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Seba Nazary Magazin Mitbestimmung

Aufgestiegen: Gegen alle Widerstände

Ausgabe 04/2022

Wem die akademische Laufbahn nicht in die Wiege gelegt wurde, der braucht finanzielle und ideelle Unterstützung. Seba Nazary und Marco Kammholz bekommen beides dank eines Stipendiums der Hans-Böckler-Stiftung.

Seba Nazary, Studentin aus Berlin
Vor ein einigen Jahren unterrichtete Seba Nazary für ein paar Stunden an einer Mädchenschule in Afghanistan. Nach dem Unterricht kam eines der Kinder zu ihr und sagte, sie wolle so werden wie Seba. Sie wolle einen Beruf lernen, unabhängig sein und Mädchen unterrichten, damit auch sie frei leben können. Die Mädchenschule gibt es nicht mehr. Seit über einem Jahr können junge Afghaninnen nicht mehr zum Unterricht gehen. Seba Nazary sagt, sie empfand Schuldgefühle, als sie die Bilder vieler verzweifelter Menschen in Kabul sah. Ihre Gedanken damals: „Ich bin in Deutschland und kann die Uni besuchen, und dort hängen sich Menschen an ein Flugzeug.“

Bildung war für die 24-Jährige, die in Berlin geboren wurde, nie selbstverständlich. „Ich habe es immer als ein Privileg empfunden, die Schule besuchen zu dürfen“, sagt die Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung. Ihre Eltern flüchteten in den 1980er Jahren aus Afghanistan zunächst in den Iran, später nach Deutschland. Ihre Mutter, die nie eine Schule besucht, nie lesen und schreiben gelernt hat, wollte ihren Kindern mehr bieten. Seba Nazarys ältere Geschwister haben ihr Studium bereits erfolgreich beendet. Sie, die Jüngste, hat gerade ihren Bachelor in Wirtschaftsingenieurwesen bestanden und in einem viermonatigen Kurs Data Science und KI gelernt. „Ohne das Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung könnte ich nicht studieren, und ohne die Unterstützung meiner Familie hätte ich es nicht so weit geschafft“, sagt Seba Nazary.

Denn ihr Geburtsland machte es ihr, dem Kind geflüchteter Eltern, nicht immer leicht. Während ihrer Schulzeit hörte sie immer wieder, was sie alles nicht schaffen werde: Das Gymnasium? Nichts für dich! Abitur? Das schaffst du nicht! Als Frau ein technisches Fach studieren? Vergiss es! Als sie noch jünger war, verunsicherten sie solche Worte, und sie traute sich in der Schule nicht, sich zu melden. „Wer weiß“, dachte die kleine Seba, „vielleicht haben die Lehrer ja recht.“ Doch als sie älter wurde, dachte sie: „Ich zeige euch, dass ich es kann.“ Abi­tur, Bachelor, das hat sie geschafft, als Nächstes will sie ihren Master in Wirtschaftsingenieurwesen machen.

„Ich möchte etwas zurückgeben“

Die gebürtige Berlinerin sieht sich selbst als Deutsche und als Afghanin, schließlich hat sie auch in Afghanistan Familie und Wurzeln. Ihr Vorbild ist und bleibt ihre Mutter. „Sie hat sich ohne Sprachkenntnisse in einem fremden Land durchgeboxt, damit wir lernen können“, sagt Seba Nazary. „Sie hat oft mehrere Jobs gehabt, um uns Bücher für die Schule zu kaufen oder eine Klassenfahrt zu bezahlen.“ Die Studentin möchte ihrer Mutter, die sich mit einer Schneiderei selbstständig gemacht hat, etwas zurückgeben. Sie möchte das Leben leben, das sich ihre Mutter immer gewünscht hat: unabhängig und gut ausgebildet.

  • Marco Kammholz

Marco Kammholz, Student aus Köln
Idylle kann erdrücken, vor allem Menschen, die aus dem Rahmen fallen. Marco Kammholz wuchs in einem kleinen Dorf am Fuße der Schwäbischen Alb auf, das sich zwischen Wiesen und Hügel schmiegt. Wie aus dem Märchen thront die Burg Hohenzollern auf einem Berg über dem Örtchen –  eine scheinbar heile Welt. Doch für Marco Kammholz, Student und Böckler-Stipendiat, war es „ein tiefschwarzes, strukturkonservatives Kaff in einer Region mit aktiver Naziszene“.

Mit 17 Jahren brach Marco Kammholz die Schule ab, verließ seinen Heimatort und ging nach Tübingen. „Als Kind war ich sehr brav“, erinnert er sich, „aber mit der Pubertät wurde ich wild.“ Er gehörte der linken Punkszene im Dorf an und verheimlichte jahrelang sein eigenes Coming-out. Es gab niemanden, mit dem er darüber hätte reden können. Er fürchtete sich vor dem blanken Entsetzen seines Vaters. Irgendwann wollte er nur noch weg – weg aus dem Dorf, weg von der Familie: „Ich konnte diese Verlogenheit nicht mehr ertragen.“

Beinahe distanziert erzählt er heute, 16 Jahre später, von seinem Heimatort. Der 33-Jährige lebt inzwischen in Köln, in einem ehemals besetzten Haus, das die früheren Hausbesetzer demnächst in Eigenregie übernehmen wollen. An der Bergischen Universität Wuppertal studiert er Bildungstheorie und Gesellschaftsanalyse im Master. Dabei unterstützt ihn die Hans-Böckler-Stiftung. „Das Stipendium erleichtert mir das Studium sehr“, sagt Marco Kammholz, „nicht nur finanziell.“

Als Kind von Nichtakademikern fühlte er sich an der Uni zunächst fremd, war mit den Arbeitsweisen nicht vertraut und manchmal auch genervt von Kommilitonen, die sich dort wie ein Fisch im Wasser bewegen. Und immer spukte die Frage in seinem Kopf: „Schaffe ich das?“ In den Seminaren der Stiftung lernte er Menschen mit ähnlichen Erfahrungen kennen. In diesem Sommer finanziert die Stiftung ihm einen akademischen Sprachkurs. Dort kann er nachholen, was Studierende mit Abitur ihm voraushaben.

Eine große Wahl hatte er bei seinem Studienfach nicht. Ohne Abitur konnte er nur ein Fach entsprechend seinem Beruf als Jugend- und Heimerzieher belegen. Nachdem er von zu Hause weggegangen war, hatte er in Tübingen eine Ausbildung gemacht in einer Einrichtung für Jugendliche, die nicht mehr zu Hause leben können. Als gerade 18-Jähriger fühlte er sich den jungen Menschen sehr nahe. Mit der Ausbildung verbesserte sich auch sein Verhältnis zur Familie. Einen Beruf lernen, damit konnte sein Vater, der selbst Krankenpfleger ist, etwas anfangen. „Arbeit ist in meiner Familie sehr wichtig“, sagt Marco Kammholz. „Das hat mich geprägt.“

Zu Hause waren alle in der Gewerkschaft

Als er 2013 nach Köln kam, bildete er sich neben seiner Arbeit in der ambulanten Jugendhilfe erst zum Sexualpädagogen und dann zum Sexualberater weiter. Auch seine Haltung zu Gewerkschaft hat er von zu Hause mitgenommen. Sein Vater, seine Mutter, alle waren in der Gewerkschaft, so war es auch für ihn keine Frage, mit dem ersten Tag seiner Ausbildung einzutreten. Er engagierte sich bei Aktionen wie Blockupy oder Dresden Nazifrei  – oft gemeinsam mit Gewerkschaften.

Nach dem Studium will er promovieren. Auch wenn sein Weg zur Uni nicht gerade verlief, bereut er es nicht: „Ich würde meinen Bildungsweg heute nicht anders gehen wollen.“

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