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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Es geht wirklich um tief greifende Fragen"

Ausgabe 09/2015

Das geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA ist zum politischen Dauerbrenner geworden. Im Zentrum der Auseinandersetzung agiert der Sozialdemokrat und EU-Abgeordnete Bernd Lange.

Die Fragen stellten Margarete Hasel und Stefan Scheytt.


Herr Lange, täglich gehen Waren und Dienstleistungen im Wert von zwei Milliarden Dollar zwischen den USA und Europa hin und her. Gibt es dennoch ein US-Produkt, das Sie schon lange mal kaufen wollten, aber nicht bekamen, weil es noch kein Freihandelsabkommen gibt?

Nein, da fällt mir keines ein, und das ist auch nicht das Hauptmotiv für ein solches Abkommen.

TTIP-Befürworter argumentieren aber genau damit: Durch den freieren Handel würde die Produktvielfalt zum Vorteil des Konsumenten steigen.

Damit ist nicht in einem großen Umfang zu rechnen.

Ein anderes Pro-Argument lautet, TTIP bringe Wachstum und Jobs. Was halten Sie davon?

Auch nichts. Ich vertraue keinen Studien, die auf den Euro genau voraussagen, mit welchen Wohlfahrtsgewinnen jeder Privathaushalt durch TTIP rechnen kann und wie viele Jobs entstehen. Handelsverträge wirken langfristig.

Sie erwarten keinen Boom?

Nein. Das ist Ideologie. Wenn man wirklich Jobs in Europa schaffen will, muss man eine andere makroökonomische Politik machen, da helfen keine Handelsverträge.

Noch ein Argument der Befürworter: Durch einheitliche Standards – Beispiel gleiche Farben für Auto-Rückblinker – würden Kosten gespart und so die Preise gedrückt.

Auch das ist Quatsch. Autos laufen in so vielen Modellen und Ausstattungsvarianten vom Band, kaum eines gleicht dem anderen. Aber für Klein- und Mittelbetriebe gibt es unnötige technische und bürokratische Barrieren und doppelte Zertifizierunganforderungen.

Was bleibt denn dann noch übrig pro TTIP?

Zunehmend ist die internationale Wirtschaft geprägt von globalen Wertschöpfungsketten, daran hängen 25 Prozent der Arbeitsplätze, und Produkte sind zunehmend „made in the world“. Mit TTIP hätten wir die Chance, faire Regeln und hohe Standards für die globalisierten Wertschöpfungsketten festzulegen. Das wäre ein Handelsabkommen neuer Art. Wir Sozialdemokraten würden das natürlich am liebsten global machen, im Rahmen der WTO. Bilaterale Verträge bergen, auch wenn sie WTO-konform sind, nun mal die Gefahr, dass sie die Interessen anderer Länder unterlaufen. Aber eine neue Doha-Runde ist zurzeit leider nicht in Sicht.

Bei Freihandel denkt jeder an unsinnige Zölle, mit denen sich Länder vor lästigem Wettbewerb schützen. Zölle gibt es aber kaum noch zwischen den USA und der EU.

Die sind in der Tat im Durchschnitt sehr gering, von einigen Ausreißern wie beim VW-Bus abgesehen. Das ist eindeutig Marktabschottung. Darüber sollte man verhandeln, aber insgesamt kann TTIP da nicht mehr viel bringen.

Worum geht es dann?

Im ersten Verhandlungskorb liegen die Zölle, bei denen, wie gesagt, nicht mehr viel zu holen ist, sowie der Marktzugang. Da geht es vor allem um die öffentliche Beschaffung. In Europa sind bei Ausschreibungen bestimmte Sozialstandards einzuhalten, und wenn sich US-Unternehmen daran halten, können sie gerne mitbieten. In den USA verhindert dagegen der Buy-American-Act den Zugang für europäische Anbieter. Darüber sollte man also reden.

Der zweite Korb ist schon schwieriger.

So ist es. Im zweiten Korb geht es um die gegenseitige Anerkennung bestehender Standards – also um unterschiedliche Zertifizierungsanforderungen für Maschinen und Fabriken, um Crashtests, um technische Vorschriften für Schiffsrümpfe, Textilien, Druckluftpumpen, Medizinprodukte und vieles mehr. Es gibt da sicher vernünftige Lösungen für manche Produktbereiche, aber man muss sehr ins Detail gehen. Die Idee, man könne so ein Abkommen mal hopplahopp bis Ende 2015 verhandeln, wie es die Bundeskanzlerin behauptet, ist deshalb völlig illusorisch.

Auf manchen Feldern scheinen die Standards sehr weit auseinanderzuliegen. Welche sind das?

Das Musterbeispiel ist die gute europäische Chemikalienverordnung REACH von 2007, die dem Vorsorgeprinzip folgt. In Europa sind vor jeder Markteinführung umfangreiche Tests und Zulassungsverfahren vorgeschrieben, Chemikalien können sogar eingeschränkt und ganz verboten werden. Die Gesetze in den USA dagegen sind von 1976 und gleichen mehr einem großen Feldtest: Erlaubt ist fast alles, dafür drohen den Unternehmen im schlimmsten Fall hohe Schadenersatzklagen von Geschädigten. Am Anfang dachten manche Unternehmen – übrigens auf beiden Seiten des Atlantiks –, man könne die strengeren europäischen Standards durch TTIP wieder abschwächen. Aber eine gegenseitige Anerkennung ist bei so unterschiedlichen Ansätzen völlig undenkbar. Da kommen wir einfach nicht zusammen, und das muss auch nicht sein: Chemikalien wären dann eben kein Bestandteil von TTIP, jede Seite würde bei ihrem Regelwerk bleiben. Auch andere Standards wie Höchstgrenzen von Pestiziden in Blumen oder von Weichmachern in Babyspielzeug lassen sich vernünftigerweise nicht verhandeln. Da schmilzt der Korb deutlich zusammen, und das muss man auch klar benennen.

Benennen Sie auch klar, dass die Arbeitnehmerrechte in den USA und der EU – vor allem jene in Deutschland – nicht vereinbar sind?

Absolut. Arbeitnehmerrechte sind für mich – neben der Schiedsgerichtsbarkeit – der Knackpunkt bei TTIP, weil sie eine hohe Relevanz für den Alltag von Millionen Menschen haben. Da stehen Unternehmen im Wettbewerb, die in Europa oft tariflich verabredete Löhne und Beteiligungsrechte haben, und auf der anderen Seite Firmen, vor allem im Süden der USA, wo Gewerkschaften durch die sogenannten Right-to-Work-Gesetze völlig ausgehebelt werden. Wettbewerb muss aber über Qualität ausgetragen werden, nicht über Sozialdumping.

Die USA haben – als einziges Land weltweit neben dem Sultanat Brunei – nur zwei der acht ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert. Glauben Sie im Ernst, die USA werden das jetzt wegen TTIP nachholen?

Schauen wir mal. Es gibt ein bisschen Bewegung auf der US-Seite, aber auch ich bin da sehr skeptisch. Die EU-Kommission hat jetzt ein Papier vorgelegt, das in seinen Erwartungen an die USA weit über die Formulierungen im ursprünglichen Verhandlungsmandat hinausgeht. Ich erwarte sehr intensive Auseinandersetzungen zu diesem Thema.

Die ILO-Kernnormen – für Sie eine „rote Linie“?

Na klar. Die Umsetzung der Arbeitnehmerrechte in den USA auf kollektive Aktivitäten und Organisationsformen muss kommen. Und wenn nicht, dann eben nicht – wir müssen die Möglichkeit des Scheiterns immer mitdenken. Im Europaparlament gibt es auf der linken und auf der ganz rechten Seite sehr viele, die prinzipiell gegen TTIP sind. Und links von der Mitte gibt es die Sozialdemokraten, ohne deren Zustimmung es kein Handelsabkommen geben kann.

Auch im dritten Verhandlungskorb liegen Themen mit einiger Sprengkraft. Wie ist da der Stand?

Dieser Korb betrifft die den Handel begleitenden Regeln. Dazu gehört zum einen die Frage, wie man – jenseits der möglichen gegenseitigen Anerkennung bestehender Standards – zukünftige Standards gemeinsam entwickeln will. Diese regulatorische Kooperation könnte zum Beispiel sinnvoll sein, wenn man bei der nächsten Anpassung der Abgasnormen für Autos nicht die jeweiligen EU- und US-Standards getrennt fortschreibt, sondern eben gemeinsam. Würden also etwa das Kraftfahrt-Bundesamt und das Umweltbundesamt mit ihren US-Kollegen gemeinsam für bessere Luftqualität sorgen, wäre das sicher zu begrüßen, auch als Signal für globale Standards. Was aber nicht sein kann: dass ein System etabliert wird, wo quasi diejenigen, die zu regulieren sind, mit am Tisch sitzen und ihre eigenen Regeln erarbeiten. Darüber muss selbstverständlich der Gesetzgeber entscheiden. In der Resolution des EU-Parlaments im Juli haben wir sehr deutlich gesagt, dass es kein Unterlaufen von Gesetzgebungsprozessen geben darf, auf keiner Ebene.

Bleiben als großes Streitthema die privaten Schiedsgerichte. Inzwischen hat Wirtschaftsminister Gabriel alternativ einen TTIP-Gerichtshof ins Spiel gebracht. Tragen Sie seine Idee mit?

Außergerichtliche private Schiedsstellen sind für mich in einem modernen Handelsabkommen zwischen zwei westlichen Partnern mit entwickelten nationalen Rechtssystemen völlig inakzeptabel. Ausländische Investoren würden mit besonderen Klagerechten ausgestattet, während inländische Firmen diese Gerichte eben nicht anrufen können. Was zwischen Investoren und den Ländern, in denen sie operieren, strittig ist, können die nationalen Gerichte klären. Nichtsdestotrotz gab es die Diskussion, ob es nicht zusätzlicher Instrumente bedarf, besonders im Hinblick auf das schon viel weiter fortgeschrittene Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, CETA. Deshalb haben wir mit sechs sozialdemokratischen Handelsministern sehr intensiv diskutiert und dieses Konzept eines Investitionsgerichtshofs entwickelt – mit der klaren Prämisse, dass das öffentliche Richter sein müssten in einem öffentlichen Verfahren und dass ausländische und inländische Investoren gleich behandelt werden müssen. Diese Position hat das EU-Parlament in seiner Resolution Anfang Juli übernommen. Das ist ein klares Signal an die EU-Kommission.

Beim ersten Anlauf zu dieser Resolution im Juni spielten sich tumultartige Szenen im EU-Parlament ab. Auf den Straßen gibt es Demonstrationen gegen TTIP und CETA, eine europäische Bürgerinitiative hat mehr als zwei Millionen Unterschriften gesammelt. Manche Kritiker sprechen von einer „Gefahr für die Demokratie“. Kommt Ihnen das manchmal hysterisch vor, wie Sigmar Gabriel das mal nannte?

Bei der Intransparenz muss man sich nicht wundern, wenn die Menschen nervös werden. Zumal im zweiten und dritten Verhandlungskorb Themen liegen, die völlig neu sind. Es geht eben nicht mehr nur um Zölle, sondern um wirklich tief greifende Fragen vom Datenschutz über die Daseinsfürsorge bis zu Umwelt- und Arbeitnehmerstandards. Handel beeinflusst die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen, und wir wollen, dass es ihnen dadurch besser geht und sie nicht entmündigt werden.

Kommt TTIP?

Es könnte noch dauern, bis das spruchreif wird. Wir haben im Juli mit der Resolution im Parlament eine europäische Position für Handelsverträge formuliert. Die EU-Kommission muss dieses Signal jetzt reflektieren. In der letzten Legislaturperiode haben wir einige Handelsabkommen angenommen und zwei abgelehnt – das mit Marokko, weil es die Interessen der Menschen in der West-Sahara nicht berücksichtigte, und das Acta-Abkommen zum internationalen Urheberrechtsschutz, weil es viele Webfehler hatte. Wenn die Kommission kein zweites Acta erleben will, muss sie die Forderungen des Parlaments berücksichtigen.

AUF EINEN BLICK

Was ist TTIP?
Über die Transatlantic Trade and Investment Partnership, kurz TTIP, zwischen der EU und den USA wird seit Juli 2013 verhandelt. Das Verhandlungsmandat erhielt die EU-Kommission vom Rat der EU-Handelsminister – für Deutschland ist das der Wirtschaftsminister. Jedoch erst im Herbst 2014, mehr als ein Jahr nach Verhandlungsbeginn und nachdem es „geleakt“ worden war, wurde das Mandat auf Druck der Öffentlichkeit ins Netz gestellt. Auf europäischer Seite werden die Verhandlungen von der Generaldirektion Handel geführt, deren Chefin Handelskommissarin Cecilia Malmström ist. Mehrere Dutzend Mitarbeiter der EU verhandeln mit den Vertretern des US-Handelsbeauftragten Michael Froman in mehr als 20 Arbeitsgruppen über Zölle und gegenseitigen Marktzugang, über Ursprungsregeln für Lebensmittel, Kosmetika, Medizinprodukte, Energie und Rohstoffe, Urheberrecht, Textilien, Fahrzeuge, Dienstleistungen und mehr. Verhandelt wird im Wechsel in Brüssel und den USA, im Juli 2015 fand die zehnte Runde statt.

Sollten sich EU und USA auf einen Vertragstext einigen, muss zunächst der Europäische Rat zustimmen, also die Regierungen der 28 EU-Länder. Danach wird der Vertrag dem Europaparlament vorgelegt, die Abgeordneten können ihn aber nur in Gänze gutheißen oder ablehnen. Noch offen ist, ob auch der Bundestag abstimmen wird. Wichtig zu wissen: Der Europäische Rat kann darüber befinden, ob einzelne Regelungen des Vertrags auch vor Abschluss des langwierigen Ratifizierungsverfahrens gelten.

Zur Person

Der Sozialdemokrat Bernd Lange, 59, ist seit Mitte 2014 Vorsitzender des Handelsausschusses des Europaparlaments, dem er von 1994 bis 2004 angehörte und erneut seit 2009 wieder als Abgeordneter aus Niedersachsen. Der Ausschuss ist auch zuständig für die „Festlegung, Durchführung und Überwachung“ der Handelspolitik der Union, damit auch für das geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA. Als einer, der seine Einkünfte im Internet offenlegt, hat ihn die Intransparenz der TTIP-Verhandlungen von Anfang an gestört. Für „völlig inakzeptabel“ hält er, dass nur 28 EU-Parlamentarier in extra Leseräumen Einblick in die wichtigsten Verhandlungsdokumente erhalten – und zuvor ihr Handy abgeben müssen. Der TTIP-Berichterstatter will erreichen, dass alle 751 Abgeordneten Zugang zu den Dokumenten erhalten. Lange stammt aus Friesland, studierte evangelische Theologie und politische Wissenschaften in Göttingen und war vor seiner politischen Karriere im Schuldienst.

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