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Ineos Magazin Mitbestimmung

Betriebsrätepreis: Wo der Schichtplan Freizeit bringt

Ausgabe 06/2023

Beim Chemieunternehmen Ineos Solvents in Herne steuern Beschäftigte ihre Arbeitsbelastung zum Teil selbst. Eine Betriebsvereinbarung ermöglicht Teilzeitarbeit auch in der Produktion. Von Andreas Schulte

Teilzeit ist ein Privileg für Beschäftigte in Büros oder im Homeoffice. Arbeitende in der Produktion hingegen können davon angesichts starrer Einsatzpläne oft nur träumen – so zumindest das Klischee. Doch es geht auch anders. Dass Teilzeit auch im Schichtbetrieb durchaus möglich sein kann, ist das Verdienst des Teams um den Betriebsratsvorsitzenden Siegfried Hahn bei Ineos Solvents Germany in Herne.

Dort hat das Gremium ein Modell entwickelt, das beim Hersteller von Industrie-Alkohol neue Freiräume schafft. So können ältere Mitarbeiter beispielsweise weniger arbeiten und dadurch die eigene Arbeitslast senken. Jüngere haben die Möglichkeit, sich in der gewonnenen Freizeit weiterzubilden. Das Modell ist nominiert für den Betriebsrätepreis 2023.

Wie in anderen Betrieben auch brachte der reguläre Schichtplan bei Ineos lange so manche Belastung mit sich. Etwa beim turnusmäßigen Wechsel von Nachtschicht auf Frühschicht, oder am Sonntag, wenn die zwölfstündige Schicht ansteht – „Panzerschichten” nennt Hahn sie. „Damit kamen viele der Älteren nicht mehr klar.” Zudem überstieg im Fünfschichtmodell die wöchentliche Arbeitszeit der Beschäftigten die vorgesehene Arbeitszeit im geplanten Schichtrhythmus. Dies wurde durch zusätzliche sogenannte Einbringeschichten kompensiert. „Hier entstand der Gedanke der Teilzeit”, sagt Hahn. „Wir haben uns gefragt: Können wir uns diese Zeiten nicht frei nehmen?” Er begann zu rechnen – und fand die Lösung in einem Vierschichtmodell.

Über einen Schichtblock von 28 Tagen können heute bei Ineos pro Beschäftigtem 20 Schichten gefahren werden. Insgesamt zehn davon können als Teilzeit beantragt werden. „Wir können uns nun pro Schichtblock einen oder mehrere Tage freikaufen. Übers Jahr betrachtet sind pro Kollege 20 Tage frei möglich”, sagt Hahn. Wer eine normale Schicht pro 28-Tage-Block freinimmt, kommt auf einen Teilzeitanteil von 5,33 Prozent, bei einer Panzerschicht sind es acht Prozent. Dieser Prozentsatz wird vom Gehalt abgezogen – natürlich auch von anderen Ansprüchen wie zum Beispiel Urlaub. „Ich habe dann rumgefragt, wer sich grundsätzlich, mindestens einen Tag frei nehmen will und fand in meiner Schichtgruppe schnell sechs bis sieben Leute”.

„Ein bisschen Überzeugungsarbeit war zuvor nötig”

Mit diesen Aussichten ging Hahn zur Geschäftsleitung – nicht ohne die Führungsetage auf die Vorteile für das Unternehmen aus Arbeitgebersicht hinzuweisen. „Mein Job als Betriebsrat ist es auch, den Betrieb zukunftsfähig zu machen. Und dazu gehört es, die Herausforderungen des demografischen Wandels anzunehmen”, sagt Hahn. Denn junge Fachkräfte sind in der Branche schwer zu bekommen. „Durch unser Modell schaffen wir auch Platz für neue Stellen. Das entlastet die Alten, und verjüngt das Unternehmen”, sagt Hahn.

Das Management willigte zwar bald ein, das Modell einzuführen. „Ein bisschen Überzeugungsarbeit war zuvor nötig. Es fehlte im Management anfänglich der Glaube, dass es klappen kann. Der Arbeitgeber will natürlich garantiert haben, dass eine Schicht – etwa am Sonntag – auch verlässlich besetzt ist”, sagt Hahn. „Aber das konnten wir mit unserer Planung glaubhaft nachweisen.”

Den Schichtplan erstellt der Betriebsrat eigenständig in Absprache mit den Teilzeitlern. Schwierig wird es dann, wenn viele von ihnen die gleichen Schichten frei haben wollen – etwa die ungeliebte Panzerschicht. „Das ist die Minischwäche am System, dass die Dienstplanung nun ein wenig aufwendiger ist. Manchmal muss man bei dem einen oder anderen nachhaken, um seinen Wunschtag zu erfahren oder es ist nötig, zwischen den Interessen einzelner zu vermitteln, wenn sie die gleiche freie Schicht anvisieren”, sagt Hahn.

Überzeugt werden wollte freilich auch die Belegschaft. Zwar war die Neugier groß. „Aber alle fragten, wie sicher ist dieser Tag. „Deshalb kann ihn der Arbeitgeber nicht einfach streichen wie etwa eine Freischicht”, sagt Hahn. So sieht es die Betriebsvereinbarung mit dem Arbeitgeber vor. Der freie Tag wird behandelt wie ein Wochenende.

Vorbild für andere Betriebe

Aber eignet sich das Modell auch für andere Betriebe? Hahn wirbt dafür. Man solle aber nicht glauben, der Arbeitgeber regle so etwas für einen. Wichtig sei es, als Betriebsrat in die Belegschaft hineinzuhorchen, um die Bedürfnisse zu ermitteln. „So mancher leidet unter zu vielen Nachtschichten und kommt aus diesem Rhythmus kaum mehr raus. Dies sind dann Anknüpfungspunkte für ein Teilzeitmodell nach unserem Vorbild”, sagt Hahn.

Mittlerweile nehmen bei Ineos auch junge Beschäftigte am Modell teil. „Viele von ihnen machen ohne Bedenken mit ... so ein bisschen Work-Life-Balance mäßig”, sagt Hahn. Für den Standort Herne ist das ein gutes Signal. Denn nur wenige Kilometer weiter nördlich, in Marl, lockt ein großer Chemiepark mit vielen modernen Arbeitsplätzen junge Fachkräfte an.

„Jetzt können wir zumindest mit einem attraktiven Schichtmodell dagegenhalten”, sagt Hahn. Wer von der Teilzeit bei Ineos enttäuscht ist, kann nach einem Jahr wieder in Vollzeit wechseln. Aber dies sei in dreieinhalb Jahren seit dem Pilotjahr 2019 noch nicht vorgekommen, sagt Hahn. Damals meldeten sich spontan sieben Interessierte. Mittlerweile macht fast die Hälfte der Belegschaft in den vier Schichtgruppen mit. 

Mehr zum Betriebsräte-Preis 2023:

Der Deutsche Betriebsräte-Preis wird am 9. November im Rahmen des Deutschen Betriebsrätetags in Bonn verliehen. Von 76 Bewerbungen wurden zwölf ­Projekte nominiert, einer der Nominierten ist der Betriebsrat des Chemieunternehmens Ineos Solvents in Herne.

Mehr über die nominierten Projekte auf der Seite des I.M.U. zum Deutschen Betriebsrätetag 2023 

Das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung bietet ein Archiv mit zahlreichen Betriebsvereinbarungen.

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