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Magazin Mitbestimmung

: Geschichte geschrieben

Ausgabe 01+02/2010

AUTOMOBILINDUSTRIE Vor 35 Jahren verhinderte die Belegschaft von Audi in Neckarsulm mit der IG Metall die Schließung ihres Werkes. Jetzt in der Krise wir der Fall strategisch wieder interessant. Von Stefan Scheytt

STEFAN SCHEYTT ist Journalist in Rottenburg am Neckar

Es war die Zeit, als der Liter Benzin 85 Pfennig kostete und die "Tagesschau" von Karl-Heinz Köpcke verlesen wurde. Es war die Zeit, als Gerd Müller Deutschland zum Weltmeister-Titel "bombte", der Bundeskanzler Schmidt und der IG-Metall-Vorsitzende Loderer hießen. Und es war die Zeit, als Reporter aus den USA und Japan ins Schwäbische reisten, weil es in Deutschland schon lange nicht mehr so renitente Mitarbeiter wie jene im Audi/NSU-Werk in Neckarsulm gegeben hatte. Krawall lag in der Luft, und das ausgerechnet bei einer Tochter von VW.

DER PROFESSOR UND DER BETRIEBSRAT_ Lang ist's her, 35 Jahre, eine ganze Generation. Aber zwei Männer glauben, Lehren aus der Geschichte um das Audi/NSU-Werk ziehen zu können. Der eine ist Egon Endres, 49, Präsident der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München; als junger Sozialwissenschaftler schrieb der Böckler-Stipendiat vor 20 Jahren seine Dissertation über "Interessenvertretung bei Massenentlassungen in der Automobilindustrie", die damals auch als Buch unter dem Titel "Macht und Solidarität" veröffentlicht wurde. Das Buch beschreibt den erfolgreichen Kampf der Belegschaft und der IG Metall in den Jahren 1974/75 gegen die Schließung des Audi-Werks in Neckarsulm mit seinen gut 10 000 Mitarbeitern, die der VW-Vorstand damals geplant hatte, um die riesigen Überkapazitäten seiner Werke abzubauen.

Der andere, der von der Geschichtslektion überzeugt ist, ist Norbert Rank, 55, Betriebsratschef in Neckarsulm. 20 Jahre war er jung und hatte gerade als Kfz-Schlosser ausgelernt, als er am 18. April 1975 mit Tausenden Kollegen bei einer "spontanen" Betriebsversammlung auf dem Audi-Werksgelände stand und Klaus Zwickel, der damalige Erste Bevollmächtigte der IG Metall in Neckarsulm, fragte, ob man sich nicht den Kollegen des Zweigwerks in Heilbronn anschließen solle, die gerade zu einem Protestmarsch durch die Stadt aufgebrochen waren. So kam es zum legendären, 15 Kilometer langen und vier Stunden dauernden "Marsch nach Heilbronn".

Norbert Rank steht im Zimmer des Vertrauenskörperleiters bei Audi in Neckarsulm und zeigt auf Schwarz-Weiß-Bilder von jenem Marsch an der Wand. "Jedem neuen Kollegen, der hier zum ersten Mal sitzt, zeigen wir diese Bilder und machen ihm klar: Ohne diesen Marsch würde er hier nicht sitzen, weil es das Werk nicht mehr gäbe." Und ohne Werk, ist Rank überzeugt, wäre es "krabbenacht" in der Region geworden. Er kenne "keine andere Geschichte, die den Standort, die Menschen und die ganze Region stärker geprägt hat als dieses Ereignis", sagt Rank. Jahrelang schenkte der Betriebsratschef jeder Führungskraft zum Arbeitsantritt Endres' Buch. Und aus Anlass des 100. Audi-Jubiläums Mitte 2009 ließ Norbert Rank das zwischenzeitlich vergriffene Buch neu auflegen, um es künftig Jubilaren zu schenken - allein bis 2015 wird es mehr als 1000 Kollegen geben, die ihre 40-jährige Betriebszugehörigkeit feiern und am "Marsch nach Heilbronn" selbst teilgenommen haben.

Der "Marsch nach Heilbronn" war aber nicht nur das prägendste Ereignis für die Menschen, die dadurch ihr Werk retteten. Er war auch der kritischste Moment in der mehr als eineinhalbjährigen Auseinandersetzung. Und er ist jener Punkt in der Geschichte, an dem man die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Arbeitnehmerschaft aufzeigen kann. Egon Endres' Buch heißt zwar "Macht und Solidarität", aber damit ist weniger der Kampf solidarisch verbrüderter Arbeitnehmer gegen die Macht des Kapitals gemeint. Vielmehr handelt Endres' Buch von der Konkurrenz der Standorte im VW-Konzern und davon, dass manche Betriebsräte zur Solidarität erst gezwungen werden mussten - etwa durch Ereignisse wie den bundesweit für Aufsehen sorgenden Protestmarsch.

ZERREISSPROBE FÜR DIE IG METALL_ Viele Neckarsulmer hatten damals den Eindruck, ganz unten in der Hierarchie der VW-Standorte zu stehen und deshalb das größte Opfer zur Bewältigung der VW-Krise bringen zu müssen. Schließlich war NSU erst 1969 durch Fusion mit der Auto Union/Audi zum VW-Konzern gekommen. "Es gab damals Betriebsräte, die sehr stark Machtpolitik auf dem Rücken anderer Standorte betrieben", sagt Egon Endres, der heute freimütig erzählt, dass es offene und verdeckte Versuche gab, sein Buch zu verhindern.

Klar, dass so eine Konstellation zur "größten Zerreißprobe" (Endres) für die Gewerkschaft werden musste. Denn wäre das Werk in Neckarsulm geschlossen worden, wäre nach Einschätzung von Endres damit "offenbar geworden, dass die große IG Metall es nicht mehr versteht, in einer ihrer wichtigsten Branchen die verschiedenen Einzel- und Standortinteressen zu bündeln". Es wäre als schwere Niederlage der Gewerkschaft begriffen worden, ein so traditionsreiches und gut organisiertes Automobilwerk nicht retten zu können.

Verschärft wurde die Problematik für die IG Metall durch spannungsgeladene Beziehungen wichtiger Gewerkschaftsfunktionäre, wie Endres sie beschreibt. So galten etwa Klaus Zwickel und der baden-württemberger Bezirksleiter Steinkühler als Kritiker von IG-Metall-Chef Eugen Loderer. Loderer war Vertreter eines ausgleichenden Politikstils, der weniger auf Aktionen und Arbeitsniederlegungen setzte und gerade in der VW-Krise umso mehr auf seinen Einfluss als stellvertretender VW-Aufsichtsratschef und auf seinen guten Kontakt zu Bundeskanzler Schmidt. Verständlich, dass Loderer über die Aktionen Klaus Zwickels und die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit für den Konflikt nicht glücklich sein konnte.

Entsprechend sind die Lehren, die Egon Endres für heutige Konflikte zieht. "Die zwei starken Modi, die damals für die meisten Arbeitnehmervertreter bestimmend waren, nämlich das Geschlossenheitsparadigma und das Vertraulichkeitsparadigma, haben in guten Zeiten ihre positiven Wirkungen, in Krisenzeiten werden sie jedoch zu einer großen Gefahr für die Gewerkschaften", sagt Endres. Mit Geschlossenheitsparadigma meint der Wissenschaftler die Strategie, in erster Linie die Einheit der Organisation zu sichern; mit dem Vertraulichkeitsparadigma beschreibt er die enge Beziehung zwischen Betriebsräten und dem Management ihres Standorts. Die Gefahr sei, dass - wie damals - in einer Krise die Betriebsräte starker Standorte Solidaritätsansprüche schwächerer Standorte ausblenden und eine ungleiche Lastenverteilung stillschweigend akzeptieren - und damit die Geschlossenheit ihrer Gewerkschaft torpedieren. "Gerade in Krisen sind Betriebsräte und Gewerkschaften gut beraten, beide Paradigmen aufzuweichen und mehr Transparenz und mehr offene Konfliktaustragung zuzulassen", meint Endres.

Klaus Zwickel sei damals zum "wichtigsten Akteur" des Konflikts geworden, weil er es verstanden habe, "Übersetzungsarbeit zwischen Belegschaft, Gewerkschaft, Öffentlichkeit, Politik und Management" zu leisten, und dabei auch in kontrollierter Weise gegen das Geschlossenheitsparadigma verstieß, indem er durch massive Öffentlichkeitsarbeit nach Verbündeten außerhalb der gewerkschaftlichen Solidargemeinschaft suchte.

Auch Audi-Betriebsrat Norbert Rank hat seine Lehre aus der Geschichte gezogen, er kann sie sogar auf ein Blatt Papier zeichnen. Es ist ein Diagramm, auf dessen einer Achse die Tätigkeiten traditioneller Betriebsratsarbeit aufsummiert werden wie "Lohnstreifen erklären" oder "Parkplatzprobleme lösen". "In manchen Betriebsräten wurde sogar Waschpulver verkauft", sagt Rank und wendet sich der anderen Achse zu, auf der er strategische Aufgaben einträgt: "Arbeitsplatzorganisation", "neue Technologien", "neue Modelle". "Die traditionelle Arbeit muss weniger werden. Die Globalisierung zwingt uns, uns noch stärker auf künftige Dinge vorzubereiten und präventiv zu denken." Wenn der VW-Konzern heute in irgendeinem Land neue Kapazitäten plane, lasse sich der Betriebsrat genau erklären, wie diese Kapazitäten gefüllt werden sollen und was das für die Auslastung bestehender Standorte bedeutet. "Ich will nie mehr in eine Situation kommen, in der wir auf die Straße gehen müssen, um eine Werksschließung zu verhindern", sagt Marsch-Teilnehmer Rank.

EIN ERFOLG MIT VERLIERERN_ Derzeit spricht bei Audi auch nichts dafür, dass so ein Thema in absehbarer Zukunft aufkommen könnte. Denn im Vergleich zur Konkurrenz steht das Unternehmen prächtig da. Und Neckarsulm ist neben der Zentrale in Ingolstadt ein Standort von höchster Bedeutung: Hier laufen unter anderem das Flaggschiff A8 und die Premiummodelle A6 und A4 vom Band. Zudem ist das Werk, in das bis 2012 rund 1,3 Milliarden Euro investiert werden, Audis Kompetenzzentrum für den Leichtbau mit Aluminium, bei dem das Unternehmen als weltweit führend gilt. "Vorsprung durch Technik" - ein gutes Stück von Audis Werbeslogan hat seinen Ursprung heute ausgerechnet in jenem Werk, das einmal platt gemacht werden sollte.

So gesehen kann man die Geschichte der Neckarsulmer Marschierer als eine Erfolgsgeschichte interpretieren. Und vieles spricht dafür, dass Audi ohne die Erfahrung, ohne das Know-how und auch ohne das Selbstbewusstsein seiner Neckarsulmer Belegschaft heute schlechter dastünde. Und dennoch hatte damals im Gefolge der Ölkrise die bis dato schwerste Beschäftigungskrise der deutschen Automobilindustrie Tausende von Verlierern - bei VW und seiner Tochter Audi verloren damals rund 40 000 Menschen ihren Arbeitsplatz. Zwar gab es in Neckarsulm keine Entlassungen, dennoch sank die Zahl der Beschäftigten zwischen August 1974 und Ende 1975 von 10 500 auf 6000. Nicht nur war der Personalabbau prozentual etwa doppelt so stark wie bei Audi in Ingolstadt und VW in Wolfsburg. Klare Verlierer in Neckarsulm waren vor allem Ausländer (ihr Anteil sank von 41 auf 25 Prozent), Frauen, Ältere und Angelernte, die sich - oft unter enormem sozialem Druck - ihre Arbeitsplätze durch Abfindungen abkaufen ließen.

Und es gab im Laufe dieser Krise viele Kränkungen und bittere Einsichten. Eine davon ist Egon Endres auch 20 Jahre nach seinen Recherchen noch höchst präsent, obwohl er sie in seinem Buch damals gar nicht verwertete: "Noch Mitte 1974 hat Eugen Loderer in einem Brief den Bundeskanzler als ‚lieben Helmut‘ angesprochen und mit ‚Dein Dir sehr ergebener Eugen‘ unterschrieben", berichtet Endres. Nur wenige Monate später schrieb der IG-Metall-Chef an Helmut Schmidt - offensichtlich stark enttäuscht in seiner Erwartung, die Bundesregierung würde über den VW-Aufsichtsrat mehr Einfluss nehmen - an den "Sehr geehrten Hr. Bundeskanzler"; sein Gruß am Ende lautete: "Hochachtungsvoll, Eugen Loderer, Vorsitzender der IG Metall".


Mehr Informationen

Egon Endres: Macht und Solidarität - Audi/NSU Neckarsulm 1974/75: Gegen Beschäftigungsabbau und Standortschließung, Hamburg, VSA-Verlag 2009

Fotos: Katholische Stiftungsfachhochschule München (l.) , IG Metall

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