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Von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie: Mehr Vielfalt im Wirtschaftsstudium? Theoretisch ja, praktisch passiert wenig

10.11.2016

Die Forderung nach einer pluraleren Volkswirtschaftslehre prägt seit Jahren den wissenschaftlichen Diskurs. Kommt der Wandel nun wirklich? Eine Studie aus Kassel zeigt: Die Kritik an der Einseitigkeit der Wirtschaftswissenschaften findet Gehör bei den Lehrenden. Das allein verändert die Curricula jedoch nicht. Insbesondere die relevanten Grundlagenfächer verharren im Mainstream, der von der neoklassischen Theorie dominiert ist. Die Studie erklärt auch, woran das liegt und zeigt mögliche Wege auf, diesen Missstand zu beheben.

588 Ökonominnen und Ökonomen an 54 deutschen Universitäten beantworteten im vergangenen Sommer Fragen rund um das Thema Pluralismus in der Volkswirtschaftslehre. Zwei Jahre lang forschte das Team von Prof. Dr. Frank Beckenbach (Universität Kassel) in Kooperation mit dem Netzwerk Plurale Ökonomik und finanziell gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung an dieser Standortbestimmung der deutschen Volkswirtschaftslehre. Neben der Befragung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wurde auch eine ausführliche Analyse von Modulhandbüchern der entsprechenden Studiengänge sowie der Lehrmaterialien vorgenommen.

Eines der zentralen Umfrageergebnisse: 77,2 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass es einen Mainstream in der Lehre gibt. Diesen verorten sie im Gedankengerüst der neoklassischen Ökonomik, charakterisiert durch das Menschenbild des Homo oeconomicus sowie die damit verbundenen Optimierungsansätze und Gleichgewichtsannahmen. Gleichzeitig stimmen 92,8 Prozent der Befragten – 34,7 Prozent sogar stark – der Aussage zu, dass es wichtig ist, Studierende mit verschiedenen Lehrmeinungen vertraut zu machen. Und 84 Prozent der Befragten wären tendenziell bereit, ihre Lehre auch entsprechend plural auszugestalten und andere ökonomische Theorien und Konzepte aufzugreifen.

In der eigenen Lehre schlägt sich das allerdings kaum nieder: 69,7 Prozent der befragten Ökonominnen und Ökonomen gaben an, in den Bachelor-Grundlagenfächern eher Mainstream-Ökonomik zu lehren, in den fortgeschrittenen Bachelorfächern sind es noch 47,2 Prozent. Das bedeutet: Gerade in den Grundlagenfächern, in welchen die tragenden Säulen des weiteren Studiums gelegt und die Art und Weise ökonomische Vorgänge wahrzunehmen geprägt werden, findet eine einseitige Ausbildung der Studierenden statt. „Die Studierenden bekommen somit nur wenige Möglichkeiten, über den Tellerrand der traditionellen Ökonomik in die Vielfalt der Theorieansätze zu blicken“, sagt Christoph Gran, Mitglied des Netzwerkes Plurale Ökonomik. „Die Ergebnisse der Umfrage bestätigen somit unsere Kritik an der einseitigen Ausrichtung der Lehre.“ Gran sieht die Bereitschaft der Befragten, die Lehre zu ändern, sehr positiv, unterstreicht aber auch, „dass die Zeit reif ist, den Worten Taten folgen zu lassen und die Ausbildung an den Universitäten endlich zu ändern."

Die Auswertung der Modulhandbücher bestätigt die Ergebnisse der Befragung. Sie zeigt ein starkes Überwiegen des Mainstreams in den untersuchten Grundlagenfächern. Besonders deutlich wird dieser Umstand, wenn nach einer in der Studie entwickelten Unterscheidung in orthodoxe und heterodoxe Begriffe ausgewertet wird: Dann findet sich etwa in den Modulbeschreibungen der Mikroökonomik an 46 der 52 untersuchten Studiengänge – also knapp 90 Prozent – kein einziger Begriff, welcher auf heterodoxe Lehrinhalte hindeutet.

Modulhandbücher machen Lehrenden oft enge und einseitige Vorgaben

Die Studie verdeutlicht zudem, dass diese Einseitigkeit nicht nur in vielen Modulhandbüchern der entsprechenden Lehrveranstaltungen angelegt ist, sondern Modulhandbuchbeschreibungen und faktische Lehre (Lehrmaterialien und Lehrbücher) weitgehend korrespondieren. Dies liegt sicherlich an dem verbindlichen Charakter der Modulhandbücher – „Welcher Lehrende“, so Prof. Dr. Frank Beckenbach, „wird bereit sein, sich über die Vorgaben der Modulhandbücher hinwegzusetzen?“ Frank Beckenbach denkt hierbei nicht nur an die Professorinnen und Professoren, sondern mehr noch an die vielen Lehrbeauftragten. „Es drohen beim Abweichen von den Modulbeschreibungen ja nicht zuletzt auch Klagen von Studierenden, die auf das Einhalten der Modulvorgaben pochen können.“ Für Beckenbach stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, „inwieweit die eindeutig einseitige und verbindliche Vorgabe von speziellen Sichtweisen innerhalb der Modulhandbücher nicht der verfassungsrechtlich gebotenen Freiheit in Forschung und Lehre widerspricht.“

Die Befragung identifiziert darüber hinaus noch weitere Gründe, warum viele Lehrende zwar theoretisch offen für Methoden- und Theorievielfalt sind, in der Lehre aber im Mainstream verhaftet bleiben. So zeigt sich, dass die Bereitschaft zu pluraler Lehre sehr stark von der Einstellung der Befragten geprägt ist: Je größer die subjektive Relevanz von Pluralität und Interdisziplinarität ist, umso höher ist die Bereitschaft zur pluralen Lehre. Als ein Hinderungsgrund erweist sich der Umstand, dass plurale Inhalte nicht in den relevanten wissenschaftlichen Fachzeitschriften untergebracht werden können. Auch der Umfang des Pflichtstoffes, den die Befragten zu absolvieren haben, ist ein Hinderungsgrund. Zudem zeigt sich: Je mehr die Befragten bereits Kenntnis über die aktuelle Diskussion haben, umso höher die Bereitschaft zur pluralen Lehre.

Eine weitere Beobachtung ist eine auffällige Differenz zwischen den Geschlechtern: Frauen sprechen sich eher für eine vielfältige Lehre aus als Männer, sind eher bereit, neue Theorien und Methoden zu vermitteln und empfinden die Kritik an der Lehre generell als im stärkeren Maße gerechtfertigt als ihre männlichen Kollegen.

Alles in allem sehen die Autoren der Studie vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die Universitäten und die volks- und wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereiche in der Pflicht, Lehrende nicht nur zur vielfältigen Lehre zu motivieren, sondern auch entsprechende curriculare Freiräume zu schaffen.

Weitere Informationen:

Einen Überblick der Ergebnisse finden Sie unter Pluralowatch.de

EconPLUS ist ein Kooperationsprojekt des Fachgebiets Umwelt- und Verhaltensökonomik (Prof. Dr. Frank Beckenbach) der Universität Kassel und des Netzwerks Plurale Ökonomik. Das Projekt wurde von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert.

Die vollständige Studie erscheint im November im Metropolis-Verlag: F. Beckenbach, F., M. Daskalakis, D. Hoffmann: Zur Pluralität der volkswirtschaftlichen Lehre in Deutschland.

Kontakt:

Dr. Marc Schietinger
Abteilung Forschungsförderung

Dr. Sebastian Gechert
Wirtschaftsexperte, IMK

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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