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Magazin Mitbestimmung

: Interview mit dem US-Ökonom Lester Thurow

Ausgabe 04/2004

Die Europäische Zentralbank, den Stabilitätspakt und den deutschen Sachverständigenrat nimmt er sich gern zur Brust. Und spricht dabei vielen Gewerkschaftern aus dem Herzen. Doch der US-Ökonom Lester Thurow verordnet auch einige bittere Pillen.

Was haben uns Keynes und Marx zur Globalisierung heute noch zu sagen?
Ich bin ein überzeugter Anhänger der Keynes'schen Instrumente. Und die Marx'schen Vorhersagen waren nicht deshalb falsch, weil die Analyse nicht gestimmt hätte. Widerlegt wurden sie, weil es den westlichen Industriestaaten gelang, mit Sozialleistungen und einem staatlichen Schulsystem dem Kapitalismus eine andere Richtung zu geben. Wenn das auch in den Entwicklungsländern gelingt, wäre Marx erneut widerlegt.

Was wäre der Kern dieses zweiten Marx-Widerlegungsprogramms?
Marx nennt Menschen ganz unten auf der sozialen Stufenleiter "Lumpenproletariat". Die Lumpenproletarier des Jahres 2050 sind die Analphabeten, Menschen, die keinen Zugang zu Bildung und Ausbildung haben. Die allgemeine Schulpflicht wurde in den USA 1835 eingeführt. Seither ist Bildung nicht mehr abhängig vom Einkommen der Eltern. Auch die Entwicklungsländer müssen ein solches Schulsystem aufbauen. Und wir müssen ihnen bei der Finanzierung helfen. Deswegen muss die Weltbank als internationales Infrastrukturministerium aufgelöst und als internationales Bildungsministerium wieder eröffnet werden.

Was ist der wichtigste Aspekt der Globalisierung?
Das politische Gewicht der Nationen nimmt ab. Sie werden nicht verschwinden, aber weniger Macht haben. Überall auf der Welt zerfallen Nationalstaaten: die Sowjetunion, Jugoslawien, Indonesien. Blair räumt Schotten und Walisern mehr Autonomie ein, sogar die Franzosen denken über Korsika nach. Manche sehen die EU der Zukunft eher als postnationale Vereinigung von Gemeinden denn als Staatenbund.

Welcher Motor treibt die Globalisierung an?
Die wichtigste Triebkraft ist die technologische Entwicklung. Die technischen Revolutionen im Kommunikations- und Transportsektor machen es heute möglich, dass Produkte für den deutschen Markt in China gefertigt werden. Die neuen Technologien weiten das Blickfeld der Unternehmen. Standortfragen werden global entschieden, die Produktionskosten weltweit verglichen. Die neue Fabrik entsteht dort, wo sie am billigsten ist. Regierungen spielen dabei keine Rolle. Wir haben keine Wahl, denn es ist letztlich keine politische Entscheidung.

Viele Globalisierungskritiker sehen das anders. Die USA sind schuld.
Sie liegen daneben - und könnten sich mit Georg Bush verbünden. Nichts würde ihm leichter fallen, als eine flammende Rede gegen die Globalisierung zu halten. Er mag sie nicht. Genauso wenig wie die UN, die WTO, den IWF oder die Weltbank.

Für die Kritiker ist Globalisierung nur ein beschönigendes Wort für eine aggressive US-Strategie.
Viele fürchten eine kulturelle Amerikanisierung. Aber die populärste Sportart weltweit ist Fußball. Wir sind alles andere als Spitze. Die beliebtesten Spielzeuge der Welt? Lego ist dänisch, Pokemon japanisch. Vier der fünf großen Musikkonzerne sind nicht in amerikanischem Besitz, ebenso zwei große Hollywood-Studios, der größte Verlag in USA ist Bertelsmann. Catherine Zeta-Jones oder Arnold Schwarzenegger kamen als junge Erwachsene in die USA. Kultureller Import oder Export? Es gehört zu den Stärken Amerikas, Neues zu importieren, es geringfügig zu ändern und dann zu re-exportieren. Warum gibt es in Deutschland Starbucks?

Das wundert nicht. Schlimm ist: Es gibt Starbucks in Wien!
Wir haben uns des Kaffeehauses angenommen und es leicht modifiziert nach Europa zurückgeschickt. Heute fühlt ihr euch dort wohler als im Original. In Berlin kann man "Pizza Hawaii" bestellen, weil Amerikaner auf die Idee kamen, Ananas auf die Pizza zu streuen. Heute glaubt alle Welt, Pizza sei eine amerikanische Erfindung. Und in Tokio gibt es "Kalifornische Sushi".

Amerika als Re-Exporteur verfeinerter Rohprodukte aus anderen Kulturkreisen?
Warum schauen sich die Franzosen in acht von zehn Fällen einen Hollywood-Film an? Nicht, weil ein Gesetz das vorschreibt. Sondern weil französische Filme langweilig sind. Und die Jungs, die in Bombay gegen die USA gewettert haben, ziehen sich daheim amerikanische Filme rein! Kultur in Europa ist, wenn alte Menschen jungen vorschreiben, an was sie glauben sollen. Kultur in Amerika versucht zu antizipieren, was junge Leute wollen.

Sind unsere Regierungen noch in der Lage, die globalen Prozesse zu gestalten?
Regierungen verstehen sich gerne als Fluglotsen ihrer nationalen Ökonomien und glauben, diese zu kontrollieren. Das gelingt ihnen immer weniger. Stattdessen sollten sie sich als Flughafenbauer und Landebahnkonstrukteure verstehen. Diese Landebahnen müssen für ausländische Unternehmen so einladend sein, dass sie gerne einschweben. Zugleich sind das die Startbahnen für die heimischen Exporteure. Erbaut werden erfolgreiche Start- und Landepisten von gebildeten Menschen. Bauteile sind eine intakte Infrastruktur, ein funktionierender Rechtsstaat, öffentliche Sicherheit und ein Klima für innovative Forschung und Entwicklung auf höchstem Niveau. Es liegt an uns, ob die Gewinne der Globalisierung größer und die Verluste minimiert werden. Verlierer freilich wird es geben.

Wer gewinnt, wer verliert?
Als Chinese wäre ich optimistisch. Erstmals seit 1000 Jahren wächst die Wirtschaft rasant, steigt das Pro-Kopf-Einkommen, entwickelt sich eine gut situierte Mittelschicht. Seit die New-Economy-Blase geplatzt ist, hat sich auch die US-Wirtschaft ordentlich erholt. Von der 99er-Euphorie sind wir zwar weit weg, doch gibt es keinen Grund, Trübsal zu blasen. Japan hingegen stagniert seit 13 Jahren.

Europa taucht in Ihrer Gewinner-Liste nicht auf.
Europa ist wie ein pubertierender Jugendlicher, der nicht recht weiß, was er machen will, wenn er erwachsen ist. Jeder Mensch möchte gerne so viel ökonomische Sicherheit wie nur möglich. Aber die modernen Gesellschaften entziehen der Verwirklichung dieses Wunsches die Grundlagen. Alles verändert sich atemberaubend schnell. Aus diesem Grund verstehe ich nicht, wie ihr Europäer euch aus der aufregendsten technologischen Revolution, der Biotechnologie, verabschieden konntet. Diese Revolution verändert wirklich alles.

Und Deutschland?
Deutschland ist in einem Zangengriff. Von der einen Seite drückt China mit seiner konkurrenzlos günstigen Mischung aus niedrigen Arbeitskosten und hoch qualifiziertem Personal. Von der anderen Seite drückt Amerika, an dessen technologisches Niveau Deutschland den Anschluss verloren hat. Die deutsche Computerindustrie hat sich verabschiedet. Auch für einen Rückstand im Feld der Biotechnologien werdet ihr einen hohen Preis zahlen. Das drängt nicht unbedingt die deutschen Chemieunternehmen aus dem Markt, die gehen nach Amerika. Aber das Nachsehen haben die deutschen Chemiestandorte.

Von der Globalisierung zur Weltwirtschaft: Wie sehen die Trends aus?
Europa und die USA zeigten rezessive Tendenzen. Inzwischen hat sich das Bruttosozialprodukt der USA erholt. 2002 betrug das Wachstum 2,4 Prozent, 2003 wird es rund drei Prozent erreichen. Für 2004 prognostizieren einige vier Prozent. Das europäische Wachstum dagegen krebst nahe am Nullpunkt. Der Unterschied hat einen Namen: Alan Greenspan. Dreizehnmal senkte er die Zinsen, die Europäische Zentralbank nur zweimal. Einer von beiden liegt daneben, und das ist eindeutig die EZB.

Die EZB ist Ihr Lieblingsfeind Nummer eins.
Im Jahr 2000 sagte sie für Europa ein Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent voraus. Tatsächlich betrug es ein Prozent. 2002 wiederholte die EZB ihren Fehler und verkündete 2,9 Prozent Wachstum für 2003. Tatsächlich waren es 0,5 Prozent. Wer so hartnäckig Wachstum vorhersagt, das nicht eintritt, macht zwangsläufig falsche Politik. Die Europäischen Zentralbanker müssen gefeuert werden. Gegen politischen Druck muss man sie in Schutz nehmen, aber ihre geballte Inkompetenz ist nicht zu entschuldigen. Ihre Prognosen waren schlecht, ihre Politik war schlecht, und die Resultate waren miserabel.

Sie könnten für Schröder und Eichel einen Brief nach Brüssel entwerfen.
Die Währungshüter Europas begreifen nicht, dass die größte Gefahr für die Weltwirtschaft längst von deflationären Tendenzen ausgeht. Was noch für die 70er und 80er Jahre galt - kaum sprang der Wachstumsmotor an, beschleunigte sich die Inflation - gilt nicht mehr. Alle ostasiatischen Länder haben negative Inflationsraten. Deutschland liegt wie die USA nahe null Prozent. Aber die Herren bekämpfen immer noch das Gespenst der Inflation. Das ist verrückt!

Wie steht es um die Haushaltspolitik?
In den Vereinigten Staaten haben wir den gewaltigen Sprung von einem Haushaltsüberschuss von zwei Prozent zu einem Defizit zwischen vier und fünf Prozent gemacht. Dies stimulierte unser Wachstum. In Europa hingegen gab es weder einen nennenswerten geldpolitischen Stimulus noch einen fiskalpolitischen.

Der europäische Stabilitätspakt findet vor Ihren Augen keine Gnade?
Der Pakt verhindert Fiskalpolitik - es sei denn, man trickst, wie Deutschland und Frankreich. Haushaltsdisziplin kann man auch mit einem flexibleren Instrument kontrollieren. Ein Rat für Fiskalpolitik könnte jährlich das zulässige Defizit festlegen: in rezessiven Phasen bis zu fünf, im Boom hingegen nur ein Prozent Defizit. Doch statt eine unsinnige Regelung durch eine wirksame zu ersetzen, drückt man beide Augen zu. Und agiert mit gefesselten Händen: Ihr verzichtet auf Fiskalpolitik und eure Zentralbank betreibt keine Geldpolitik. Wie soll so die europäische Konjunktur anspringen?

Auch dem deutschen Sachverständigenrat sind Sie nicht sehr gewogen.
Der hoffte in seinem Jahresgutachten 2001/02 vergeblich auf die amerikanische Erholung. Im folgenden Gutachten kritisierte er die rigiden Strukturen auf dem deutschen Arbeitsmarkt und empfahl ihre Auflösung. Doch selbst wenn Schröder von heute auf morgen "hire and fire" etablieren könnte, was wäre die Folge? Die Unternehmen würden ein Drittel ihrer Belegschaften rausschmeißen - alle, die sie schon immer loswerden wollten. Und sie würden mehr Leute feuern als nötig. Schließlich können sie sie jeder Zeit zurückholen. Der Effekt wäre eine noch höhere Arbeitslosenrate. Jede Strukturreform muss von fiskal- und geldpolitischen Stimuli begleitet werden. Entweder gelingt der deutschen Bundesregierung beides gleichzeitig, oder ihre Strukturmaßnahmen werden scheitern.

Schröder setzt den zweiten Reformschritt vor den ersten? Deshalb das Gestolpere?
Die Globalisierung verlangt keine Einschränkungen des Wohlfahrtsstaates, verändert werden muss freilich seine Finanzierung. Solange er mittels Lohnnebenkosten oder Körperschaftssteuern bezahlt wird, belastet er die heimischen Arbeitsplätze und die Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft. Und Unternehmen können sich ihrer Steuerpflicht entziehen: Die gehen.

Also Steuerreform! Aber wie?
In einer grundlegenden Reform hätte die Anhebung der Mehrwertsteuer einen großen Vorteil: Sie kann auf Importartikel wie auf lokale Erzeugnisse gleichermaßen erhoben werden. Die Kosten der einheimischen Produktion steigen nicht. Zugleich könnte man die lohnbezogenen Steuern und Abgaben reduzieren und reiche Pensionäre stärker zur Alters- und Gesundheitsversorgung heranziehen. Eure Regierung hat die Reformen vom Schwanz her aufgezäumt. Wie lange dauert es, ehe sich positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt niederschlagen? Jahre? Ein neues Steuersystem greift sofort.

Eine große Steuerreform als Kernstück des Globalisierungsmanagements?
In 30 Jahren können Regierungen globalisierungsbedingt nur noch zwei Arten von Steuern erheben: die Einkommenssteuer und die Mehrwertsteuer. Die Unternehmenssteuern laufen ins Leere. Irland gehört zu den Gewinnern, weil es als erstes Land die Unternehmenssteuer abgeschafft hat. Was aber passiert mit dem letzten Land, das auf diesen Zug aufspringt? Hat verloren, weil Unternehmen kaum je wieder zurückverlagern.

Japanischer, angelsächsischer, kontinentaleuropäischer "rheinischer" Kapitalismus: Spielen diese Unterscheidungen in der Globalisierung noch eine Rolle, oder ist sie der große Gleichmacher?
Nichts spricht gegen eine Fortsetzung des europäischen Pfades, nichts spricht gegen einen Sozialstaat, der großzügiger ist als der angloamerikanische - vorausgesetzt die Finanzierung wird geändert. Solange mit den Kosten jedoch die Arbeit belastet wird, muss dies scheitern. Das Steuersystem ist entscheidend für die Aufrechterhaltung der unterschiedlichen Kapitalismen, die sich im Wesentlichen in ihren Sozialsystemen unterscheiden.

Wer über Globalisierung redet, muss über den Kapitalismus reden. Ist Globalisierung das letzte Stadium des Kapitalismus?
Solange der Kommunismus existierte, lebten rund 40 Prozent der Menschheit jenseits des Kapitalismus. Der Kommunismus ist tot, der Kapitalismus wird rauer. Seit den 90er Jahren gibt Wall Street den Takt vor. Die Spielregeln werden rücksichtsloser - und sie gelten weltweit.

Rezession, Krisen, Instabilität, Risiken und Skandale gehören zum genetischen Code des Kapitalismus. Ist dieses anfällige und irrationale System das Ende der Geschichte?
Im Augenblick haben wir wenig Alternativen. Ökonomische Systeme basieren auf Technologien. Die Dampfmaschine machte den Feudalismus obsolet. Irgendwann werden Technologien erfunden, zu denen der Kapitalismus nicht mehr passt. Doch zu den gegenwärtigen Technologien passt er wie kein anderes System. Die Frage ist deshalb, wie wir den Kapitalismus dazu bewegen können, so gut wie möglich zu funktionieren. Bei der Antwort bin ich eher Europäer als Amerikaner. Eure Sozialsysteme sind alles andere als perfekt und müssen reformiert werden. Aber einfach ins soziale Netz schneiden ist nicht die Reform, die ihr braucht. Ihr solltet es anders machen - und das muss nicht notwendigerweise weniger Geld kosten.


Mit dem US-Ökonom Lester Thurow sprach Herbert Hönigsberger, Sozialwissenschftler und Politikberater in Berlin.

Zur Person

Lester Thurow ist seit 1970 Professor für Wirtschaftswissenschaften am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge/USA. Der 65-Jährige gilt als einer der bedeutendsten US-Ökonomen und ist bekennender Demokrat. Vor kurzem stellte er an der American Academy in Berlin sein neues Buch vor: "Die Zukunft der Weltwirtschaft" - erschienen im Campus-Verlag. Der englische Originaltitel der Quintessenz seiner Beschäftigung mit Gründen und Folgen der Globalisierung sowie der Herausbildung einer wissensbasierten Ökonomie lautet übrigens: "Fortune favors the bold - What we must do to build a new and lasting global prosperity".

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