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Magazin Mitbestimmung

: Die neue Dynamik der Wertschöpfung

Ausgabe 11/2011

DIENSTLEISTUNGSÖKONOMIE Die Mechanismen industrieller Wertschöpfung ändern sich grundlegend: Industrieunternehmen gleichen zunehmend modernen Dienstleistungsbetrieben. Umgekehrt werden viele Dienstleistungen im industriellen Stil erbracht. So innovativ diese Dynamik auch sein mag, sie hat erhebliche Folgen für die Beschäftigten. Von Bernd Bienzeisler

Von Bernd Bienzeisler ist Wissenschaftler am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart.

Wir können nicht davon leben, dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden“ – sagte Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder in dem Bochumer Opel-Werk vor versammelter Belegschaft. Das war im Jahr 2002, und die dahinterliegende Botschaft lautet: Eine moderne Volkswirtschaft benötigt die Güterproduktion als wertschöpfende Basis. Der einseitige Weg in die Dienstleistungsgesellschaft wird früher oder später in der Sackgasse enden.

Heute, gut drei Jahre nach den Erschütterungen an den Finanzmärkten, scheint diese Erkenntnis aktueller denn je. Hat nicht die Krise gezeigt, dass man Wohlstand und Arbeitsplätze nicht aus dem Nichts zaubern kann? Wurden nicht Volkswirtschaften, die ihre industrielle Basis bereits abgebaut haben, am stärksten von der Krise getroffen? Und hat der Wiederaufstieg der deutschen Industrie im Jahr 2010 nicht gezeigt, dass der industrielle Sektor über mehr Widerstandskraft verfügt als das Dienstleistungsgewerbe?

Richtig ist, dass heute von „Dienstleistungsgesellschaft“ niemand mehr sprechen mag – auch deshalb, weil man in den letzten Jahren erkennen musste, dass es sich bei vielen Dienstleistungsjobs um prekäre und häufig schlecht bezahlte Arbeit handelt. Und es stimmt, dass Volkswirtschaften mit industriellem Kern heute bei den entscheidenden ökonomischen Kennzahlen, nämlich der Arbeitslosenquote und der Verschuldung, besser dastehen. Man vergleiche nur die Zahlen aus Deutschland und Südkorea mit denjenigen der USA und Irland.

Aber wahr ist auch, dass die Mechanismen industrieller Wertschöpfung heute nicht mehr viel mit den überkommenen Vorstellungen einer industriellen Güterproduktion gemein haben. Viele Unternehmen, die statistisch dem produzierenden Sektor zugerechnet werden, gleichen in ihren Prozessen und Geschäftsmodellen modernen Dienstleistungsbetrieben. Und viele Leistungen, die zum Dienstleistungssektor zählen, werden inzwischen im industriellen Stil erbracht.

Offensichtlich haben sich Wertschöpfungsarchitekturen in den vergangenen Jahren schneller verändert als das begriffliche Instrumentarium, welches uns zur Beschreibung derselben zur Verfügung steht. Um diese Entwicklungen besser zu verstehen, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, welche Treiber für die Veränderung von Wertschöpfungsprozessen verantwortlich sind. Zwei solcher Innovationstreiber stechen besonders hervor:

INNOVATIONSTREIBER IUK-TECHNOLOGIE_ Erstens lässt sich in allen wirtschaftlichen Bereichen eine Durchdringung mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technologie) beobachten. Die Bedeutung von IuK-Technologie kann schwerlich überschätzt werden, und es wäre eine Fehlannahme, zu glauben, die digitale Kommunikation sei die Fortsetzung der schriftlichen Kommunikation mit anderen Mitteln. Sie bringt epochale Veränderungen mit sich – vergleichbar allenfalls mit der Erfindung der Schrift oder des Buchdruckes. In Bezug auf die unternehmerische Wertschöpfung besteht die wichtigste Auswirkung darin, dass durch den Einsatz von IuK die zeitliche und die räumliche Differenz zwischen der Erstellung und der Inanspruchnahme einer Leistung aufgehoben wird. Ich kann heute 24 Stunden am Tag meine Bankgeschäfte erledigen. Darüber hinaus ermöglicht IuK, dass Informationen sofort und massenhaft verarbeitet werden können. Damit können in vielen Dienstleistungsbranchen Prozesse industriell organisiert werden.

Zugleich gelten aber durch den Zusammenfall von Produktion und Konsumtion in der Güterproduktion verstärkt Bedingungen, wie man sie bislang nur aus dem Dienstleistungsgewerbe kannte, weil der zeitliche und räumliche „Puffer“ zwischen dem Kunden und der Fabrik entfällt. So kann eine elektronische Kundenbestellung heute alle für die Produktion erforderlichen Logistik- und Fertigungsprozesse unmittelbar auslösen. Dies zwingt Unternehmen, Produktionsprozesse viel stärker zu flexibilisieren.

INNOVATIONSTREIBER: INTEGRATION DES KUNDEN_ Ein zweiter treibender Faktor für neue Wertschöpfungsformen liegt in der systematischen Integration des Kunden in den Prozess der Leistungserstellung. Unterstützt und ermöglicht wird dies durch neue Informationstechnologien. Den Kunden und Kundinnen kommt dabei eine neue Rolle zu. Sie sind nicht mehr allein passive Empfänger von Leistungen, sondern erbringen eigene Wertschöpfungsbeiträge: Sie sind es, die Daten und Informationen bereitstellen, sei es, dass sie beim Online-Banking Arbeiten übernehmen, sei es, dass sie Produkte im Internet konfigurieren, spezifizieren und bewerten. Kunden tun dies, weil sie sich davon einen kundenspezifischen Mehrwert versprechen. Dies kann eine höhere Flexibilität oder eine besser zugeschnittene Leistung sein. Es können aber auch Motive wie Anerkennung und Aufmerksamkeit sein, die Kunden bewegen, sich aktiv in Wertschöpfungsprozesse einzubringen.

Vor dem Hintergrund dieser Innovationstreiber lassen sich vier Mega-Trends einer neuen Dienstleistungsökonomie skizzieren. Diese Trends müssen heute von Unternehmen und Beschäftigten in ihren Wirkmechanismen erkannt werden. Dies auch deshalb, damit auf Basis dieses Wissens attraktive und zukunftsfähige Organisations- und Arbeitsformen entwickelt werden können.

MEGA-TREND AUTOMATISIERUNG_ Weite Teile der Wirtschaft stehen vor einem Automatisierungsschub, der zunehmend auch Dienstleistungsbranchen erfasst, die sich heute noch automatisierungsresistent wähnen. Versicherungen etwa gehen dazu über, Schadensfälle vollständig automatisch abzuwickeln. Die Daten werden automatisch eingelesen und auf Basis von Algorithmen verarbeitet. Sachbearbeitungsfunktionen werden nur noch bei komplexeren Schadensfällen oder unklaren Entscheidungen benötigt. Ähnliche Entwicklungen sind in der Logistik, im Handel oder in der Überwachung von Anlagen zu beobachten, wo Maschinen immer häufiger mit Maschinen kommunizieren. Selbst in der Gesundheitswirtschaft ist damit zu rechnen, dass bestimmte Prozesse bald automatisiert abgewickelt werden. Schon heute ist es technisch möglich, dass Computertomografen selbstständig medizinische Diagnosen vornehmen. Die Frage ist nur, wie lange sich Patienten und Ärzte diesen Entwicklungen widersetzen können.

MEGA-TREND HYBRIDISIERUNG_ Wer zu der Firma Jungheinrich nach Hamburg kommt, glaubt, bei einem Hersteller von Flurförderzeugen zu sein. Tatsächlich zählt Jungheinrich zu den führenden Herstellern von Gabelstablern, aber im Gespräch mit dem Management erfährt man, dass sich das Unternehmen eher als Dienstleistungsbetrieb mit angeschlossener Produktion versteht und dass mehr als die Hälfte des Umsatzes mit Dienstleistungen erzielt wird. Dabei fungieren die Produkte von Jungheinrich als Plattformen, auf denen Mehrwert stiftende Services aufsetzen. Diese reichen von der computergestützten Fehlerdiagnose bis zur Optimierung von Lager- und Logistikprozessen bei Kunden. Hybridisierung bedeutet, dass Produkte und Dienstleistungen so stark miteinander verzahnt werden, dass der maximale Mehrwert erst durch die gleichzeitige Inanspruchnahme von Produkt- und Dienstleistungselementen entsteht. Es sind jedoch nicht nur produzierende Unternehmen, die ihre Produkte mit Dienstleistungen anreichern. Auch Dienstleister gehen dazu über, Leistungen mit Produkten zu verknüpfen. So hat das Unternehmensberatungsunternehmen Accenture in den letzten Jahren massiv in den Aufbau von Produktkompetenz investiert (vor allem Softwareprodukte), um hybride Wertschöpfungskonzepte realisieren zu können.

MEGA-TREND PERSONALISIERUNG_ Eine stärkere Einbeziehung des Kunden in den Wertschöpfungsprozess und eine kontinuierliche Echtzeit-Interaktion mit Kunden eröffnet neue Möglichkeiten für die kundenspezifische Anpassung der Leistung. Im Anlagenbau kann dies bedeuten, dass der Kunde maßgeschneiderte Informationen vom Anlagenbauer über die tatsächliche Nutzung seiner Produktionsanlage bekommt. Auf Basis dieser Informationen kann die Auslastung oder der Energieverbrauch der Anlagen optimiert werden. Damit dies möglich wird, muss der Anlagenhersteller eine Menge an Informationen über seine Kunden und deren Produktionsprozesse haben. Wie sehen die vor- und nachgelagerten Produktionsprozesse beim Kunden aus? Welche Teile fertigt der Kunde mit der Maschine? Und wie ist es um die Qualifikation des Bedienpersonals beim Kunden bestellt? Solche Fragen, die bis vor Kurzem keinen Anlagenbauer interessierten, gilt es nun zu beantworten. Der Trend zur Individualisierung und Personalisierung von Leistungen berührt praktisch alle Bereiche. Auch in der Altenpflege werden Versorgungsprozesse künftig individueller und damit effektiver zugeschnitten, was freilich voraussetzt, dass die Informationsbestände der Akteure (Patienten, Angehörige, Ärzte, Pflegende etc.) besser vernetzt werden.

MEGA-TREND VIRTUALISIERUNG_ Ein weiterer Trend einer neuen Dienstleistungsökonomie ist in der Virtualisierung von Leistungen zu sehen, was meist mit völlig neuen Geschäftsmodellen verbunden ist. Die klassische Rollenverteilung von Kunden und Anbietern wird dabei aufgebrochen, weil Abnehmer gleichzeitig Ersteller von Leistungen werden. Kunden arbeiten für Kunden und Mitarbeiter für Mitarbeiter, um es überspitzt zu formulieren. Die Funktionsweise der Internet-Enzyklopädie Wikipedia ist dafür nach wie vor ein gutes Beispiel, und Wikipedia ist inzwischen überall: So prüfen Maschinenbauunternehmen, wie die Qualifikation ihrer Servicetechniker mithilfe von Unternehmens-Wikis und Web-2.0-Applikationen verbessert werden kann. Hersteller von Serienprodukten arbeiten an Plattformen, um Kundenanfragen durch andere Kunden beantworten zu lassen. Und das viel diskutierte Thema „Cloud Computing“ (die gemeinsame Nutzung von extern gelagerten Netz-Kapazitäten in einer virtuellen„Wolke“) könnte der Virtualisierung von Geschäftsmodellen weiteren Vorschub leisten, weil ganze IT-Infrastrukturen in den virtuellen Raum wandern.

VERÄNDERTE QUALIFIKATIONSPROFILE_ Egal, ob man diese Trends begrüßt oder kritisiert, sie beeinflussen schon heute Geschäftsmodelle, Organisationsformen und die Organisation von Erwerbsarbeit. Die Auswirkungen auf die Beschäftigten sind also schon da, und es spricht viel dafür, dass der damit verbundene Anpassungsdruck weiter steigt. Eine der gravierendsten Auswirkungen liegt dabei in einer Veränderung von Qualifikationsprofilen der Beschäftigten. Denn in dem Maße, wie bislang gültige Geschäftsmodelle und Wertschöpfungskonzepte an Stabilität verlieren, wird es für Unternehmen wichtiger, die Nähe zu Kunden und Kooperationspartnern zu suchen. Weil bei zunehmender Unsicherheit nur noch das Wissen über unmittelbare Kundenbedürfnisse ein gewisses Maß an Sicherheit verspricht.

In allen Branchen lässt sich folglich beobachten, dass Unternehmen intensiver auf der Suche nach Beschäftigten sind, die neben dem fachlichen Wissen erweiterte Kompetenzen mitbringen: So sollen Mitarbeiter selbstständig in Kundenprozessen denken, sie sollen mit einem hohen Maß an Unsicherheit und Komplexität umgehen können, und sie sollen in der Lage sein, kundenbezogene Lösungen selbst gegen interne Widerstände in der eigenen Organisation durchzusetzen. Diese Kompetenzen sind längst nicht mehr auf den Bereich hoch qualifizierter Wissensarbeiter beschränkt. Auch im Einzelhandel, in der Altenpflege oder im technischen Service müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine wachsende Komplexität von Aufgaben und Anforderungen bewältigen. Verschärft wird die Situation dann, wenn die Organisations- und Arbeitsstrukturen einer überkommenen Industriegesellschaft – in denen die meisten noch immer arbeiten – mit den Wertschöpfungsarchitekturen und Geschäftsmodellen einer neuen Dienstleistungsökonomie konfrontiert werden.

Die schlechte Nachricht ist: Diese Qualifikationsherausforderungen werden in der aktuellen Debatte über den Fachkräftemangel allenfalls am Rande diskutiert. Meist wird pauschal der Mangel an Ingenieuren, Technikern oder Pflegekräften beklagt. Unternehmen stellen aber keine Bildungszertifikate ein, sondern suchen Menschen, die mit Menschen kommunizieren, die Kundenprobleme analysieren und die in Lösungen denken und diese umsetzen können. Die gute Nachricht ist: Innovative Organisations- und Arbeitsformen werden sich mittelfristig durchsetzen. Diese werden den Beschäftigten deutlich mehr Freiheitsgrade bei der Organisation und Bearbeitung ihrer Aufgaben gewähren. Im Zentrum der neuen Arbeitsformen wird die Kommunikation und die Interaktion mit Kollegen, Kundinnen und Netzwerkpartnern stehen. Der Managementtheoretiker Dirk Baecker hat einmal postuliert, dass Arbeit künftig bedeutet, zu kommunizieren statt zu produzieren. Aber Arbeit wird deshalb nicht weniger anstrengend sein.

MEGA-TRENDS DER DIENSTLEISTUNGSÖKONOMIE

INTEGRATION VON KUNDEN - DIFFUSION VON IUK-TECHNOLOGIE 


AUTOMATISIERUNG
Weite Teile der Wirtschaft
stehen vor einem Automatisierungsschub – davon werden auch zunehmend Dienstleistungsbranchen erfasst.

HYBRIDISIERUNG Produkte dienen als Platt-
formen für Mehrwert stiftende Services.
So kümmert sich ein Gabelstaplerproduzent
auch um die Lagerhaltung des Kunden.

VIRTUALISIERUNG Neue Geschäftsmodelle
entstehen durch die Nutzung des Internets,
etwa mithilfe von Unternehmens-Wikis. Damit können sich Mitarbeiter untereinander beraten.

PERSONALISIERUNG Der Kunde wird in die Wertschöpfung einbezogen. Mit diesem Wissen kann ein Anlagenbauer sein Produkt maßschneidern und Kundennutzen optimieren.

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