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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Wir arbeiten viel mehr als wir müssten"

Ausgabe 04/2016

Arbeit und Freizeit waren strikter voneinander abgegrenzt, heute ist der Arbeitsplatz häufig Mittelpunkt des Lebens. Wie unsere Arbeitsgefühle geweckt wurden, hat die Historikerin Sabine Donauer erforscht. Das Gespräch führte Jeannette Goddar.

Als Max Weber sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in deutschen Fabriken umsah, meinte er: Mit diesen Arbeitern ist Kapitalismus unmöglich. Warum?

Einige Betriebe hatten gerade den Stücklohn erhöht: Pro gefertigtem Teil bekamen die Arbeiter seit Kurzem mehr Geld. Das sollte sie motivieren, mehr zu arbeiten. Tatsächlich gingen sie einfach früher nach Hause, wenn so viel Geld beisammen war, wie sie vorher verdient hatten. Der Soziologe Weber zog daraus den Schluss, es werde schwer mit dem Kapitalismus, wenn die Arbeitnehmer so wenig wachstumsorientiert seien. 

Die Freizeit erschien den Menschen wertvoller?

Ja, nach der anstrengenden Arbeit wollten sie nach Hause: zu ihrer Familie, Bücher lesen, in den Kleingarten oder zum Theater spielen. Heute dagegen ist der Arbeitsplatz häufig Mittelpunkt des Lebens. Immer mehr Menschen bleiben länger im Büro – für das gleiche Geld oder sogar für weniger. Dahinter steht ein sehr langer „Erziehungsprozess“, wie es Max Weber nannte. Den meisten Menschen ist er gar nicht bewusst. 

Wann hat dieser Prozess eingesetzt?

In der Weimarer Republik. Die Gewerkschaften verzeichneten enormen Zulauf; die Mitbestimmung wurde eingeführt. Die Unternehmer standen unter Handlungsdruck. Damals entstand die Arbeits- und Organisationswissenschaft als neue Disziplin, sie zielte darauf ab, den ‚Arbeitsraum‘ zum ‚Lebensraum‘ zu machen, damit sich die Beschäftigten ‚wohl‘ fühlen konnten: Fabrikgelände wurden verschönert, dunkle Hallen beleuchtet, behagliche Kantinen eingerichtet. Aus Arbeitern wurden Mitarbeiter, die mit Namen angesprochen wurden. Der Klassengegensatz sollte durch solche Ideen aufgehoben werden. 

Und das hat funktioniert?

Vor allem die Idee, die Identifikation mit den Betrieben – und später: mit der eigenen Arbeit – zu stärken, war erfolgreich. Wenn Arbeiter sich nicht in erster Linie als Mitglieder einer Klasse, sondern als Angehörige einer Betriebsfamilie begreifen, ändert das das Denken. Heute ist Deutschland innerhalb Europas an der Spitze, was das Auseinanderdriften von tariflich vereinbarter und tatsächlicher Arbeitszeit angeht. Wir arbeiten viel mehr, als wir müssten. Hört man sich um, scheint Arbeiten weniger mit Geld verdienen zu tun zu haben als mit Selbstverwirklichung.

Ihre These ist, dass die Unternehmen dieses Denken gefördert haben? 

Wenn es Verteilungs- und Machtkonflikte mit der Arbeiterschaft gab, wurden in den Firmen häufig ein neues Gefühlsmanagement eingeführt. Während der Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung in den 50er Jahren sagte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA): Wir brauchen Humanisierung statt Demokratisierung, also einen empathischeren Umgang mit den Mitarbeitern. Während die Gewerkschaften Beteiligung an Gewinn und Produktionsplanung forderten, hielten die Arbeitgeber auf der emotionalen Ebene dagegen: Sie stellten Betriebspsychologen ein, um ‚antikapitalistische Ressentiments‘ zu besänftigen und für eine gute ‚Betriebsatmosphäre‘ zu sorgen. 

Zugleich wurden die Spielräume für Entscheidungen vergrößert. 

Ja, das Arbeitsergebnis wurde ab den 1970ern häufiger über Zielvereinbarungen statt über direkte Weisungen erreicht. In den USA entdeckte man durch Experimente bei General Electric, dass Reinigungskräfte produktiver waren, wenn man ihnen erklärte: Wann, wie und mit welchem Material ihr arbeitet, dürft ihr selbst organisieren – aber sauber hätten wir es gern. Die Produktivität stieg um 30 Prozent, Krankheitstage gingen zurück. 

Dass Menschen zufriedener sind, wenn sie selbstbestimmter arbeiten, belegen Forschungen bis heute. Ein echter Fortschritt, oder nicht? 

Personalmanagement-Bücher kreisen um die Frage: Wie kann ich Mitarbeiter zu überdurchschnittlichem Engagement motivieren, ohne dass sie dafür eine materielle Gegenleistung erwarten? Die Antwort liegt in emotionalen Techniken: Wertschätzung und Ermunterung bieten, Begeisterung wecken. Die emotionale Belohnung soll alle Mühen wettmachen und die Leistung vom Gehalt entkoppeln. 

Davon abgesehen – ist Selbstbestimmung positiv?

Auch dies gilt sicherlich nicht für alle Menschen. Manche fühlen sich in festen Routinen und eng abgesteckten Arbeitsbereichen wohler. Immer mehr Fehltage wegen psychischer Erkrankungen und der steigende Konsum von Aufputschmitteln für Arbeitsleistungen legen einen Zusammenhang mit den ständig steigenden Herausforderungen doch sehr nahe. 

Unsere Arbeitszeiten werden flexibler – innerhalb der Woche, aber auch über das gesamte Erwerbsleben. Es gibt Familien- und Pflegezeiten. 

Solche Modelle führen eher zu einer 45- als zu einer 35-Stunden-Woche, wenn die Zeit nicht erfasst wird. Das geht zulasten der Arbeitnehmer. Über 60 Prozent der Menschen, die in Vollzeit arbeiten, leisten mehr, als vertraglich vereinbart. Ständig müssen wir uns beweisen, mit wie viel Freude wir dabei sind. Überdurchschnittlich engagiert zu sein ist die emotionale Norm unserer Zeit. Wer sich ihr nicht beugt, geht berufliche Risiken ein.

In der Produktion, im Einzelhandel, auch bei Dienstleistungen gibt es doch viele Arbeitsplätze mit festen Arbeitszeiten. 

Es werden weniger. Die Tarifbindung sinkt. Und ich bin sicher, dass ein Bewerber, der in einem Vorstellungsgespräch sagt, er wolle nach acht Stunden nach Hause und eben seine Brötchen verdienen, nicht eingestellt wird. Selbst Supermarktketten werben mit spannenden Herausforderungen; ein Autobauer behauptet auf seiner Website, bei der Ausbildung in seinem Unternehmen könne man „Leidenschaften teilen“ und „Persönlichkeit entwickeln“. Ich frage: Wie wäre es, zurückzufinden in eine Welt, in der Wirtschaftswachstum und Persönlichkeitsentwicklung weniger miteinander verbunden werden als heute?

Haben Sie eine Empfehlung, wie wir in eine solche Welt zurückfinden?

Ein historischer Rückblick kann hilfreich sein. Und man sollte sich die Mechanismen emotionaler Beanspruchung bewusst machen. In der IG Metall vermittelt ein Arbeitskreis „Indirekte Steuerung“, über welche subtilen Techniken Unternehmen Motivation und ständige Präsenz einfordern – und wie man sich dagegen abgrenzt. Es ist wichtig, dass sich Gewerkschaften nicht nur um Lohn und Arbeitszeit kümmern. 

Mehr Informationen

Sabine Donauer, 34, hat das emotionale Verhältnis der Menschen zu ihrer Arbeit untersucht. Die Dissertation ist an der Berliner Graduiertenschule „Languages of Emotion“ von FU/Max-Planck-Institut für Bildungsforschung entstanden. Sie wurde dafür mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung ausgezeichnet. 

Sabine Donauer: Faktor Freude. Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt. Hamburg, Edition Körber 2015. 248 Seiten, 16 Euro

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