die Zuwachsrate ist damit mehr als doppelt so hoch wie 2022, als die Tariflöhne lediglich um 2,7 Prozent wuchsen. Bereinigt um die Inflation von 5,9 Prozent ergibt sich hieraus ein durchschnittlicher Rückgang der tarifvertraglich vereinbarten Reallöhne von 0,4 Prozent im Jahr 2023 (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). In dieser Berechnung kann die Wirkung der in vielen Branchen vereinbarten steuer- und abgabenfreien Inflationsausgleichsprämien allerdings nicht in vollem Umfang berücksichtigt werden. Bei einem Teil der Beschäftigten dürfte die finanzielle Bilanz daher positiver ausfallen (mehr unten). Das ergibt der neue Tarifpolitische Jahresbericht, in dem das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung das Tarifjahr 2023 analysiert und einen Ausblick auf 2024 gibt.*

„Es ist ein wichtiger Schritt, dass die Kaufkraft der Tarifbeschäftigten 2023 im Mittel weitgehend gesichert werden konnte,“ sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Prof. Dr. Thorsten Schulten. „Um jedoch auch die massiven Reallohnverluste der beiden Vorjahre ausgleichen zu können, sind in den kommenden Tarifrunden kräftige Reallohnsteigerungen notwendig. Das ist auch wichtig, um die schwache Konjunkturentwicklung in Deutschland zu stabilisieren.“ Dass die Inflationsrate nach Einschätzung der meisten Fachleute in diesem Jahr auf zwei bis drei Prozent sinken wird, erleichtere zwar die Durchsetzung von realen Lohnzuwächsen. Trotzdem erwartet Schulten 2024 eine „offensive Tarifrunde“, die auch von Arbeitskämpfen geprägt sein dürfte. „Der Druck ist groß, nachdem für viele Beschäftigte preisbereinigt die Einkommens-Verbesserungen eines halben Jahrzehnts verloren gegangen sind“, sagt der Forscher. „Die Härte der Verhandlungen wird vor allem davon abhängen, inwieweit die Arbeitgeber bereit sind, das Interesse ihrer Beschäftigten an Reallohnzuwächsen anzuerkennen.“

Insgesamt haben die DGB-Gewerkschaften in der Tarifrunde 2023 für rund 6,3 Millionen Beschäftigte neue Tarifverträge abgeschlossen. Verhandelt wurde unter anderem im öffentlichen Dienst, bei der Deutschen Bahn, der Deutschen Post sowie in unzähligen kleineren Tarifbereichen. Für weitere 9,2 Millionen Beschäftigte traten 2023 Lohnerhöhungen aus Tarifabschlüssen in Kraft, die bereits 2022 oder früher vereinbart worden waren. Darunter waren auch große Branchen wie die chemische Industrie oder die Metall- und Elektroindustrie. Die Laufzeiten der im Jahr 2023 neu abgeschlossenen Tarifverträge betrugen im Durchschnitt 23,3 Monate.

Zahlreiche Streiks mit hoher Beteiligung

Vor dem Hintergrund anhaltend hoher Inflationsraten lagen die Forderungen der Gewerkschaften 2023 deutlich über denen des Vorjahres. Sie reichten von 8 Prozent in der westdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie bis zu 15 Prozent bei der Deutschen Post. In vielen Branchen wurde zudem eine soziale Komponente gefordert, meist in Form eines zusätzlichen festen Betrags. Eine Einigung konnte teilweise erst nach umfangreichen Warnstreiks erzielt werden. Bei der Deutschen Post wurde sogar eine Urabstimmung für einen unbefristeten Erzwingungsstreik durchgeführt, bevor kurz vor Streikbeginn doch noch ein Abschluss erzielt werden konnte. Im öffentlichen Dienst (Bund und Gemeinden) sowie in der Tarifrunde der EVG bei der Deutschen Bahn konnte hingegen erst im Rahmen von Schlichtungsverfahren ein Kompromiss gefunden werden. Die Gewerkschaft Verdi berichtete für ihren Bereich von insgesamt 140 Streiks, an denen sich über 300.000 Mitglieder beteiligt haben. Die Gewerkschaft NGG meldete sogar einen neuen Rekord von mehr als 400 Streiks.

Beschäftigte mit geringem Einkommen profitieren

Die Tarifabschlüsse des Jahres 2023 zeichnen sich nach Schultens Analyse durch drei Merkmale aus: Erstens erhielten die Beschäftigten in fast allen großen Branchen sogenannte Inflationsausgleichsprämien. Dabei handelt es sich um steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, die den Beschäftigten im Vergleich zu einer regulären Tariferhöhung einen höheren Nettolohn und den Arbeitgebern niedrigere Arbeitskosten bescheren. Zweitens traten die tabellenwirksamen Lohnerhöhungen in Kombination mit den Inflationsausgleichsprämien häufig relativ spät in Kraft. Bei der Deutschen Post und im öffentlichen Dienst werden sie beispielsweise erst im Laufe des Jahres 2024 wirksam. Drittens verzeichneten die unteren Lohngruppen in den meisten Branchen überproportionale Lohnzuwächse. Dies liegt zum einen an den Inflationsausgleichsprämien, die einen Pauschalbetrag enthalten, der die unteren Lohngruppen besonders begünstigt. Zum anderen wurden in vielen Tarifabschlüssen prozentuale Lohnerhöhungen mit festen Mindestbeträgen kombiniert, von denen Beschäftigte mit geringem Einkommen ebenfalls besonders profitieren.

Inflationsausgleichsprämien: Kurzfristig erhebliche Entlastung, aber nicht von Dauer

Unter Berücksichtigung der neu abgeschlossenen Tarifverträge und der bereits in den Vorjahren vereinbarten Tariferhöhungen sind die nominalen Tariflöhne im Jahr 2023 um durchschnittlich 5,5 Prozent gestiegen. Dabei schlugen die Neuabschlüsse mit durchschnittlich 6,2 Prozent zu Buche, während es bei den älteren 5,1 Prozent waren (Abbildung 2 in der pdf-Version). Da die Steuer- und Abgabenersparnisse bei den Inflationsausgleichsprämien, je nach Steuerklasse und Haushaltskontext, sehr unterschiedlich ausfallen, sind sie in diesen Berechnungen zur durchschnittlichen Tariflohnentwicklung lediglich als Bruttoeinmalzahlungen berücksichtigt. Wenn man, als zusätzliche Annäherung an ihre Wirkung, eine durchschnittliche Steuer- und Abgabenersparnis für die Inflationsprämie in einigen großen Tarifbranchen ansetzt, ergäbe sich für 2023 eine durchschnittliche nominale Tariferhöhung, die mit 6,2 Prozent geringfügig über der Inflation von 5,9 Prozent liegt (Abbildung 3).

„Die steuer- und abgabenfreien Inflationsausgleichsprämien haben dazu beigetragen, dass Reallöhne für einen Teil der Beschäftigten nicht nur gesichert, sondern auch angehoben werden konnten. Eine wichtige kurzfristige Entlastung angesichts der Preisschocks, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine verursacht wurden“, sagt Schulten. Allerdings habe das Instrument auch eine Kehrseite: „Da es sich hierbei um Einmalzahlungen handelt, wirken sie sich mit ihrem Auslaufen in den Folgejahren stark dämpfend auf die Lohnentwicklung aus.“

In den meisten Branchen sind die Tariflöhne im Jahr 2023 zwischen 4,4 Prozent und 7,4 Prozent gestiegen. Deutlich höhere Zuwächse gab es in einigen klassischen Niedriglohnbranchen. Sie profitierten von der kräftigen Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro, in deren Folge auch die Tariflöhne in einigen Branchen nach oben angepasst wurden. So verzeichnete die Landwirtschaft mit einem nominalen Plus von 10,0 Prozent die höchsten Zuwächse. Auch im Gastgewerbe, in dem sich die Arbeitgeber während der Corona-Pandemie rund eineinhalb Jahre fast vollständig den Tarifverhandlungen verweigert hatten, gab es überdurchschnittliche Verbesserungen: Nach starken Steigerungen im Vorjahr 2023 erneut ein Plus von 9,5 Prozent.

Auf den ersten Blick erscheint der Anstieg der Tariflöhne 2023 außergewöhnlich hoch. Seit Anfang der 2000er-Jahre schwankten die nominalen Zuwächse nur zwischen 1,5 Prozent und 3,1 Prozent. Allerdings war die Inflationsrate in diesem Zeitraum nie so hoch wie in den letzten beiden Jahren. Trotz der hohen Tarifabschlüsse im Jahr 2023 liegt die Kaufkraft der Beschäftigten immer noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau, wie ein längerfristiger Vergleich zeigt: Während die Tariflöhne in den 2000er Jahren real stagnierten, erlebten sie in den 2010er Jahren einen kontinuierlichen Anstieg. Preisbereinigt lagen die durchschnittlichen Löhne der Tarifbeschäftigten dadurch im Jahr 2020 um 21 Prozent höher als 2000. 2021 und 2022 sind die realen Tariflöhne durch die Preisschocks gegenüber diesem Höchststand dann aber wieder um sechs Prozentpunkte gesunken, so dass sie heute nur noch auf dem Niveau des Jahres 2016 liegen (Abbildung 1).

Arbeitszeitverkürzung bleibt Thema

Angesichts der starken Kaufkraftverluste ging es 2023 nach der WSI-Analyse in den meisten Verhandlungen in erster Linie um höhere Löhne, was aber nicht heißt, dass andere Fragen keine Rolle spielten. In der Eisen- und Stahlindustrie war die Arbeitszeit ein wichtiges Thema. Die IG Metall forderte eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich, möglichst verteilt auf vier Arbeitstage. Im Ergebnis wurde ein neuer Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung vereinbart, der sowohl Möglichkeiten der kollektiven als auch der individuellen Arbeitszeitverkürzung enthält.

Schon vor der Corona-Pandemie ging es in vielen Branchen um die Einführung von Wahloptionen, die es Beschäftigten ermöglichen, zwischen mehr Entgelt, kürzerer Arbeitszeit und anderen Sozialleistungen zu wählen. Darüber hinaus wurde vor allem in Ostdeutschland auch über eine kollektive Verkürzung der Wochenarbeitszeit verhandelt, um den in vielen Bereichen noch bestehenden Abstand zum niedrigere westdeutschen Arbeitszeitniveau zu reduzieren. Während in Westdeutschland die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit in den letzten beiden Jahrzehnten weitgehend konstant geblieben ist, ist in Ostdeutschland in jüngster Zeit ein Trend zu etwas kürzeren Arbeitszeiten zu beobachten. Im Durchschnitt müssen die ostdeutschen Tarifbeschäftigten mit 38,6 Stunden pro Woche aber immer noch knapp eine Stunde länger arbeiten als ihre westdeutschen Kolleg*innen mit 37,6 Stunden.

„Erheblicher Nachholbedarf“ dürfte Tarifrunde 2024 prägen

Zwischen Dezember 2023 und Dezember 2024 laufen nach WSI-Daten von den DGB-Gewerkschaften vereinbarte Vergütungstarifverträge für knapp 12 Millionen Beschäftigte aus (siehe auch den Link zum Kalender unten). Unter anderem stehen Verhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie, der Chemischen Industrie und im Bauhauptgewerbe an. Zum Jahresende laufen die Tarifverträge im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen aus. Damit ist das Tarifjahr 2024 bereits rein quantitativ ein Schwergewicht. Die Tarifrunde werde aus mindestens zwei Gründen „im Zeichen deutlicherer Reallohnzuwächse stehen“, erwartet Tarifexperte Schulten. „Zum einen haben die Tarifbeschäftigten einen erheblichen Nachholbedarf, um die hohen Reallohnverluste der Jahre 2021 und 2022 auszugleichen.“ Besonders hoch sei dieser Nachholbedarf in Branchen wie dem Bauhauptgewerbe oder der Deutschen Telekom, deren letzte reguläre Lohnabschlüsse noch in die Zeit vor den hohen Inflationsraten fallen und die unter den großen Tarifbereichen die Tarifrunde 2024 eröffnen werden. Angesichts der schwachen Konjunkturaussichten in Deutschland würden deutliche Reallohnzuwächse darüber hinaus auch ökonomisch einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der privaten Konsumausgaben leisten, so Schulten.
 

Weitere Informationen

*Thorsten Schulten & das WSI-Tarifarchiv: Tarifpolitischer Jahresbericht 2023: Offensive Tarifpolitik angesichts anhaltend hoher Inflationsraten, WSI-Tarifarchiv, Februar 2024.

Wann stehen 2024 in welchen Branchen Tarifverhandlungen an? Das zeigt der Kündigungsterminkalender des WSI.

Die PM mit Abbildungen

Kontakt

Prof. Dr. Thorsten Schulten
Leiter WSI-Tarifarchiv

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen