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Magazin Mitbestimmung

: Seeleute zeigen Flagge

Ausgabe 03/2011

GLOBALISIERUNG Für die mehr als eine Million Seeleute hat die Internationale Transportarbeiter-Föderation den ersten weltweit gültigen Tarifvertrag erstritten. Von Ingmar Höhmann

Ingmar Höhmann ist Journalist in Köln/Foto: ITF

Kein Strom, kein Essen, kein Wasser - für die drei Matrosen an Bord der Cormorant kam es knüppeldick. Eigentlich sollte die dänische Hafenstadt Frederiksvaerk im Dezember 2009 nur ein Zwischenstopp werden, doch sie wurde zum Gefängnis. Erste Anzeichen gab es auf See: Vier Monate lang hatten die Seeleute auf dem Frachter gearbeitet, auf den Lohn aber vergeblich gewartet. Als der Kapitän und Schiffseigner in Dänemark von Bord ging und nicht wiederkehrte, stellten die Seeleute entsetzt fest, dass er ihre Pässe gleich mitgenommen hatte. Damit waren sie Gefangene an Bord ihres Schiffs. Schlimmer noch: Es drohte ein Verfahren wegen illegaler Einreise - eine Vorstrafe und die Abschiebung wären die Folge gewesen.

Die Internationale Transportarbeiter-Föderation ITF nahm sich der Sache an und sorgte für Abhilfe: Mit ihrer Hilfe konnten die Seeleute in ihre Heimatländer Ghana und Russland zurückkehren. Und mit dem Erlös aus dem Verkauf der Cormorant, deren Eigentümer sich offenbar aus finanziellen Gründen aus dem Staub gemacht hat, will die Gewerkschaft die ausstehenden Heuern begleichen.

GLOBALISIERUNG FORDERT TRIBUT_ Einfache Matrosen haben in der weltweiten Schifffahrt wenig zu melden. Sie stammen oft aus Niedriglohnländern wie China, Indien oder den Philippinen. Auf Frachtern, die unter der Flagge Liberias fahren, einem japanischen Reeder gehören und von einer deutschen Firma gemanagt werden, sind die Seeleute quasi staatenlos. Ihr alleiniger Partner ist die ITF, die einzige Gewerkschaft, die es geschafft hat, einen weltweiten Tarifvertrag zu vereinbaren. Dieser Vertrag, 2003 im sogenannten International Bargaining Forum mit internationalen Reederverbänden ausgehandelt, gilt für mittlerweile fast 300 000 Seefahrer. Danach verdient ein Matrose 1675 Dollar im Monat - für viele Arbeitnehmer aus armen Ländern ist das eine stolze Summe. Ob das Geld auch bei ihnen ankommt, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Manche Reeder schließen zwar für das Schiff einen ITF-Vertrag ab, halten sich aber nicht an die Vorgaben.

Denn aus Kostengründen haben viele Reeder ihre Schiffe in Zwergstaaten wie den Marshall-Inseln, Antigua und Barbuda oder den Bahamas angemeldet. Doch die scheren sich kaum um die Arbeitnehmerrechte auf See, sagt David Cockroft, der Generalsekretär der ITF. Rund 60 Prozent aller Schiffe fahren mittlerweile unter einer Flagge, die nicht der Nationalität des Besitzers entspricht. Sogar die Mongolei, ein Land komplett ohne Küste, lässt Schiffe bei sich anmelden.

Die mit Abstand beliebteste Flagge für Handelsschiffe ist die von Panama. Dem Lloyd's Schifffahrtregister zufolge waren hier Anfang des vergangenen Jahres 8100 Schiffe registriert. Weit abgeschlagen folgt Deutschland, dessen Reeder immerhin eine der größten Handelsflotten der Welt besitzen, mit knapp 1000 Schiffen. Ein Grund: Wer unter deutscher Flagge fährt, muss Bürger der Europäischen Union einstellen. Das bedeutet höhere Sozialversicherungskosten, geregelte Urlaubszeiten und strengere arbeitsrechtliche Vorschriften. So sind etwa der in der Seefahrt üblichen Befristung von Verträgen Grenzen gesetzt. Jan-Thiess Heitmann, der Leiter der Rechtsabteilung beim Verband Deutscher Reeder, schätzt die Mehrkosten für ein Schiff unter deutscher Flagge auf im Schnitt 250.000 Euro pro Jahr.

Ausgaben, auf die viele Reeder derzeit gerne verzichten. Die internationale Seefrachtbranche hat gerade die schärfste Krise ihrer Geschichte durchlaufen. Dass die deutschen Reeder, die im Wettbewerb mit Konkurrenten aus Hongkong, China und Japan stehen, trotzdem einen Teil ihrer Schiffe unter einheimischer Flagge fahren lassen, sieht Heitmann als "Zeichen des guten Willens". Ohnehin würden die Reeder auf gute Arbeitsbedingungen achten: "Wer ein 150 Millionen Euro teures Schiff mit Waren in Milliardenwert auf See schickt, lässt das nicht von jemandem fahren, der nicht ausreichend qualifiziert ist - das wäre Wahnsinn", sagt er.

Die ITF widerspricht dem nicht, denn an hoch qualifizierten Führungskräften auf See herrscht tatsächlich Mangel. Doch für einfache Matrosen gelten andere Regeln - hier bedienen sich auch deutsche Reeder bevorzugt bei Arbeitnehmern aus Niedriglohnländern. Diese ernähren mit der Heuer oft die gesamte Familie - und nehmen dafür einiges in Kauf: Verdorbene Nahrung, unbezahlte Überstunden, Dumpinglöhne, Misshandlungen - die Berichte der ITF sprechen für sich. Nur selten begehren die Ausgebeuteten auf, denn sie sind auf den Job angewiesen. Auf den Philippinen führen die Rekrutierungsagenturen gar schwarze Listen: "Wer Ärger macht, bekommt keinen neuen Vertrag", sagt Anna Llewellyn von der Abteilung Seefahrtspolitik der ITF.

DURCHSETZUNGSSTARKE INSPEKTOREN_ Um den Matrosen zur Seite zu stehen, hat die Gewerkschaft ein Netzwerk von rund 140 Inspektoren in den wichtigsten Häfen auf dem Globus aufgebaut. Sie kontrollieren anlegende Handelsschiffe - unangemeldet. 2010 waren es insgesamt 8300. Auch in Deutschland insistieren die Gewerkschafter hartnäckig - und mit Erfolg. Oft erhalten die Matrosen nur einen Teil der vereinbarten Heuer, weiß ver.di-Expertin Barbara Ruthmann, die für die ITF die Billigflaggenkampagne in Deutschland leitet. Auf jedem vierten Schiff finde er Missstände und Verstöße gegen den Tarifvertrag, sagt Ruud Touwen, der Koordinator der ITF-Inspektoren in Deutschland. "Man sollte meinen, ein deutscher Reeder achte stärker auf gute Arbeitsbedingungen. Aber das ist nicht wahr: Alle drücken die Kosten da, wo sie können - und das ist meist bei der Besatzung."

Einmal im Jahr startet Touwen mit seinen Kollegen eine Großrazzia: Bei der sogenannten "Baltic Week" gehen eng koordiniert Gewerkschafter in allen Häfen der Ostseeanrainerstaaten gleichzeitig auf Inspektionstour. Im vergangenen Jahr kontrollierten sie während der einwöchigen Aktion Ende September allein in Deutschland rund 100 Schiffe. Dabei konnten sie die Eigner von zwölf Schiffen überzeugen, einen ITF-Tarifvertrag abzuschließen und trieben 21.000 Dollar an ausstehenden Heuern ein; weltweit beliefen sich die Löhne, die Schiffseigner 2010 nach ITF-Kontrollen nachzahlen mussten, auf fast 24 Millionen Dollar.

Gern gesehen sind die Inspektoren bei den Arbeitgebern daher nicht, doch in vielen Häfen haben die Kapitäne keine andere Wahl, als sie an Bord zu lassen. In Deutschland etwa haben die Gewerkschaften ein Zugangsrecht für Betriebe - die ITF-Inspektoren dürfen daher jedes Schiff betreten und nach der Mannschaft schauen. Nicht in allen Ländern hätten die Arbeitnehmervertreter solche Rechte, sagt ver.di-Expertin Ruthmann. Weil sich die Reeder im internationalen Geschäft aber die Häfen nicht aussuchen können, können sie den ITF-Inspektoren auf lange Sicht kaum entgehen. Dank weltweit verfügbarer Datendienste wie etwa Sea-web ist die Position eines Schiffes kein Geheimnis mehr. Läuft ein Frachter einen Hafen an, der lange nicht mehr überprüft wurde, können sich die Inspektoren rechtzeitig auf eine Kontrolle vorbereiten.

HAFENARBEITER ALS VERBÜNDETE_ Denn die Globalisierung hat auch ihre guten Seiten. Sie verschafft der ITF zudem ein wichtiges Druckmittel: das Spiel auf Zeit. Schon kleine Verzögerungen können die genau getaktete Routenplanung eines Ozeanriesens durcheinanderbringen. Jede Stunde, die ein Schiff zu lange in einem Hafen verbringt, kostet den Reeder viel Geld. "Die Just-in-time-Produktion ist zu unserem wichtigsten Verbündeten geworden", sagt ITF-Generalsekretär Cockroft.

Die Hafenarbeiter sind die eigentliche Armee der ITF. Entscheiden diese sich, bei der Be- und Entladung einen Gang zurückzuschalten, kommt das de facto einer Stilllegung des Schiffs gleich. "Die Hafenarbeiter sind gut organisiert und kampfstark - fast alle sind Mitglied einer Gewerkschaft", sagt Ruthmann. Sogar der Boykott von Schiffen sei in Deutschland möglich. In Ländern wie Japan hingegen verfolgen die Arbeiter in den Häfen eine andere Strategie - das "Go slow" ist eine Art indirekter Boykott. "Eine Versammlung am Kai kann sich lange hinziehen", sagt Ruthmann. "Wenn ein voll beladenes Schiff stundenlang am Kai liegt, ohne seine Fracht löschen zu können, sind die Arbeitgeber schnell zu Kompromissen bereit."

Schätzungsweise 90 Prozent des Welthandels werden heute auf dem Meer abgewickelt. Kein Computer, kein Fernseher, kein Auto wird heute in Europa verkauft, dessen Bestandteile nicht in einem Container über die Ozeane transportiert wurden. "Die Schifffahrt ist die erste globale Industrie. Daher brauchen die Beschäftigten eine globale Gewerkschaft", sagt Cockroft.

Auf dieser Einsicht beruht die Gründung der ITF im Jahr 1896. Damals erkannten die europäischen Gewerkschaften, dass sie ohne Zusammenarbeit keine Chance gegen die internationalen Schifffahrtsgesellschaften haben würden. Als die Hafenarbeiter im niederländischen Rotterdam in den Streik traten, forderten die Schiffseigner die Matrosen auf, die Schiffe selbst zu entladen. Aus Solidarität mit den Streikenden weigerten sich die Seeleute - die Basis für eine heute mehr als 100-jährige Kooperation war gelegt.

Den Kampf für die Rechte von Hafenarbeitern und Seefahrern setzt die ITF auch auf politischer Ebene fort. So konnten die Mitgliedsgewerkschaften mehrfach die von der EU-Kommission geplante Liberalisierung der Seehäfen abwehren. Tausende Dockarbeiter in ganz Europa hatten gegen den "Port Package" genannten Richtlinienentwurf protestiert, der die Konkurrenz zwischen den Häfen verschärfen sollte. Die Richtlinie wäre ein schwerer Schlag für die ITF gewesen: Nach dem Willen der EU-Kommission sollten Besatzungen selbst Frachter löschen und beladen dürfen - der Boykott durch die Hafenarbeiter würde damit unmöglich. Zweimal ist das Projekt bei der Abstimmung im Europäischen Parlament gescheitert, zuletzt 2006. Die Kommission plant nun einen dritten Anlauf, und die ITF stellt sich erneut auf Widerstand ein.

NEUE RECHTE FÜR SEEFAHRER_ Das vielleicht wichtigste Projekt der ITF jedoch steht im nächsten Jahr an: Dann soll eine Grundrechtecharta die rund 1,2 Millionen Seefahrer auf den Weltmeeren vor Ausbeutung schützen. Erstmals in der Geschichte werden damit Mindestrechte von Matrosen weltweit rechtlich durchsetzbar sein.

Für die ITF ist die "Maritime Labour Convention" (MLC) ein Meilenstein. Zusammen mit der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, mit Reedereien und Regierungen hat die Gewerkschaft ein Regelwerk erarbeitet, das mehr als 60 Einzelabkommen zusammenfasst. Die Unterzeichnerstaaten müssen die Grundsätze in nationales Recht umsetzen. Die ITF und die ILO erwarten, dass bis Ende 2012 mindestens 30 Staaten die neue Konvention ratifiziert haben - damit tritt sie offiziell in Kraft.

Die Konsequenzen sind weitreichend: Alle großen Handelsschiffe werden künftig ein sogenanntes Seearbeitszeugnis und eine See-Konformitätserklärung an Bord haben müssen. Mehr als 55 000 Schiffe weltweit sind damit verpflichtet, auf diese Weise die Erfüllung der MLC-Vorschriften zu dokumentieren. Der große Unterschied zu bisherigen Abkommen besteht aber in der Durchsetzung - sie wird zu einer staatlichen Aufgabe. Die Hafenbehörden müssen bei einlaufenden Schiffen ungeachtet der Herkunft kontrollieren, ob diese die in der Charta niedergelegten Mindeststandards einhalten - etwa bei Arbeitszeit, Verpflegung oder Sicherheitseinrichtungen. Wird ein Verstoß festgestellt, darf ein Schiff erst wieder auslaufen, wenn das Problem behoben ist.

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