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Arbeitszeit-Debatte: Es geht um unsere Lebenszeit

Wie wollen wir wirtschaften, arbeiten und leben? Um diese Frage geht es bei der Arbeitszeit-Debatte. Das ist eine Verteilungs- und Machtfrage – wie es die gesamte Debatte um „Transformation“ sein sollte, schreibt HSI-Direktorin Johanna Wenckebach.

[10.07.2023]

Von Johanna Wenckebach

Wir führen eine intensive Debatte um Arbeitszeit. Es geht um Tarifverträge, um den richtigen rechtlichen Rahmen – zum Beispiel für die Arbeitszeiterfassung, um Mitbestimmungsrechte, um die Viertagewoche. Als eine Wissenschaftlerin, die schon seit vielen Jahren dazu forscht, wie wenig heute geläufige Arbeitszeitmuster oft zum Leben der Menschen passen, wie wenig sie Übergängen im Lebenslauf Rechnung tragen und unterschiedliche Herausforderungen eines Lebens abbilden – Kinder, Pflege, Krankheit, Krisen, Veränderungswünsche, Bildungsbedarfe – freut mich diese Debatte sehr.

Schon 2012 haben wir im Forschungsprojekt „Soziales Recht der Arbeit“ der Hans-Böckler-Stiftung untersucht, welche arbeits- und sozialrechtlichen Maßnahmen ergriffen werden müssten, damit Arbeit besser zum Leben passt. Die Norm der langen Vollzeit führt nachweisbar zu Diskriminierung und schließt Menschen von Erwerbsarbeit aus. So gehen uns Fachkräfte verloren und zugleich brennen andere aus. Einiges hat sich seitdem weiterentwickelt, zum Beispiel wurde das Recht auf Brückenteilzeit geschaffen und Pflegezeit besser ermöglicht. Aber viele bereits seit langem identifizierte Handlungsbedarfe, etwa die Gender Gaps bei Sorgearbeit und Arbeitszeit, bleiben bestehen. Manches hat sich sogar zugespitzt, wie die Verdichtung von Arbeit durch Digitalisierung oder der Handlungsbedarf angesichts der sozial-ökologischen Transformation.

Gerade der Klimawandel macht es so drängend zu fragen: Wie wollen wir wirtschaften, arbeiten und leben? Und genau um diese Frage geht es bei der Debatte um Arbeitszeit. Das ist eine Verteilungs-, eine Machtfrage – wie es die gesamte Debatte um „Transformation“ sein sollte. Dementsprechend geht es keinesfalls allen, die sich zum Teil polemisch an der Debatte beteiligen, etwa, wenn Menschen in Teilzeit der „Bock auf Arbeit“ abgesprochen oder jüngeren Generationen Faulheit unterstellt wird, auch um die Lebenszeit und um die Qualität des Lebens Erwerbstätiger. Selbst das, was als Vorschläge zur Viertagewoche Entlastung oder neue Zeitautonomie verheißen mag, ist oftmals eine unter attraktiver Überschrift verpackte Entgrenzung: Vier Zehnstundentage sind weder innovativ noch inklusiv.

Aber ernst genommen werden sollte der in einer Befragung des WSI dokumentierte Wunsch einer großen Mehrheit der Erwerbstätigen, spürbar mehr Lebenszeit für sich, für ihre Familien, für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement zu haben und zwar (Achtung, wichtige Verteilungsfrage!) ohne Lohnverluste. Denn der Klimawandel und durch ihn verursachte Katastrophen, der zum Klimaschutz so dringend notwendig gewordene Umbau der Wirtschaft oder etwa der missbräuchliche Einsatz von Digitalisierung: all das schafft Verunsicherung und Ängste. Wer die erwerbstätigen Menschen – und zwar gerade die, die sich bisher wenig ernst genommen fühlen – nicht in die Arme derer treiben will, die Hass auf Minderheiten und Nationalismus als Scheinlösung für Herausforderungen der Transformation oder als Überdruckventil für Sorgen und Ängste verkaufen, muss hier zuhören. Und ein positives Bild von der Zukunft der Arbeit zeichnen, einschließlich der Wege dorthin. Genau dazu kann die Debatte um Arbeitszeit dienen. Lasst uns darüber reden, was gute Lebenszeit ausmacht – für alle!

Prof. Dr. Johanna Wenckebach ist die Wissenschaftliche Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung.

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