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Magazin Mitbestimmung

: Der Undercover-Kollege

Ausgabe 05/2007

SKANDAL Siemens steht im Verdacht, sich eine komplette "Gewerkschaft" gekauft zu haben. In Erlangen erinnert man sich an teure Werbekampagnen und zahme Beschlüsse. Der Feind war die IG Metall.



Von HENDRIK ANKENBRAND. Der Autor arbeitet als freier Journalist in Köln.   


Wenn Wilhelm Schelsky in den Krieg zog, dann selten auf leeren Magen. Zwischen Trüffeln und Gänseleber schwadronierte der Betriebsratschef des Siemens-Werks Erlangen G mit seinen Leute gerne über den "Mythos Klassenkampf" und das baldige "Ende der DGB-Gewerkschaften". Die deutsche Arbeiterbewegung verspeiste der 130-Kilo-Koloss dabei gedanklich locker zum Nachtisch: "Die mach' ich fertig."

Eine Ein-Mann-Armee im Kampf gegen die Gewerkschaftsmafia, so gefiel sich der Chef der "Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebs-angehöriger" (AUB). Seit mehr als 30 Jahren jagt der betont arbeitgeberfreundliche Verein den DGB-Gewerkschaften Betriebsratsmandate ab, gewann bundesweit zuletzt zehn Prozent der Sitze. Diesen Erfolg, davon sind die Fahnder der Staatsanwaltschaften Nürnberg und München mittlerweile überzeugt, erzielte der in U-Haft sitzende Schelsky jedoch keineswegs im Alleingang, sondern als Agent in geheimer Mission. 


BRISANTE UNTERLAGEN_ Die Dokumente, die Polizisten am 16. Februar aus dem Kofferraum von Schelskys Wagen räumten, nachdem sie ihn vermutlich auf der Flucht kurz vor der ungarischen Grenze gestoppt hatten, legen nahe: Initiator und Finanzier des Feldzugs war eine Institution deutscher Industriegeschichte: die Siemens AG, größter Technologiekonzern Europas mit weltweit 475 000 Mitarbeitern und einem Umsatz von 87 Milliarden Euro. Sie hat sich mit Millionenbeträgen in mutmaßlich dreistelliger Höhe eine Arbeitnehmervertretung gekauft und die AUB 16 Jahre lang zur "Anti-Gewerkschaft" gerüstet. Ziel: die IG Metall aus dem Konzern zu drängen.

Die AUB, die bundesweit nach eigenen, oft bezweifelten Angaben 32 000 Mitglieder hat und angeblich 19 000 Betriebsräte stellt, ist zwar auch im Einzelhandel bei Unternehmen wie Aldi und Obi stark vertreten. Mit keiner Firma ist sie jedoch so eng verwoben wie mit Siemens - mitunter bis zur Unkenntlichkeit. 

Ergebnis ist ein Skandal mit noch nicht abschätzbaren Dimensionen, der dieser Tage von Journalisten stückchenweise an die Öffentlichkeit gezerrt wird und das Bild von Siemens als Hort von Betrug und Korruption in immer schärferen Konturen zeichnet. Bereits im vergangenen November hatten Ermittler schwarze Kassen entdeckt, mit denen Siemens laut Verdacht systematisch Schmiergelder für Aufträge im Ausland zahlte - und die aufgrund der scharfen Regeln des US-Kapitalmarkts, auf dem Siemens agiert, schlimmstenfalls die Existenz des Konzerns gefährden könnten. Im Inland kommt der Ärger mit der IG Metall hinzu. Längst hat sie einen Strafantrag wegen unerlaubter Beeinflussung der Betriebsratsarbeit gestellt. Vorläufiger Höhepunkt der Siemens-Affären: die Rücktritte des Aufsichtsratsvorsitzenden Heinrich von Pierer und des Vorstandsvorsitzenden Klaus Kleinfeld Ende April. 

VIELE FREIE STÜHLE_ Weil demnächst auch noch der halbe Zentralvorstand gefeuert werden soll, dürften bald eine Menge Büros frei werden auch im "Himbeerpalast". So nennen die Erlanger das rötliche Verwaltungsgebäude von Siemens am größten Standort des Konzerns. Dessen Herz schlägt hier in Franken, in München sitzt nur der Kopf. Wer bei Siemens etwas zu sagen hat, hat auch in Erlangen einen Schreibtisch. "Himbeerpalast", das klingt niedlich und nach der guten alten Siemens-Welt, in der die Firma für viele Beschäftigte so etwas wie eine zweite Familie war. Doch die Idylle ist längst passé. 

Wer in Erlangen die endlosen Flure entlangläuft, dem weisen links und rechts weiße Ständer voller hochglänzender Geschäftsberichte den Weg, den der Siemens-Tanker im 21. Jahrhundert nimmt: zum Kapitalmarkt, und das mit Volldampf. Diejenigen, die dabei auf der Strecke zu drohen bleiben, tauchen meist früher oder später in Klaus Hannemanns Büro auf. Seit neun Jahren ist er Betriebsratschef in Erlangen G, gewann 1998 für die IG-Metall-Liste nach 24 Jahren die Mehrheit von der AUB zurück. 

Hannemann, heute ein gesetzter Herr mit gepflegtem Schnauzer, erinnert sich noch genau an die Geburt der AUB in Erlangen. Ein "Wilder" seien er und viele IG-Metall-Kollegen in den 70er Jahren gewesen, erzählt er im Plauderton, kommunistischen Sperenzchen nicht abgeneigt. Die Personalmanager sahen es daher gerne, als ein paar Akademiker und Ingenieure bei den Betriebsratswahlen auf einer unabhängigen Liste gegen die Metaller antraten. Angst vor einer linken Gegenmacht im Konzern, dazu die von Facharbeitern und hochqualifizierten Angestellten dominierte Belegschaftsstruktur - das war der Erlanger Boden, auf dem die AUB gedeihen konnte. 

BEGEISTERTE MANAGER_ Frei, nur dem Betrieb verpflichtet, das überzeugte die Mehrheit der Angestellten auf Anhieb, die oft ohnehin "pechschwarz" gewesen seien, wie Hannemann sagt. Die Führungskräfte waren vom neuen Betriebsrat angenehm überrascht. Er war gegen Streiks, für betriebliche Bündnisse - da war man von den Metallern anderes gewohnt. Reichlich Spenden flossen, Manager und Betriebsräte kannten sich vom Golfplatz. Während früher die Betriebsratstätigkeit als Karrierekiller galt, erhielten die "Unabhängigen" im Anschluss an ihr Mandat angenehme und lukrative Jobs in der betrieblichen Weiterbildung. 

Als Wilhelm Schelsky 1984 Betriebsratschef in Erlangen wurde und die Organisation übernahm, waren die Manager begeistert. "Das ist einer von uns", hieß es über den bei Siemens ausgebildeten Industriekaufmann, der 1986 beim Mainzer CDU-Parteitag den Delegierten zurief: "Stärken Sie bitte den Unternehmern den Rücken!" Als Schelsky 1990 Siemens verließ und sich selbstständig machte, kam die verdeckte Finanzierung der AUB richtig in Fahrt.

"Du musst der Firma sagen, was du willst", hatte Schelsky oft verkündet. Jetzt schritt der AUB-Boss zur Tat. Er kaufte ausgegliederte Siemens-Abteilungen wie den Werksschutz und trat fortan als Berater auf. Zur Absicherung habe Siemens Schelsky dafür eine Pensionszusage gegeben und ihm bis 1995 ein Rückkehrrecht auf einen Spitzenposten gewährt, berichtet die Süddeutsche Zeitung. Später habe Siemens die Frist bis Ende 2000 verlängert.

In einem geheimen Strategiepapier soll Schelsky detailliert nachgezeichnet haben, wie die Siemens-Führung den Ausbau der AUB initiierte, um die "Verhältnisse" bei den Betriebsräten und im Aufsichtsrat zu Lasten der IG Metall zu verändern. Mit Erfolg: So stimmt etwa die AUBlerin und Siemens-Aufsichtsrätin Hildegard Cornudet schnell mal mit der Kapitalseite, zuletzt beim Verkauf der Siemens-Com-Sparte. Die Millionen, die nach bisherigen Erkenntnissen an Schelsky geflossen sind, setzten sich dem Bericht der Süddeutschen Zeitung nach aus der Finanzierung der AUB, den Ausgaben für seine offizielle Beratertätigkeit und Schelskys "Gehaltspflege" durch den Konzern zusammen, die der Bezahlung eines Abteilungsdirektors entsprochen habe.

100 MILLIONEN EURO_ Ein Ende des Skandals ist noch nicht in Sicht. Doch die Dimensionen sind immens: Während sich bei der VW-Affäre der materielle Schaden laut der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG in der Größenordnung von fünf Millionen Euro bewegt, könnte sich die gezahlte Summe bei Siemens laut Beobachtern am Ende auf 100 Millionen Euro erhöhen. Da viele Taten wohl schon verjährt sind, konzentriert sich die Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen zunächst auf die Zeit nach 2001.

"Die AUB war Siemens lieb und teuer", sagt Klaus Hannemann. Vor das "teuer" legt er eine Pause. Was es bedeutet, wenn sich ein Konzern eine Arbeitnehmervertretung kauft, hat Hannemann live erlebt. Während er vor Betriebsratswahlkämpfen mit der Verwaltungsstelle der IG Metall um jede Mark für Flugblätter feilschte, warfen die AUB-Kollegen mit professionell layouteten Hochglanzbroschüren nur so um sich und mieteten reihenweise Plakatwände in der Umgebung, trotz des konkurrenzlos niedrigen Mitgliedsbeitrags von monatlich acht Euro. Zu Ostern verteilte die AUB Schokoladeneier, in der Adventszeit Nikoläuse.

Geradezu putzig nimmt sich die Süßigkeiten-Attacke allerdings gegen das aus, was der IG Metaller Heribert Fieber am Münchener Standort Hofmannstraße durch die Siemens-AUB-Allianz widerfuhr. Gegen den unbequemen Betriebsratschef, der 2002 versuchte, betriebsbedingte Kündigungen von rund 200 Mitarbeitern zu verhindern, hetzte die AUB auf Flugblättern und Plakaten mit dem Slogan "Fieber, Filz und Führungsschwäche". 

Schelsky, der die Aktion befohlen und bezahlt hatte, kommentierte kühl: "Wenn man mit sachlichen Argumenten nicht mehr weiterkommt, muss man zu solchen Mitteln greifen." Schließlich sei ja das Wohl von Siemens in Gefahr: "Wenn der Betriebsrat gegen jede Kündigung klagt, bedeutet das große Verluste für das Unternehmen." Er selbst war dagegen die perfekte Besetzung.

GEWERKSCHAFTER UND UNTERNEHMER ZUGLEICH_ Der Sohn des Soziologen Helmut Schelsky, der in den 60er Jahren die deutsche Linke mit seinen Thesen von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" aufregte, hatte es nie verwunden, als einziges Familienmitglied keine akademi-schen Weihen erlangt zu haben. Da machte es stolz, wenn der Vater in seinem 1982 erschienenen Werk mit dem Titel "Funktionäre" Gewerkschafter als Totengräber des Gemeinwesens geißelte und ausdrücklich die "den betrieblichen und sozialen Frieden fördernde Lohnpolitik" der AUB seines Sprösslings Wilhelm lobte. 

Dass sich ein Betriebsrat, der per se den Willen der Unternehmensleitung zur Handlungsmaxime erhebt, schlichtweg überflüssig macht, auf diese Idee war der Vater offenbar nicht gekommen. Und dem Sohn waren Selbstzweifel offenbar fremd. Über die Zeit kaufte sich der Gewerkschaftschef mit Unterstützung von Siemens ein knappes Dutzend Unternehmen zusammen. Auch im Oktober 2002 fand er nichts dabei, in Greifswald das nach der Wende errichtete Produktionswerk IT Network zu 16,6 Prozent von Siemens zu übernehmen und den Anteil später auf 46 Prozent zu erhöhen. Der Betriebsrat des Werks, das Teile für ISDN-Anlagen fertigte, hatte zuvor für das Outsourcing gestimmt - mit der Stimmenmehrheit von Schelskys AUB.

Über Nacht verwandelten sich so Arbeitnehmervertreter in Arbeitgeber, die AUB hatte die Firma quasi an sich selbst verkauft. Unter dem neuen Namen "ml&s" entledigte sich die neue Geschäftsführung als erstes des Flächentarifs und schraubte die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden hoch. Der Presse ver-kaufte Schelsky das zwielichtige Manöver als vorbildliche Aktion zur Sicherung von 350 Arbeitsplätzen. 

Getreu dem Motto "Gut für mich, gut für alle" wischte die Galeonsfigur der AUB stets jegliche Bedenken beiseite - ganz im Stil seines Vorbilds, des Altbundeskanzlers Helmut Kohl, über den Schelsky gerne bemerkte, er habe ihn in der Amtsdauer überholt. Während er den IG-Metall-Betriebsräten vorwarf, "fremdgesteuert" und "ideologiegetrieben" zu sein, lehnte er in seinem Sessel in der hinter Bäumen halb versteckten AUB-Zentrale am Nürnberger Spittlertorgraben und regierte sein kleines Reich per Telefon.

Schon während Schelskys Zeit als Betriebsratschef hatten sich seine Leute vor Abstimmungen stets per Blickkontakt versichert, ob der Chef die Hand hob oder nicht. Später, so erinnert sich Klaus Hannemann, hätten schon mal konstituierende Betriebsratssitzungen unterbrochen werden müssen, weil die AUB-Räte allem Anschein nach auf telefonische Befehle aus Nürnberg warteten.

Wenn das falsche Spiel der AUB so offensichtlich war, muss sich die IG Metall allerdings die Frage gefallen lassen, warum sie so lange untätig blieb. Sei sie gar nicht, entgegnet der Erlanger IG-Metall-Bevollmächtigte Wolfgang Niclas. Wo etwas bewiesen werden konnte, da habe seine Gewerkschaft gehandelt. Allerdings hätten die Metaller in dem Dilemma gesteckt, dass den Siemens-Beschäftigten die Streitereien mit der AUB zunehmend auf die Nerven gefallen seien. Und in der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt sei man beim Thema AUB lange Zeit auf taube Ohren gestoßen.

Mittlerweile hat der IG-Metall-Vize Berthold Huber die AUB zur Chefsache gemacht. Werner Neugebauer, der bayerische IG-Metall-Vorsitzende, hat sich ihrer schon seit längerem angenommen. Das Ausmaß des Skandals erwischt aber auch ihn eiskalt: "Keiner von uns hat geglaubt, dass Siemens so viel Geld für die AUB übrig hat." Wer in der Siemens-Führung von der verdeckten Finanzierung gewusst hat, werden wohl Gerichte klären. Vorübergehend saß bereits der Siemens-Zentralvorstand Johannes Feldmeyer in Haft, da ein Vertrag mit Schelsky von 2001 seine Unterschrift trägt. Gegen weitere Top-Manager wird ermittelt. Dass das AUB-System im gesamten Zentralvorstand Thema gewesen sei, könne er sich jedoch nicht vorstellen, sagt Wolfgang Niclas.

Noch 1998 habe etwa der damalige Siemens-Chef Heinrich von Pierer kurz vor den Betriebsratswahlen vor 1400 Zuhörern in der Erlanger Stadthalle mit der IG Metall über sein "Top-Plus-Programm" diskutiert und so indirekt Wahlkampfhilfe geleistet. "Das wäre dann der Gipfel der Heuchelei gewesen."

"KEINE AHNUNG" BEI DER AUB_ Für das, was von der AUB noch übrig ist, gibt es nur einen Schuldigen: "Nie wieder darf uns passieren, dass eine Person alles weiß, alles leitet und damit beinahe alles zerstört", sagt die stellvertretende AUB-Bundesvorsitzende Ingrid Brand-Hückstädt über ihren ehemaligen Chef Schelsky. "Keine Ahnung" habe der Vorstand von dessen Aktivitäten gehabt, alles geheim, alles undurchsichtig.

Unterstützung für die Taktik, alles auf Schelsky abzuwälzen, erhielt Brand-Hückstädt von Siemens, dessen Spin-Doktoren zu Beginn der AUB-Affäre reichlich private Details über Schelskys noblen Fuhrpark und seine Häuser an der Ostsee und in Kanada in der Presse streuten. So sollte er als Absahner erscheinen und vom eigentlichen Skandal ablenken. Auf einem eilig anberaumten Bundeskongress will sich die AUB nun im Juni mit neuem Namen und neuer Satzung von ihrer Vergangenheit lossagen. Laut Brand-Hückstädt soll es rasch einen "völligen Neubeginn" geben. Ganz oben auf der Tagesordnung: die Erhöhung des Mitgliedsbeitrags.

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