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Magazin Mitbestimmung

Arbeitsorganisation: Es geht auch anders

Ausgabe 12/2013

Restrukturierungen, Zeitdruck, Multitasking – im Zeitalter der Globalisierung verliert man am Arbeitsplatz schnell den Überblick. Beim Pharmakonzern Abbott und bei der Automationsfirma Sick haben die Betriebsräte an Lösungen mitgearbeitet. Von Carmen Molitor

Von Smartphone-Apps verlangt man in erster Linie, dass sie unkompliziert funktionieren: Einmal tippen, und jederzeit liefert das Programm das gewünschte Ergebnis. Genauso müssen sich viele frühere Mitarbeiter des Pharmakonzerns Solvay am Standort Hannover gefühlt haben, kurz nachdem der Konkurrent, der US-Konzern Abbott, sie zusammen mit der gesamten Pharmasparte ihres früheren Arbeitgebers geschluckt hatte. Nicht genug, dass die neuen Vorgesetzten auf einmal in Chicago saßen, dass es zu Massenentlassungen kam und auf einen Schlag 300 Mitarbeiter gehen mussten. Die Übriggebliebenen waren verunsichert und gestresst. Viele von ihnen sollten plötzlich auf einem ganz neuen Arbeitsplatz ihren Dienst tun.

Besonders hart erwischte es etwa 50 Assistentinnen, die durch eine Art Ringtausch in neue Abteilungen versetzt worden waren. Dort sollten sie erfahrene Kolleginnen ersetzen, die das Angebot aus dem Sozialplan genutzt hatten, freiwillig mit einer Abfindung die Firma zu verlassen. Es gab keine Einarbeitung, keine Stellenbeschreibungen – nur die Anordnung, am neuen Platz zu funktionieren, in neuen Routinen, ohne auf die vertrauten informellen Netzwerke zurückgreifen zu können: „Früher wussten die Leute: Ich rufe jetzt Frau XY an, die kann Ungarisch oder hat schon einmal ein Visum nach Saudi-Arabien beantragt, die kann mir bei dieser speziellen Aufgabe helfen. Das war auf einma alles weg“, erzählt Gabriele Zielke, die Betriebsratsvorsitzende. „Die Kolleginnen wussten nicht mehr, wie sie ihre Arbeit bewältigen sollen.“

PROBLEMANALYSE MIT DEN BETROFFENEN

Der Betriebsrat erfuhrt erst nach und nach, wie belastet die verbliebenen, meist jüngeren Mitarbeiterinnen – darunter viele Teilzeitkräfte – in ihren neuen Jobs waren. Er beschloss, gemeinsam mit der IG BCE nach Auswegen aus der verfahrenen Situation zu suchen. Der Name des gemeinsamen Projektes, „Office Apps“, stammt vom Betriebsrat und verrät einen Sinn für feine Ironie. Zum ersten Mal konnten die Assistentinnen, die sich teilweise selbst zur App degradiert fühlten, ihre Belastungen offen ansprechen. Der Betriebsrat führte Interviews, bei denen herauskam, dass die neuen US-Vorgesetzen wenig Toleranz gegenüber dem eingeschränkten Zeitbudget der deutschen Teilzeitkräfte und dem Zeitunterschied zwischen den Ländern zeigten. Sie erwarteten prompte Erledigung, auch wenn hier schon Feierabend war. Nachdem der Betriebsrat Druck gemacht hatte, kommunizierte das deutsche Management in der Zentrale in den USA die deutschen Regeln und Arbeitsgesetze.

Die Übernahme des Solvay-Standortes brachte auch ein interkulturelles Problem mit sich: Die Mitarbeiterinnen fühlten sich nicht mehr ihrer Qualifikation entsprechend eingesetzt. Bisher hatten sie als rechte Hand ihrer Vorgesetzten auch Sachbearbeitungsaufgaben übernommen. In der amerikanischen Firmenkultur galten sie plötzlich als einfache Hilfskräfte. „Das sind dort eher Leute, die dafür sorgen, dass man den Geburtstag der Ehefrau nicht vergisst und die Ersatzkrawatte im Schrank ist“, erklärt Zielke. Ab einer gewissen Gehaltsstufe erhalten Vorgesetzte diese Mitarbeiter als eine Art Gratifikation. Mit diesem Image hatten die deutschen Frauen ein Problem: „Sie wollten nicht behandelt werden wie jemand, der nur einen Geburtstagskalender führt“, sagt die Betriebsrätin.

Drei Arbeitsgruppen gingen aus dem Projekt „Office Apps“ hervor: Die erste Gruppe sollte das Image der Assistentinnen verbessern und im Unternehmen kommunizieren, dass hinter ihrem Job mehr steckt als Kaffee kochen. „Eine Kollegin hat darüber auf einer Betriebsversammlung gesprochen, das war toll“, erinnert sich Gabriele Zielke. Das Management fügte zur Klärung für die Amerikaner bei der Berufsbezeichnung zum Wort „assistent“ das Wort „specialist“ hinzu. Die zweite Gruppe im Projekt recherchierte fachliche und sprachliche Kompetenzen der Frauen und stellte einen Katalog zusammen, der nur für Assistentinnen zugänglich ist – das Ziel war, Informationen wieder zugänglich zu machen und kollegiale Hilfe im Arbeitsalltag zu fördern.

Die dritte Gruppe im Projekt entwickelte einen digitalen, für alle zugänglichen „Werkzeugkoffer“ mit Informationen über Prozessabläufe – angefangen von der Frage, wo man das passende Formular zu einem bestimmten Antrag findet, bis hin zu der richtigen Routine, wenn ein Auto auf dem Firmenparkplatz beschädigt wird. So gelang es, das Wissensnetz des Unternehmens zu reparieren. Sogar interne Fortbildungen organisieren die Frauen selbst: Wenn sich Abläufe verändern, laden sie zu ihren Treffen jemanden aus der betreffenden Abteilung ein, der dann alle über die neuen Prozesse informiert. „Es hat sich bei uns ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein gebildet“, resümiert die Betriebsratsvorsitzende. Ihr Arbeitgeber Abbott beschäftigt in Hannover immerhin noch 550 Beschäftigte, die sich um den Vertrieb, die Entwicklung und Fragen der Arzneimittelsicherheit kümmern.

GEFAHREN FÜR DIE PSYCHE BEGRENZEN

Projekte wie „Office Apps“ können nicht nur einen Beitrag zum Wissensmanagement bei Umbrüchen leisten, sie dienen auch der Prävention von psychischen Erkrankungen. Die Arbeitsumgebungen werden komplexer, sie verändern sich oft schnell – und gleichzeitig wird die Kontrolle vom Verhalten auf das Ergebnis verlagert. Die Arbeitsorganisation hinkt dabei zuweilen hinterher.

Im „Stressreport 2012“der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, einer bundesweiten Befragung von 20 000 Erwerbstätigen, werden Multitasking, Termin- und Leistungsdruck sowie ständige Störungen bei der Arbeit als häufigste Krankmacher genannt. Trotzdem behandelten viele Arbeitgeber den Schutz vor psychischer Überforderung am Arbeitsplatz stiefmütterlich, beklagt Klaus Pickshaus, Experte für Arbeitsgestaltung im Vorstand der IG Metall. „Arbeitgeber haben oft rundweg bestritten, dass psychische Belastungen überhaupt in die Gefährdungsbeurteilung aufgenommen werden müssen“, sagt Pickshaus. „Das simple Argument war, dass der Begriff im Arbeitsschutzgesetz gar nicht vorkommt.“

Dem hat der Gesetzgeber die Grundlage entzogen und 2013 – auf Druck der Gewerkschaften – psychische Belastungen explizit ins Arbeitsschutzgesetz aufgenommen. „Seither ist es für Betriebsräte leichter, Arbeitgeber zu einer Gefährdungsbeurteilung in diesem Bereich zu bewegen“, freut sich Pickshaus. Die IG Metall will das Gesetz durch eine Antistressverordnung weiter konkretisieren. In erster Linie, sagt Pickshaus, müssten aber die Arbeitnehmervertreter darauf dringen, dass die Unternehmen sich um die Gefährdungen kümmerten. Keine leichte Aufgabe, denn „man will den Betriebsräten über Fragen, wie Arbeitsabläufe oder die Organisation geregelt werden, kein Mitbestimmungsrecht zubilligen, obwohl das die Gerichte anders sehen“, kritisiert Pickshaus. Oft helfe nur der Gang zur Einigungsstelle.

DER BETRIEBSRAT MACHT DRUCK

Etwas anderes als die Einigungsstelle blieb auch Roberto Hernandez nicht übrig. Vor zehn Jahren war der Vorsitzende von Betriebs- und Gesamtbetriebsrat in der Firmenzentrale der Sick AG in Waldkirch im Breisgau erstmals durch die IG-Metall-Kampagne „Meine Zeit ist mein Leben“ auf das Thema gestoßen. Stress und Zeitdruck waren auch in seinem Betrieb, einem Hersteller von Sensoren für Industrieanwendungen in der Automatisierungstechnik, gerade ein Thema. Oft wurde an mehreren Projekten gleichzeitig gearbeitet, in einem engen Zeittakt. „Viele Kollegen sind zum Betriebsrat gekommen und haben gesagt: Wir können nicht mehr“, berichtet Roberto Hernandez. Doch wenn der Betriebsrat davon im „Arbeitskreis Gesundheit“ berichtete, einem informellen Gremium, in dem Arbeitnehmervertreter, Arbeitgeber und Führungskräfte über gesundheitliche Aspekte der Arbeit sprachen, stieß er am Anfang auf taube Ohren.

„Damals war der Tenor bei den Arbeitgebern: Das gibt es bei uns nicht, durch die Arbeit hier kann niemand psychisch krank werden“, erzählt Her­nandez. Mehr als zwei Jahre musste der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende Überzeugungsarbeit leisten, dann hatte er den Personalchef und den Vorstand davon überzeugt, dass es sehr wohl psychische Gefährdungen im Unternehmen gibt. Ein Tabu war das Thema aber immer noch – bei der Belegschaft: „Da hat jeder gedacht, wahrscheinlich habe ja nur ich das Problem und die anderen nicht“, beschreibt Roberto Hernandez. „Wir haben lange gebraucht, um das zu durchbrechen.“

Als endlich ein Problembewusstsein geschaffen war, war es leichter, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Aber eine Betriebsvereinbarung konnte lange nicht erreicht werden. Der Betriebsrat strengte 2004 ein Einigungsstellenverfahren an, ging mit konkreten Vorschlägen zum Richter und kam aus dem Konflikt mit einer kleinen Betriebsvereinbarung heraus, wie im Unternehmen eine ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung (GGB) laufen könnte. 2005 begann eine systematische Analyse ausgesuchter Unternehmenssegmente als Pilotprojekt. Der Betriebsrat entschloss sich, mit der Befragung der Belegschaft Andreas Krause, damals Professor an der Uni Freiburg, zu beauftragen. Die Beschäftigten sollten sicher sein können, dass ihre Aussagen vertraulich blieben. Zu der Erhebung gehörten auch Arbeitsplatzanalysen und Workshops, in denen die Beschäftigten über ihre Belastungen reden und Lösungen entwickeln konnten. Zu diesen Treffen stießen am Schluss auch Führungskräfte hinzu, damit konkrete Maßnahmen vereinbart werden konnten

DEN STRESSFAKTOREN AUF DER SPUR

Im Laufe der Analyse kamen sehr konkrete Probleme zu Tage – etwa in der Entwicklungsabteilung. „Es kam heraus, dass es eine große Belastung für die Entwickler war, eine Grundsatzentwicklung zu machen und gleichzeitig an einer Produktentwicklung zu arbeiten“, erläutert Bärbel Frank, die sich als nicht freigestellte Betriebsrätin mit der GGB beschäftigt. Als Lösung bot sich an, die Grundsatz- und die Produktentwicklung zu teilen. „Es gibt jetzt Personen, die das eine, und Personen, die das andere machen“, sagt Frank. Das Resultat: weniger Stress. Im achtköpfigen Team der Zollabteilung waren ständige Arbeitsunterbrechungen und hoher Zeitdruck die großen Stressfaktoren, erzählt Bärbel Frank. Um den Zeitdruck abzumildern, stellte der Arbeitgeber eine zusätzliche Person ein.

Um Unterbrechungen zu reduzieren, gab sich das Team Regeln. „Das waren teilweise kleine Dinge“, erklärt Frank. „Wir haben zuerst Headsets angeschafft, weil die Geräuschkulisse im Großraumbüro zu laut war. Dann haben wir gemerkt: Jetzt sprechen wir lauter, das stört. Danach haben wir Handzeichen eingeführt.“ Telefoniert heute jemand zu laut, zeigt sein Gegenüber ihm das an. Für längere Gespräche suchen die Beschäftigen öfter als früher den Besprechungsraum auf. Eine Trennwand wurde neu eingezogen. Mehrere Teammitglieder nutzen jetzt die neu geschaffene Möglichkeit für Heimarbeit, wenn sie knifflige Dinge in Ruhe bearbeiten wollen. Ein Teil bleibt inzwischen regelmäßig einmal die Woche im Homeoffice.

Auch andere Abteilungen sind in Bewegung gekommen: Die Logistikabteilung hat mehr als zehn Mitarbeiter eingestellt, um den Arbeitsdruck zu mildern. Eine Entwicklungsabteilung hat die Regel eingeführt, dass sich Mitarbeiter zwischen acht und zehn Uhr nicht intern anrufen, um konzentrierter in den Tag starten zu können. Auch Themen wie die Unzufriedenheit mit Vorgesetzten sind auf den Tisch gekommen. Was zunächst als Pilotprojekt lief, ist bei der Sick AG seit 2012 per Betriebsvereinbarung zum Standardprozess geworden.

Gelenkt wird dieser Prozess durch einen sechsköpfigen Steuerkreis, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch besetzen. Planung, Steuerung und Koordination obliegen einer GGB-Referentin. In diesem Jahr kommt die erste Mitarbeiterbefragung über die Wirkung der Maßnahmen hinzu. Der Prozess steht und fällt mit der Mitarbeiterbeteiligung, findet Hernandez: „Wir wissen nicht automatisch, wo der Schuh drückt. Die Mitarbeiter müssen mitmachen.“ Bärbel Frank sieht die Gefährdungsbeurteilung als Chance: „Wir werden damit keinen akuten Burn-out-Fall verhindern. Aber vielleicht schaffen wir es, dass die nächsten gar nicht so weit kommen.“

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