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Anja Ludwig in der Bundesgeschäftsstelle der AWO in Berlin: Ihre wissenschaftlich- konzeptionelle Arbeit und ihre praktischen Erfahrungen gehen Hand in Hand. Stipendien

Altstipendiatin: Die Altenpflegerin

Ausgabe 12/2013

Menschen an ihrem Lebensende zu begleiten ist für Anja Ludwig ein Traumberuf. Als Bereichsleiterin der AWO kämpft sie darum, ihn attraktiver zu machen.

Von Susanne Kailitz

Irgendwann an jenem Nachmittag musste Anja Ludwig die sterbende Frau alleinlassen. Sie hätte ihr in den letzten Momenten gerne die Hand gehalten. Doch das ging nicht. Weil es da noch andere gab, um die Anja Ludwig sich kümmern musste. Weil sie sonst mehr als 20 alte, unter ihnen viele demenzkranke Menschen hätte alleinlassen müssen. Als Altenpflegerin in einem Heim, die an jenem Tag allein Dienst im Wohnbereich hatte, erlebte sie damals, wie hart das sein kann: Pflegenotstand. Viele hätten danach hingeschmissen. Anja Ludwig nicht.

Gute 20 Jahre sind seit jenem Tag im Pflegeheim vergangen, und noch immer kämpft die 43-jährige Berlinerin beharrlich für ihren Wunschberuf – mittlerweile als Leiterin des Bereichs „Gesundheit/Alter/Behinderung“ in der Bundesgeschäftsstelle der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Alte Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleiten, für sie da zu sein, wenn Körper und Geist mehr und mehr die Dienste versagen, und ihnen dabei das größtmögliche Maß an Selbstbestimmung zu bewahren, das hält Ludwig für einen der wichtigsten Berufe, die es gibt.

Dass sich die Bedingungen für diejenigen, die ihn ausüben, in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert haben, ist für sie ein Skandal. Ludwig war hautnah dabei, als die schwarz-gelbe Regierung unter Helmut Kohl Mitte der 90er Jahre die Pflegeversicherung einführte. Als Altenpflegerin erlebte sie, „wie auf einmal Marktlogik und Minutentakt einzogen und Pflege rationiert und rationalisiert wurde“. Sie sah, wie Kolleginnen immer unzufriedener damit wurden, dass sie dem eigenen Ideal nicht mehr gerecht werden und mit der „täglichen Enttäuschung“ nicht umgehen konnten. Auch sie selbst war frustriert, „weil ich das Gefühl hatte, permanent gegen Wände zu laufen“. Nur ausführen zu müssen, was andere ihr vorgaben, wurde irgendwann unerträglich.

Dennoch musste Ludwig überlegen, als ihre Pflegedienstleiterin ihr vorschlug, Pflegewissenschaften zu studieren. „Mir ging es nie um Karriere, sondern darum, Dinge verändern zu können. Aber mit Wissenschaft hatte ich mich nie befasst, das war nichts, was ich für mich in Betracht gezogen hatte.“ In der DDR hatte Ludwig eine Ausbildung zur Friseurin gemacht und war als 19-Jährige über Ungarn ausgereist. Nach einem Praktikum in der Altenpflege habe sie – selbst in einem Vier-Generationen-Haushalt großgeworden – plötzlich gewusst: „Das ist mein Beruf.“ In Westdeutschland entschied sie sich für eine zweite Ausbildung – zur Altenpflegerin.

Doch auch die Wissenschaft war etwas für die gebürtige Thüringerin: Nach dem Studium an der Privatuni in Witten/Herdecke bot man ihr eine Stelle in einem Promotionskolleg an. An der Universität Bremen legte sie im März 2008 eine Dissertation mit dem Titel „Der Einfluss sozialer Faktoren auf den Umgang mit komplexen Medikamentenregimen“ vor. Darin beschreibt sie, wie schwer es für alte, kranke Frauen ist, mit ihren Arzneimitteln umzugehen, und wie sehr sie dabei alleingelassen werden. Ihre Arbeit schrieb sie mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung. Das lag nahe aufgrund der gewerkschaftlichen Zugehörigkeit und ihres sozialpolitischen Engagements, sagt sie, weil sie „natürlich“ immer schon Gewerkschaftsmitglied gewesen sei. „Damals gehörte es am ersten Tag der Ausbildung dazu, den Aufnahmeantrag auszufüllen.“

Für viele sei das Thema Pflege einfach angstbesetzt und so gar nicht en vogue, sagt Ludwig, es sei zu sehr mit Leid, Schmerz und Tod verbunden. „Wer in diesem Bereich arbeitet, ist täglich mit dem konfrontiert, was die meisten Menschen gern ausblenden, solange sie es nicht selbst betrifft.“ Inzwischen kämpft Ludwig für ihre Vorstellung von menschlicher, guter Pflege in der Politik. Nach vier Jahren als pflegepolitische Referentin der Bundestagsfraktion der Grünen arbeitet sie jetzt für die Arbeiterwohlfahrt. Im Bundestag habe sie eine „hohe Frustrationstoleranz“ gebraucht. Jetzt, bei der AWO, hat Ludwig stärker das Gefühl, die Dinge in die richtige Richtung bewegen zu können.

Derzeit ärgern sie vor allem Reformpläne des Gesundheitsministeriums, alle Pflegeberufe zu einem einzigen Berufsbild in nur drei Jahren zusammenzuführen, was ihrer Ansicht nach zu „einer unglaublichen Deprofessionalisierung“ führt. Da hält sie in einem Positionspapier der AWO dagegen, plädiert für eine Weiterentwicklung der Altenpflegeausbildung. Sie beschreibt, wie der Beruf attraktiver gemacht werden könnte, wenn man eine Altenpflege im Sinne der pflegebedürftigen Menschen gestalten würde. Bei der konzeptionellen Arbeit komme es ihr immer wieder zugute, dass sie wirklich wisse, worüber sie rede, sagt Ludwig. Die praktischen Erfahrungen seien unverzichtbar.

Dass die alte Frau damals ohne einen Menschen an ihrer Seite sterben musste, kann sie nicht rückgängig machen. Aber sie kämpft dafür, dass solche Fälle die Ausnahme bleiben.

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