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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Wir werden zu oft als Krisenbewältiger benutzt'

Ausgabe 10/2008

Opel-Betriebsrat Klaus Franz über die Automobilkrise, das Verhältnis der Mitbestimmungsakteure gegenüber geschwächten Vorständen und den Ansatz, Gewerkschaften stärker in die Eurobetriebsratsarbeit einzubeziehen.

Die Fragen stellte Mario Müller, Journalist in Frankfurt/Foto: Alexander Paul Englert

Für einen "Co-Manager" ist Klaus Franz geradezu bescheiden untergebracht. Das Büro der Spitzenkraft im Betriebsrat von Opel befindet sich in einem Gebäude, das noch aus den Gründerzeiten des Rüsselsheimer Autoherstellers zu stammen scheint. Klaus Franz sitzt an seinem Schreibtisch - hinter sich ein Gemälde in Öl auf Stahl - darauf die Großdemonstration gegen die Werksschließungen im Januar 2004.

Klaus Franz, reden wir über die alten und die neuen Zeiten. Du gehst seit 1975 durch das Tor 45 hier ins Opel-Werk in Rüsselsheim. Was hat sich in den 33 Jahren getan?
Die Zeiten haben sich ganz grundlegend geändert. Bis Ende der 1980er Jahre kam die Marke Opel flott voran, die Gewerkschaften haben eine erfolgreiche Umverteilungspolitik gemacht und die Beschäftigten davon enorm profitiert. Dann fuhr die Branche in die Krise. Jetzt geht es darum, Dämme für die Belegschaft zu halten und andererseits das Überleben des Unternehmens zu sichern. Früher gab es, neudeutsch gesagt, ein Stück Profit-Sharing. Heute steht "Pain-Sharing" auf dem Programm nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Wie sahen damals die Beziehungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung aus?
Es waren intakte Verhältnisse in der Mitbestimmungsarbeit. Obwohl die Geschäfte gut liefen, gab uns das Management natürlich nichts freiwillig. Aber es hatte hier in Rüsselsheim weitreichende Kompetenzen und war viel eigenständiger gegenüber der Konzernzentrale von General Motors in Detroit. Es war eine Zeit, die vom Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital geprägt war.

Wie äußerten sich die Widersprüche?
In scharfen Auseinandersetzungen. Es gab viel mehr Warnstreiks, von den damals 18?500 Beschäftigten in der Produktion waren fast alle in der IG Metall. Heute arbeiten dort noch knapp 4000 Kollegen, um dieselbe Zahl an Fahrzeugen herzustellen, und der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder liegt bei 75 Prozent. 2010 werden bei Opel in Rüsselsheim erstmals mehr Angestellte im Entwicklungszentrum tätig sein als Arbeiter/-innen in der Produktion. In diesen tertiären Bereichen beträgt der Organisationsgrad rund 35 Prozent. Das ist verbesserungswürdig.

Hat sich das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung so grundlegend verändert wie die Wirtschaft?
Das Verhältnis ist komplizierter geworden, vielschichtiger. Die Musik spielt heute in Detroit. Wenn man nun als Arbeitnehmervertreter weiß, dass das Gegenüber Entscheidungen zu exekutieren hat, an denen es selbst gar nicht mitwirkte, ist die Situation anders, als wenn man unmittelbar dem "Klassenfeind" gegenübersitzt. Ich beneide manchmal meine Branchen-Kollegen, die in ihren Zentralen in Wolfsburg, Sindelfingen oder München relativ kurze Wege zu den Top-Managern haben. Wir dagegen sind zu 100 Prozent abhängig von dem, was in Detroit jenseits und außerhalb jeglicher Mitbestimmung passiert.

Stehen die deutschen Arbeitnehmervertreter also im Abseits?
Nein. Es gibt Situationen, in denen die europäischen Top-Manager in ihrer Abhängigkeit von GM faktisch im selben Boot sitzen wie wir. So kann es manchmal notwendig sein, dass wir unsere unternehmerischen Mitbestimmungsmöglichkeiten nutzen, um die Mitspracherechte der hiesigen Geschäftsführung gegenüber den Amerikanern zu stärken.

Es gibt also ein gewisses Machtvakuum der Sozialparteien im engen nationalen Rahmen?
Detroit gibt der Region Europa ein gewisses Ziel vor, das sie dann erreichen muss. Aber die ganze Frage der Produktallokation, wo werden welche Fahrzeuge produziert, wo wird investiert - da spielt die traditionelle deutsche Unternehmensmitbestimmung eine absolut untergeordnete Rolle. Das wird auf der europäischen Ebene entschieden.

Was bedeutet es für die Betriebsratsarbeit, wenn Rüsselsheim eine Stecknadel auf der GM-Weltkarte ist?
Die auf deutsche Standorte zentrierte Betrachtung ist völlig in den Hintergrund getreten. Als Vorsitzender des Konzern- und des Euro-Betriebsrats widme ich 60 bis 70 Prozent meiner Zeit europäischen Aufgaben. Für die klassischen Felder bleiben nur 30 bis 40 Prozent.

Wirst du vom Management ausreichend informiert?
Im Großen und Ganzen ja, in Details nicht. Wir haben in den vergangenen acht Jahren im Euro-Betriebsrat erreicht, dass alle Standorte dasselbe Informations- und Konsultationsniveau haben. Vor allem hat unser europäischer EBR-Wirtschaftsausschuss mit dem Management einen Vertrag abgeschlossen. Demzufolge müssen wir so rechtzeitig informiert werden, dass die Arbeitnehmerseite noch vor den Entscheidungen des Managements ihre Alternativen einbringen kann. Da geht es teilweise um Jahre Vorlauf.

Liegen diese Informationsstandards unter den deutschen?
Nein, sie sind eins zu eins aus der Geschäftsordnung des Opel-Aufsichtsrats abgeschrieben. Das heißt, wir haben die Regeln der deutschen Unternehmensmitbestimmung auf die europäische Ebene übertragen. Seit dem Jahr 2000 ist der Euro-Betriebsrat nicht nur ein Informations- und Konsultationsgremium, sondern auch ein Partner für rechtsverbindliche Verträge. Alle Vereinbarungen, die wir mit GM abschließen, inzwischen sind es zehn, basieren auf belgischem Recht und sind rechtsverbindlich.

Es gibt also im Konzern insgesamt mehr Mitbestimmung als in früheren Zeiten?
Ja, wenn man unter Mitbestimmung versteht, in Entscheidungsprozesse einbezogen zu werden. Aber was können wir mit den Informationen erreichen? Das ist weniger geworden, weil die funktionale Organisation, die von Detroit aus gelenkt wird und sich über den ganzen GM-Globus erstreckt, es verdammt schwer macht, die Erkenntnisse, die wir aus den Informationsrechten der Mitbestimmung haben, in aktives Handeln umzusetzen. Zum Beispiel wenn wir uns hier in Rüsselsheim gegenüber den Engineering-Centern in den USA, Korea, Indien, China positionieren wollen, die von einem global verantwortlichen Vorstand gemanagt werden.

In der Euro-Betriebsrats-Landschaft ist GM/Opel ja einer der wenigen Leuchttürme.
Gleiches Informationsrecht bedeutet auch gleiche Sensibilisierung der Belegschaften. Wir haben drei Informationstage in Europa organisiert mit bis zu 50?000 Teilnehmern und alle gleichzeitig gestreikt, um unsere Rechte durchzusetzen. Das Management hat erkannt, dass wir im Euro-Betriebsrat einen Top-down-Ansatz fahren. Bevor wir nicht auf europäischer Ebene eine Übereinkunft gefunden haben, wird an den Standorten nichts verhandelt. Dadurch ist der Euro-Betriebsrat mit vielen lokalen Themen beschäftigt, für die er eigentlich nicht zuständig ist.

Hat Rick Wagoner, der oberste GM-Boss, inzwischen seinen Frieden mit der deutschen Mitbestimmung gemacht?
Die Vorbehalte sind geringer geworden. Die Amerikaner wissen, dass es in Europa viel anspruchsvoller und daher aufwändiger ist eine Vereinbarung mit den Arbeitnehmern zu treffen. Aber sie wissen auch: Wenn der Vertrag steht, wird der auch eingehalten. Das finden sie enorm positiv. Und hinter vorgehaltener Hand räumen sie ein, dass sie Entscheidungen nochmals überdenken mussten, um gegen uns argumentieren zu können.

An den GM-Standorten in Europa herrschen ganz unterschiedliche industrielle Beziehungen und gewerkschaftliche Strategien. Wie geht man damit um?
Wir haben früher einen großen Fehler gemacht, indem wir zu stark fokussiert waren auf die betriebliche Situation und zu wenig die nationalen gewerkschaftlichen Hintergründe berücksichtigt haben. In Großbritannien beispielsweise haben die lokalen Vertreter relativ wenig zu sagen. Das Wort führen die Hauptamtlichen. Inzwischen veranstalten wir - etwa wenn es um die Verteilung der Produktion der nächsten Astra-Generation geht - Trade-Union-Group-Meetings und verzahnen dabei die betrieblichen und gewerkschaftlichen Vertreter.

Sind die deutschen Arbeitnehmerrechte inklusive Mitbestimmung Referenzpunkt - ein "best of"?
Das deutsche System hat eine enorme Reputation. Aber wir brauchen einen offenen Dialog über Vorzüge und Nachteile der verschiedenen europäischen Mitbestimmungssysteme. Lohnarbeit und Kapital - das gilt noch teilweise in Spanien und Portugal. In Frankreich geht es einerseits stark um Gesellschaftspolitik, andererseits geht es aber betrieblich sehr korporatistisch zu. In Schweden ist man sehr auf Konsens aus. In Osteuropa schließlich trauen die Belegschaften den Gewerkschaften nicht viel zu, weil die früher Teil des Apparats waren. Hier muss man als EBR-Vorsitzender auf der Welle der kulturellen Unterschiede surfen, da ist Geschicklichkeit gefragt und gegenseitiger Respekt erforderlich.

Und welche Rolle spielt hier das deutsche Modell?
Wir sollten es genau bewerten. Nicht zufällig haben wir unsere europäischen Verträge auf belgische Grundlagen gestellt, weil sie dem Recht der einzelnen Beschäftigten viel mehr Raum bieten. Bei uns gibt es beispielsweise kein Streikrecht bei Betriebsstilllegungen. In anderen Ländern ist das eine Selbstverständlichkeit. Unsere Schweden dürfen sogar in Solidarität für andere in Europa streiken.

Wie würdest du das Klima im Umgang mit der Geschäftsleitung beschreiben - nach all den Kürzungen, Schließungen, Zumutungen?
Es herrscht ein Klima der Rastlosigkeit. Jeder Mensch, der eine Aufgabe bewältigt hat, die ihm Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte bereitet hat, sehnt sich nach einem ruhenden Pol. Aber das wird einem in diesem Business nicht geboten.

Welche Rolle spielt dabei der Finanzmarkt-Kapitalismus?
Ich glaube, das Unternehmen Opel wäre in einer glücklichen Situation, wenn wir uns darüber unterhalten könnten, wie wir die Umsatzrendite von vier auf sechs Prozent erhöhen könnten. Da wären beide Seiten glücklich. Da könnten wir uns wieder über eine Gewinnbeteiligung streiten. Derzeit ist die Rendite im Minus.

Im Ausland sehen selbst Gewerkschafter die Mitverantwortung der Arbeitnehmer skeptisch. Kann es zu viel Co-Management geben?
Co-Management bedeutet, Verantwortung zu übernehmen für das, was man macht - zwar nicht die juristische Verantwortung, aber die moralische. Und es bedeutet, Gestaltungsvorschläge - etwa für das Produktportfolio oder die Arbeitsabläufe - zu machen. Das ist ein Grenzgang. Sie brauchen ein klares Weltbild, ein klares ethisches Gerüst, Sie müssen den Früchten des süßen Lebens widerstehen können und brauchen als Betriebsratsvorsitzender ein Team, dem gegenüber Sie rechenschaftspflichtig sind.

Gibst du der deutschen Konfliktpartnerschaft auch in Zukunft eine Chance?
Aber nur, wenn das Top-Management aufpasst, dass es den Trägern der Mitbestimmung nicht zu viel zumutet. Die Mitbestimmung ist eine schöne Sache, aber oft werden die Belegschaftsvertreter ausgenutzt als Krisenbewältiger. Gerade in unserer schwierigen Situation müssen die Manager schon überlegen: "Wie viel kann ich meinem Partner zumuten?" Denn oft müssen auch die Mitbestimmungsvertreter um ihre Reputation bei der Belegschaft kämpfen.

Das haben wir ja bei Opel schon erlebt.
Für die Geschäftsführung ist es einfacher, mit zehn Leuten zu verhandeln als mit 10?000. Als Betriebsrat müssen Sie Ihrem Management auferlegen, intensiver mit der Belegschaft zu kommunizieren, wenn Krisen bewältigt werden müssen. Sie können den Leuten relativ viel zumuten, wenn Sie drei Grundprinzipien beachten: eine offene und ehrliche Information, eine Perspektive und nicht nur Verzicht, und dass der gefühlten und der tatsächlichen Ungerechtigkeit Rechnung getragen wird und alle zur Kasse gebeten werden - auch die Häuptlinge.

Wie können die Gewerkschaften die Mitbestimmung weiterentwickeln?
Wir sind bei Opel dabei, mehr betriebliche Experten in die Kompliziertheit der Prozesse einzubeziehen. Europäisch müssen wir als IG Metall mehr Euro-Betriebsräte auf die Beine stellen, die nicht bloß das fünfte Rad am Wagen sind. Und als Vision könnte ich mir vorstellen, dass bei einem wirtschaftlichen Amoklauf eines Unternehmens und absehbaren Desaster-Entscheidungen ein Vetorecht im Aufsichtsrat eingeführt wird. Denn letztendlich sind wir bei einer Fehlentscheidung wieder voll im Boot und in der Haftung.


ZUR PERSON

Klaus Franz, 56, gilt manchen als Reizfigur. Sie werfen dem Vizechef im Aufsichtsrat von Opel und Vorsitzenden des Konzern- und Euro-Betriebsrats vor, zu eng mit dem Vorstand zusammenzuarbeiten. Die Kritik lässt Franz kalt: Co-Management bedeute nicht, "dass der Betriebsrat dem Vorstand auf dem Schoß sitzt, sondern heißt verhandeln und kämpfen, kämpfen und verhandeln". 1975 hatte Franz bei Opel in der Lackiererei angefangen, 1981 wurde er zum Betriebsrat gewählt und im Jahr 2000 zum Vorsitzenden des Eurobetriebsrats der Opel-Muttergesellschaft General Motors (GM). Unter seiner Führung wurde europaweit gegen die Schließung der GM-Fabrik im englischen Luton gestreikt. Als GM 2005 den europäischen Werken ein gewaltiges Stellenabbau-Programm verordnete, konnte Franz einen "Zukunftsvertrag" aushandeln, der den Belegschaften zwar Opfer abverlangte, andererseits aber Beschäftigung, Investitionen und Standorte sicherte.

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