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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Die SPD ist heute eine andere Partei"

Ausgabe 09/2013

Klaus Wiesehügel, der scheidende Vorsitzende der IG BAU, über seine Berufung als Arbeitsminister ins Schattenkabinett Steinbrück und sein Verhältnis zur SPD. Das Gespräch führten Guntram Doelfs und Kay Meiners

Im Internet gibt es einen privaten Blog von Ihnen. Der letzte Eintrag stammt von Ende April. Kommen Sie zeitlich nicht mehr dazu, oder müssen Sie stärker aufpassen, was Sie schreiben?

Vor allem komme ich nicht mehr dazu. Hinzu kommt: Den Blog habe ich als Vorsitzender der IG BAU begonnen. Als Mitglied des Kompetenzteams nutze ich andere Medien, das will ich nicht vermischen.

Sie waren früher ein scharfer Kritiker der Agenda-Reformen. Ist die SPD heute eine andere Partei als unter Bundeskanzler Schröder?

Ja, mit Sicherheit. Das Regierungsprogramm unterscheidet sich ganz deutlich von dem Schröder-Blair-Papier, was 1999 diskutiert worden ist. Die Agenda 2010 ist zehn Jahre her. Wir haben heute eine andere Situation. Die SPD beschäftigt sich mit den aktuellen Problemen. Etwa, dass sieben Millionen Menschen einen Stundenlohn unter 8,50 Euro bekommen und dass wir jedes Jahr Niedriglöhne, das heißt Lohnkosten der Unternehmen, mit mehr als elf Milliarden Euro aufstocken.

Die Agenda hat viele treue SPD-Anhänger, aber auch Gewerkschafter verbittert. Manche sind enttäuscht zur Linkspartei abgewandert. Hatten Sie nie das Gefühl, dass die SPD nicht mehr Ihre politische Heimat ist?

Im Gegenteil: Ich habe versucht, andere vom Austritt abzuhalten, denn innerparteiliche Diskussionen müssen geführt werden. Die kann ich nicht führen, wenn ich austrete. Es hat mich geärgert, als Leute die Partei verließen und eine überflüssige neue Partei gründeten, mit der sie nichts bewegen können.

Ist es Ihr Job als Vertreter des linken Flügels in der SPD, diese Leute wieder zur SPD zurückzuholen?

Die SPD hat die große Chance, die zehn Millionen Menschen, die die SPD mal gewählt haben und dies nicht mehr tun, wiederzugewinnen. Und genau an der Stelle will ich mithelfen. Mir geht es vor allem um die Nichtwähler. Wir wissen, dass viele Leute wegen Entscheidungen der vergangenen Jahre noch immer stinkig auf die SPD sind. Deswegen kamen meine Parteifreunde und sagten: Klaus, geh raus ins Land und sag den Leuten, was wir vorhaben.

Im Falle eines Wahlsieges wollen Sie umgehend einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den Weg bringen. Die Wirtschaft warnt, so würden Arbeitsplätze vernichtet.

Die Warnung der Wirtschaft ist falsch. Es gibt Branchen, wo wir tarifvertragliche Mindestlöhne haben. Da hat der Mindestlohn keine Arbeitsplätze gekostet, obwohl er oft höher liegt als 8,50 Euro. Zudem gibt es Erfahrungen mit Mindestlöhnen in vielen europäischen Ländern. Frankreich hat ihn traditionell. Großbritannien hat ihn 1999 eingeführt.

Mit umgerechnet rund 4,30 Euro pro Stunde. Heute liegt der britische Mindestlohn bei sechs Pfund, also rund 7,20 Euro.

Wichtig ist, dass der Mindestlohn dort seit der Einführung stark gestiegen ist. Es gibt eigentlich nur positive Erfahrungen. Selbst die Amerikaner haben ihn. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mindestlohn keine Arbeitsplätze kosten wird. Vielleicht wird nicht mehr jeder Marktteilnehmer da sein, aber die Summe der Arbeitsplätze wird sich nicht reduzieren. Es gibt keinen empirischen Beleg, dass der Mindestlohn in unseren Nachbarländern zum Abbau von Beschäftigung geführt hat. Wir wollen allerdings, dass sich der Wettbewerb über die Qualität der Produkte und der Leistung entscheidet, nicht über Billiglohn als Geschäftsmodell.

Sind nach dieser Logik die zehn Euro Mindestlohn, die die Linkspartei fordert, nicht noch besser?

Der DGB fordert 8,50 Euro, und wir orientieren uns am Vorschlag des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften. Es geht darum, den Mindestlohn endlich gesetzlich durchzusetzen. Danach werden wir eine Kommission einsetzen, die jährlich einen Vorschlag für die Dynamisierung machen wird.

Welche Erfahrungen hat die IG BAU selbst mit dem Branchenmindestlohn auf dem Bau gemacht? Die Mitgliederzahlen der IG BAU haben sich in den letzten 15 Jahren nahezu halbiert.

Wir wollten dem Lohnwettbewerb Grenzen setzen. Das hat auch funktioniert, übrigens im Einklang mit den Arbeitgebern, die auf dem Bau den Mindestlohn unterstützen. Worüber wir uns streiten, ist die Höhe. Aber das ist normales Tarifgeschäft. Was die Mitgliederzahlen der IG BAU betrifft: 1995 begann die Krise am Bau, damals waren rund 1,4 Millionen Menschen beschäftigt. Heute haben wir rund 700 000 Beschäftigte am Bau. Dass sich so etwas dramatisch auf die Mitgliederzahlen auswirkt, haben auch andere Gewerkschaften erlebt. Unser Organisationsgrad ist kaum verändert.

Arbeitsministerin von der Leyen spricht von einem stabilen Arbeitsmarkt und niedrigen Arbeitslosenzahlen. Trotz Wirtschaftsboom haben wir seit vielen Jahren eine Sockelarbeitslosigkeit mit mehr als einer Million Langzeitarbeitslosen. Was wollen Sie als Minister dagegen tun?

Derzeit gibt es kaum noch aktive Arbeitsmarktpolitik. Frau von der Leyen hat zugelassen, dass die Bundesagentur für Arbeit Zielvereinbarungen abschließt, um Arbeitslose so schnell wie möglich zu vermitteln. Ein größerer Teil der Vermittlungen erfolgt in Zeitarbeitsfirmen, diese Menschen stehen dann nach drei Monaten wieder bei der Agentur auf der Matte. Dieser Drehtüreffekt geht zulasten der Arbeitslosen und nimmt die Mitarbeiter der Agenturen stark in Beschlag. Sie sind kaum in der Lage, ein klares Profiling für jeden Arbeitslosen zu machen, um ihn gezielter vermitteln zu können.

Was würden Sie anders machen?

Aktive Arbeitsmarktpolitik heißt für mich vor allem Qualifizierung. Hier hat Frau von der Leyen den Rotstift angesetzt. Diese Kürzungen müssen wir zurücknehmen. Es ist dringend notwendig, den 1,5 Millionen Arbeitslosen, die keine Berufsausbildung haben, eine zweite Chance zu geben. Wir brauchen ein Programm, damit diese Gruppe eine Berufsausbildung nachholen kann. Gegebenenfalls in einer Ausbildungssituation, in der sie beim Einkommen so gestellt werden wie bei einer Berufstätigkeit.

Wie wollen Sie ein solches Programm finanzieren?

Sie können sicher sein, dass hierfür das Geld da sein wird. Wir brauchen ein hohes Niveau der Mittel für aktive Arbeitsförderung, das im Interesse der Planungssicherheit der Träger auch verstetigt werden muss.

Müssten dazu die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung steigen?

Der steigende Bedarf an Fachkräften, die hohe Sockelarbeitslosigkeit oder die vielen Menschen, die keine Berufsausbildung haben – das sind die Dinge, die wir zusammenbringen müssen. Ich möchte nicht, dass die Bundesagentur für Arbeit weiterhin nur eine Vermittlungsorganisation ist. Wir brauchen so etwas wie eine Arbeitsversicherung. Das heißt, es wird ein Beitrag gezahlt, der mich mit neuer Arbeit versorgt, aber der mich auch qualifiziert für eine sich verändernde Arbeitswelt. Dafür braucht man natürlich Geld. Darüber möchte ich mit den Arbeitgebern diskutieren. Eine Reihe von Demografie-Tarifverträgen zeigt, dass das Problembewusstsein da ist.

Kommen wir zur Rente: Die SPD will 2014 prüfen, ob die Rente mit 67 ausgesetzt werden kann. Wenn Sie die Rente mit 67 für falsch halten, wäre es nicht besser, sie ganz zu begraben?

2014 steht die Überprüfung an. Die Arbeitgeber haben versprochen, altersgerechte Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zusage ist nicht erfüllt worden. Wenn im nächsten Jahr nicht mindestens die Hälfte aller Leute zwischen 60 und 64 Jahren auch arbeitet, werden wir die Rente mit 67 aussetzen.

Die Erwerbsquote Älterer, also ab 60, hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Wie lange soll die Rente mit 67 ausgesetzt werden?

So lange, bis die Hälfte der Menschen zwischen 60 und 64 in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sind. Aber wir brauchen auch bei den Rentenübergängen neue Regelungen.

Wie könnten die aussehen?

Die Vorschläge der SPD wie die abschlagsfreie Rente mit 63, wenn jemand 45 Versicherungsjahre erreicht hat, liegen vor. Wir müssen Lösungen finden, die sich nach den Bedürfnissen der Arbeitnehmer richten. Es gibt welche, die können und wollen bis 67 arbeiten. Andere hingegen sind angesichts der aktuellen Arbeitsbedingungen in vielen Jobs mit 58 oder 59 gesundheitlich am Ende.

Wie realistisch sind Überlegungen, die Rentenreform auszusetzen, wenn der erklärte Koalitionspartner diese Positionen gar nicht teilt?

Ich bin überzeugt, dass in einer rot-grünen Koalition diese Position zum Tragen kommt. Wir werden den Grünen in den Koalitionsverhandlungen klar sagen, dass nicht nur eine reine Rentenkürzung übrig bleiben darf. Genau das ist derzeit bei der Rente mit 67 der Fall, weil viele Arbeitnehmer mit 61 oder 62 aus dem Job gehen müssen. Das dürfen wir Sozialdemokraten nicht zulassen.

Woher soll das Geld kommen?

Eine weitere Senkung der Rentenversicherungsbeiträge kommt natürlich nicht infrage. Wir brauchen nach dem Modell des DGB höhere Beiträge, um die Leistungen der Rente stabil zu halten.

Ist nicht eher eine grundsätzliche Reform des Rentensystems erforderlich?

Wie Sie wissen, habe ich selbst vor vielen Jahren gemeinsam mit Experten ein solches Modell entwickelt.

Das Konzept der IG BAU forderte eine Einbeziehung aller Erwerbstätigen sowie aller Einkommensarten in die gesetzliche Rentenversicherung.

Ja. Unser Modell war gut, …

… und stieß in der SPD auf Widerstand.

Die Erwerbstätigenversicherung ist Ziel der SPD. Ich glaube aber, dass wir diesen Diskussionsprozess intensiver angehen müssen.

Welche Zukunft hat die kapitalgedeckte private Rentenvorsorge?

Ich bin Aufsichtsratsvorsitzender der Sozialkasse Bau, eines der größten Pensionsfonds in Deutschland. Dieser garantiert Arbeitnehmern der Bauwirtschaft nach einigen Jahren Tätigkeit in der Branche fast zehn Prozent plus auf die Rente. Die Rendite beträgt aktuell vier Prozent, doch es wird angesichts der niedrigen Zinsen immer schwieriger, sie zu halten. Dabei müssen wir weder Aktionäre noch einen Vorstand befriedigen, der von der Suche nach abenteuerlichen Renditen getrieben ist. Es wird immer dann schwierig, wenn an der Altersversorgung noch jemand anders verdienen will. Von daher sage ich, dass die individuelle kapitalgedeckte Rentenvorsorge über private Anbieter ein Weg ist, der nicht zum Erfolg führt.

Falls es für Rot-Grün nicht reicht: Wird es auch einen Arbeitsminister Wiesehügel in einer großen oder in einer rot-rot-grünen Koalition geben?

Wir sind für Rot-Grün angetreten. Solange der Wähler nicht entschieden hat, brauchen wir über andere Optionen nicht diskutieren.

Wo ist Ihre persönliche rote Linie? Welchen faulen Kompromiss werden Sie als alter Gewerkschafter nicht mittragen?

Wenn es keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, gibt es auch keinen Arbeitsminister Wiesehügel. Das ist ein Punkt, wo ich keinen Kompromiss machen werde. Wir machen ein Gesetz über einen gesetzlichen Mindestlohn über alle Branchen und Regionen hinweg.

Die Zeitungen berichteten jüngst über innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen in der IG BAU. Es gibt offenbar Kritik am Führungsstil des Klaus Wiesehügel. Die Rede ist von einem Mangel an innerer Demokratie. Wie sehr hat Ihnen das im Wahlkampf geschadet?

Wenn man aufs Trapez steigt, muss man wissen, dass es schaukelt. Wenn der Chef einer großen Organisation geht, gibt es immer Diskussionen. Die Lager positionieren sich, das ist doch normal. Hätten wir keinen Wahlkampf, wäre darüber kaum berichtet worden. Es geht doch eigentlich darum, das Kompetenzteam der SPD zu treffen.

Was macht Klaus Wiesehügel nach einer verlorenen Wahl?

Wir verlieren nicht.

 

Zur Person

Klaus Wiesehügel, 60, ist ein Mensch, der sich ein Leben in einer Großstadt nicht wirklich vorstellen kann – trotz Zweitwohnung in Berlin. Freie Zeit verbringt er am liebsten beim Alpinwandern. Geboren wurde der gelernte Betonbauer in Mülheim an der Ruhr. Er trat 1973 in die SPD ein, der er auch als Gegner der Agenda 2010 treu blieb. Wiesehügel ist seit 1976 Gewerkschaftssekretär und seit 1995 Bundesvorsitzender der IG BAU. Ab 1998 gehörte er für eine Wahlperiode als SPD-Abgeordneter dem Bundestag an. 

 

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