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Sommerakademie 2022 Magazin Mitbestimmung

Bildung: Engagiert demokratisch

Ausgabe 05/2022

Unter Federführung der Hans-Böckler-Stiftung veranstalteten die Begabtenförderungswerke in Deutschland ihre zweite gemeinsame Sommerakademie. Das Thema: die Zukunft der Demokratie in turbulenten Zeiten. Von Joachim F. Tornau und Jan Falk

Der Appell hätte wohl kaum auf offenere Ohren treffen können. „Nutzen Sie die Gelegenheit, miteinander zu streiten“, sagte Jens Brandenburg, Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, als er am 28. August die zweite Sommerakademie der Begabtenförderungswerke eröffnete. „Streiten Sie – im besten demokratischen Sinne!“

Eine Woche lang trafen sich in Heidelberg rund 230 Stipendiatinnen und Stipendiaten aller Förderwerke, ob parteipolitisch oder religiös, gewerkschafts- oder wirtschaftsnah ausgerichtet, um über die Zukunft der Demokratie und die Demokratie der Zukunft zu diskutieren. Und man musste sich nur kurz unter sie zu mischen, um zu merken: Sie tun das mit ansteckender Begeisterung. Nicht nur bei den Vorträgen und Seminaren, auch in den Pausen, beim Essen, beim Luftschnappen im Garten der Heidelberger Jugendherberge wurde weiter engagiert debattiert. Die Studierenden nahmen das Motto der Sommerakademie ganz offensichtlich sehr ernst: „Demokratie gestalten!“

 

  • Sommerakademie Seminar
    Sommerakademie: Ein Seminarraum

Zweimal musste die gemeinsame Veranstaltung der Begabtenförderungswerke wegen der Coronapandemie ausfallen, jetzt konnte sie endlich wieder stattfinden. Die Federführung hatte dabei wie bei der Erstauflage im Jahr 2019 die Hans-Böckler-Stiftung übernommen. „Wie so oft, wenn man ein Comeback feiert, kommt man gestärkt zurück“, sagte Ralf Richter, Leiter der Studienförderung der Stiftung, bei der feierlichen Eröffnung im Heidelberger Schloss. Denn neben den 13 akademischen Förderwerken, die schon bei der Premiere dabei waren und diesmal wieder jeweils ein Seminar beisteuerten, hatte erstmals auch die Stiftung Begabtenförderung Berufliche Bildung einige ihrer Stipendiatinnen und Stipendiaten entsandt.

„Demokratie im Wandel – auf dem Weg zu einer neuen globalen Ordnung?“

Unter dieser Leitfrage standen die Diskussionen, die bei der diesjährigen Sommerakademie geführt wurden. Es ging um die Herausforderungen der Klimakrise, der autoritären Versuchungen und der Digitalisierung, um den Aufstieg Chinas und die Rolle Russlands. Kurz: Es ging um das, was Ursula Schröder, Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, in ihrem Eröffnungsvortrag als „Multikrise“ bezeichnete. „Wir leben in einer Zeit sich überlagernder Krisen und Katastrophen“, sagte die Politikwissenschaftlerin mit Blick auf die weltweiten Folgen etwa von Pandemie, Ukrainekrieg und Klimawandel. Und das sei kein vorübergehendes Phänomen: „Die turbulenten Zeiten, in denen wir uns befinden, sind gekommen, um zu bleiben.“

Weil globale Herausforderungen nur global angegangen werden könnten, plädierte Schröder für „radikale Kooperation“. Aber wie kann das aussehen, wenn die liberale, demokratische Ordnung etwa von China und Russland zunehmend infrage gestellt wird? Das war nur eine der vielen Fragen, über die sich die Studierenden in Heidelberg die Köpfe heiß redeten – angeregt durch zahlreiche weitere Vorträge namhafter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ebenso wie eine Diskussion mit Mitgliedern des Bundestags und des Europaparlaments auf dem Programm der Sommerakademie standen.

  • Sommerakademie Begabtenförderungswerke
    Sommerakademie: Die Logos der Begabtenförderungswerke

Ein besonderes Augenmerk galt dabei dem indo-pazifischen Raum. So skizzierte Patrick Köllner, Direktor des GIGA Instituts für Asien-Studien, wie westliche Staaten – darunter auch Deutschland und die EU – derzeit mit „Indopazifik-Strategien“ nach Bündnispartnern suchen, um eine chinesische Vormachtstellung in der Region zu verhindern. Aber, erklärte der Hamburger Politikwissenschaftler: „Viele pazifische Inselstaaten fühlen sich nicht in erster Linie von China bedroht, sondern vom Klimawandel.“

Nadine Godehardt, China-Expertin an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, warb für einen differenzierteren Blick auf das Reich der Mitte – und in diesem Zusammenhang auch für das China-Kompetenzprogramm CHIN-KoBe, das die Hans-Böckler-Stiftung zusammen mit der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für Stipendiaten aller Begabtenförderungswerke organisiert. „Wir haben viele wissenschaftliche Erkenntnisse, die sich nicht in der Politik wiederfinden“, sagte Godehardt. „Das ist genau das Problem.“ Ob Menschenrechte, wirtschaftliche Abhängigkeit oder Taiwankrise: An Redebedarf herrschte auch nach diesem Vortrag kein Mangel.

  • Sommerakademie 2022
    Pause auf dem Heidelberger Schloss.

Das galt auch für den Vortrag von Prof. Dr. Jeanette Hofmann am Donnerstagabend im Heidelberger Schloss. Die Professorin für Internetpolitik an der FU Berlin ging der Frage nach, wie die Digitalisierung die Demokratie beeinflusst und zeichnete eine Entwicklung nach, die weit über die zuletzt oft diskutierten Gefahren durch Social Media für den öffentlichen Diskurs hinausging. Ihre These: „Die Art, wie wir Technik nutzen, bestimmt unsere Wahrnehmung der Welt und unser Denken“. Etwa bei der algorithmischen Nutzung großer Datenmengen – Big Data – die zu immer neuen, ja „verflüssigten“ gesellschaftlichen Kategorien in vielen Anwendungsgebieten führe und klassische demografische Variablen ablöse, etwa in der Geheimdienstarbeit, aber auch bei Empfehlungsfunktionen in sozialen Netzwerken.

Und auch demokratische Institutionen, wie etwa den Parteien, verflüssigten sich, wandelten sich von festen Organisationen zu losen Netzwerken um einen charismatischen Politiker herum, zum Beispiel En Marche in Frankreich. Die digitale Demokratie selbst sei letztlich immer nur vorläufig und im Wandel begriffen, so Hofmann, und es sei auch die Verantwortung der Stipendiatinnen und Stipendiaten, diese weiterzudenken und zu gestalten.

  • Sommerakademie 2022
    Vortrag von Prof. Dr. Jeanette Hofmann.

Dass die Stipendiatinnen und Stipendiaten substanzielle Veränderungen für dringend notwendig erachten, zeigte sich am Freitag, als Politiker sich ihren Fragen stellten. Wie schon so oft in dieser Woche standen auch bei dieser Session der Klimawandel und die nötigen Maßnahmen dagegen im Fokus. Einig waren sich Politiker und Stipendiatinnen und Stipendiaten noch in der Analyse, dass die derzeitige Geschwindigkeit in der Bekämpfung der CO2 Emissionen nicht ausreiche. „Wir müssen allerdings gerade eine Vielzahl an Problemen, die alle zusammenhängen, gleichzeitig lösen“, so Karsten Lucke, der für die SPD im Europaparlament sitzt. Die Vehemenz und Konzentration auf nur ein Thema von Gruppen wie Fridays For Future sei ein Fehler und im politischen System nicht anschlussfähig, so Lucke.

Doch Verweise auf langwierige Verfahren, komplizierte Zuständigkeiten und komplexe Interessenslagen, die auch Kai Whittaker (MdB CDU) und Daniel Karreis (MdL in Baden-Württemberg, FDP) immer wieder als Begründung für langsame Fortschritte äußerten, konnten viele Stipendiatinnen und Stipendiaten zwar noch verstehen, aber nicht mehr akzeptieren. „Es ist die Pflicht der jetzt aktiven Politiker, dass wir jungen Menschen eines Tages überhaupt noch die Chance haben, in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik Verantwortung zu übernehmen und die Welt positiv zu gestalten“, so eine Stipendiatin unter Applaus vieler ihrer Altersgenossinnen und -genossen.

  • Sommerakademie 2022
    Finissage und Ergebnispräsentation aus den Seminaren.

Dennoch: Die Krisen der Zeit mit anderen als demokratischen Mitteln bekämpfen, das wollte unter den Stipendiatinnen und Stipendiaten freilich auch niemand. Im Gegenteil: In der Finissage am Samstag, der Vorstellung der Ergebnisse aus den 13 von den Begabtenförderungswerken organisierten Seminaren, konnte man bei aller Sorge über die gigantischen Herausforderungen dieser Generation auch neue Hoffnung nach dieser Woche aus den Berichten der Stipendiatinnen und Stipendiaten heraushören.

Die Sommerakademie geht in die dritte Runde

Und diese speiste sich dann ausgerechnet aus Erfolgserlebnissen im Prozessualen, im gegenseitigen Entwickeln von Verständnis, von einer gemeinsamen Gesprächsbasis bei aller Unterschiedlichkeit der Perspektiven zu Beginn. „Sich verstehen, ohne immer einverstanden zu sein: Das ist das Wesen der Demokratie, und das hat auch in dieser Woche viel Spaß gemacht“, fasste ein Stipendiat seine Erfahrungen aus den zurückliegenden Tagen zusammen. Einig war man sich jedoch darüber, dass viele Fragen nach dieser Woche ungelöst blieben – und daher ein gemeinsamer Austausch über gesellschaftliche Bubbles hinweg, wie in dieser zurückliegenden gemeinsamen Woche in Heidelberg, noch viel öfter notwendig sei.

Ein Wunsch, dem die großen deutschen Begabtenförderungswerke gerne nachkommen. Auch im kommenden Jahr wird es neben anderen gemeinsamen Angeboten wieder eine Sommerakademie geben, dann unter Leitung des Evangelischen Studienwerks Villigst und des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks.

Egal, wen ich auf der Sommerakademie kennengelernt habe, es wurde immer sofort diskutiert – über Politik oder über den Klimawandel. Eine ausgezeichnete Erfahrung, sehr interessant und intensiv.“

Daria Radiuk

  • Daria Radiuk, Teilnehmerin der Sommerakademie
    Daria Radiuk, 22 Jahre, Hanns-Seidel-Stiftung, studiert Psychologie an der Universität Dresden.

Es war ein gleichberechtigtes Aufeinandertreffen. Als jemand, der aus Benin kommt, habe ich aber bedauert, dass Afrika in den Diskussionen nicht vorkam – wie so oft leider.“

Ezin Kohounfo

  • Ezin Kohounfo, Teilnehmer der Sommerakademie in Heidelberg
    Ezin Kohounfo, 25 Jahre, Hanns-Seidel-Stiftung, studiert Öffentliche Verwaltung an der Hochschule Harz in Halberstadt.

Für die immensen Herausforderungen, vor denen insbesondere meine Generation steht, gibt es keine simplen Lösungen. Mir gefällt daher der interdisziplinäre Ansatz der Sommerakademie.“

Tobias August

  • Tobias August, Teilnehmer der Sommerakademie in Heidelberg
    Tobias August, 25 Jahre, Stiftung der Deutschen Wirtschaft, studiert Informationstechnologie und Recht an der Universität des Saarlandes.

Auf der Sommerakademie haben wir viele verschiedene Perspektiven einnehmen können. Ich glaube, dass das sehr fruchtbar ist, weil man so nicht nur in seiner Bubble bleibt.“

Amei Buttler

  • Amei Buttler, Teilnehmerin der Sommerakademie in Heidelberg
    Amei Buttler, 28 Jahre, Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk, studiert Agrarwissenschaften an der Universität Kiel.

Es war sehr bereichernd, mit Leuten zusammen zu sein, die sich politisch oder religiös ganz anders positionieren. Die Diskussionen waren zwar manchmal hitzig, aber immer wertschätzend.“

Glory Gay

  • Glory Gay, Teilnehmerin der Sommerakademie in Heidelberg
    Glory Gay, 27 Jahre, Hans-Böckler-Stiftung,studiert Politics and Technology an der TU München.

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