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Magazin Mitbestimmung

Kampagnen: Ein Urknall für Arbeitnehmerrechte

Ausgabe 11/2014

Vor zehn Jahren machte die Gewerkschaft ver.di mit dem „Schwarzbuch Lidl“ die systematische Verletzung elementarer Arbeitnehmerrechte bei Deutschlands zweitgrößtem Discounter publik. Die breite Medienresonanz hat einen kritischen Blick auf die Arbeitswelt befördert. Von Martin Kempe

Es ist der 10. Dezember 2004: Über 70 Journalistinnen und Journalisten sitzen und stehen eng gedrängt im Konferenzraum im achten Stock der Berliner ver.di-Zentrale. Sie wollen hören, was das „Schwarzbuch Lidl“ enthüllen wird. ver.di-Vorstandsmitglied Franziska Wiethold spricht von „skandalösen Zuständen“, mit auf dem Podium sitzen der Journalist Andreas Hamann, der gemeinsam mit seiner Kollegin Gudrun Giese das Buch recherchiert und verfasst hat, und Agnes Schreieder. Sie war eigens in den USA, um zu lernen, wie man Kampagnen macht und hat die Lidl-Kampagne konzipiert. 

Das Datum für die Präsentation der materialreichen brisanten Publikation war bewusst gewählt: Der 10. Dezember ist der Tag, an dem die UN 1948 die „Erklärung der allgemeinen Menschenrechte“ verabschiedete. Er wird seither weltweit als „Tag der Menschenrechte“ begangen. Und dieser Tag schien besonders geeignet für die Botschaft des knapp 100-seitigen, schwarz eingebundenen Buchs mit dem verfremdeten Lidl-Logo auf dem Umschlag: Auch in Deutschland gibt es eine systematische Verletzung von Menschen- und Arbeitsrechten. 

Die Pressekonferenz wurde zu einem ersten Höhepunkt der ver.di-Kampagne gegen die Arbeitsbedingungen beim damals zweitgrößten deutschen Discounter, gegen die Missachtung elementarer Arbeitsrechte, gegen Lohndrü­ckerei, Einschüchterung und Willkür. Wenige Tage vorher, am 7. Dezember, hatte das ZDF in der Magazinsendung „Frontal 21“ auf Basis des von Hamann und Giese recherchierten Materials einen ersten Fernsehbericht über die Zustände bei Lidl gesendet. Und nach der Pressekonferenz folgte eine Flut von Veröffentlichungen in nahezu allen Tages- und Wochenzeitungen. Mehrere Fernsehsender, darunter ARD und ZDF, berichteten in den Hauptnachrichtensendungen, der Lidl-Konzern verhindere mit Druck und Drohungen, dass Beschäftigte ihr Recht auf die Wahl von Betriebsräten wahrnehmen. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr, dass den Beschäftigten von Lidl systematisch unbezahlte Mehrarbeit abgepresst werde. 

GROSSES MEDIENECHO

Die Reaktion der Medien war überwältigend. Ganz überwiegend folgten die Berichte dem Schwarzbuch und verbreiteten die Anklagen gegen den Lidl-Konzern flächendeckend in der deutschen Öffentlichkeit. „Endlich ist die Mauer des Schweigens gebrochen“, hieß es im Onlinedienst „heise“ am 12. Dezember 2004, zwei Tage nach der Pressekonferenz. „Ein Buch wie eine Dynamitstange“, kommentierte das „manager magazin“ (2004). Einen „Aufruf zum Kassenkampf“ sah „Die Zeit“ zwei Monate später (3.2.2005) in einem durchaus anerkennend und freundlich gehaltenen Artikel. Im November (17.11.2005) legte sie nach und schrieb, der „mehr als hundert Seiten starke Pranger war ein Prototyp für die moderne Gewerkschaftsarbeit“. Sogar ein Tatort-Krimi wurde später nach den Vorlagen des Buchs gedreht (Sendung ARD, 1.2.2009), und im Grundrechte-Report 2006 gab es ein extra Kapitel unter der Überschrift „Zum Schwarzärgern“ (Frankfurt 2007). 

Der Lidl-Konzern geriet in die Defensive. Die Verunsicherung der Kunden schlug auf die Umsätze durch. Beschäftigte und aktive Gewerkschafterinnen wurden vor den Lidl-Filialen ans Mikrofon geholt. Klaus Gehrig, Chef der Handelsgruppe Lidl, musste sich erstmals in dem ZDF-Filmbeitrag den kritischen Fragen des Journalisten Christian Esser stellen. Wenige Tage später, nach der Presse­konferenz vom 10. Dezember, musste Gehrig dem „Handelsblatt“ und anderen durchaus wirtschaftsnahen Zeitschriften Rede und Antwort stehen – ein Signal, dass das Lidl-Management seine jahrelang geübte Abschottungspolitik gegenüber der Medienöffentlichkeit unter dem Druck der ver.di-Kampagne aufgeben musste. Zuvor hatte es über Jahrzehnte nicht einmal einen Pressesprecher im Konzern gegeben. 

Das von den beiden Autoren Hamann und Giese sauber recherchierte „Schwarzbuch Lidl“ war also ein grandioser Medienerfolg. Die erste Auflage von 8000 Exemplaren war in wenigen Tagen vergriffen, es musste nachgedruckt werden. Insgesamt wurden über 20 000 Exemplare verkauft. Das Buch wurde zur erfolgreichsten Publikation aus der Arbeitswelt seit den 1970 erschienenen Industriereportagen von Günter Wallraff. 

Schwarzbücher waren ein eingeführtes publizistisches Format zur Skandalisierung kritikwürdiger Zustände. Doch diesmal war es eine doppelbödige Kritik, die auf den Konzernchef Dieter Schwarz zielte als Eigentümer und Hauptverantwortlichen für die repressive Unternehmenskultur in der Schwarz-Gruppe. Zur ihr gehören die Kaufland-Häuser und die damals rund 2500 Lidl-Filialen mit mehr als 25 000 Verkäuferinnen. 

Der Titelslogan des „Schwarzbuchs Lidl“ lautete: „Billig auf Kosten der Beschäftigten“. Er stand auch Pate bei dem Fernsehfilm „Die Billigheimer“ des Fernsehjournalisten Mirko Tomic, der ab 2005 in nahezu in allen Regionalprogrammen der ARD ausgestrahlt wurde. Das Schwarzbuch wie der Fernsehfilm zielten nicht nur auf Lidl, sondern darüber hinaus auf das Discount-Geschäftsmodell und den wachsenden Sektor prekärer, ungesicherter und unterbezahlter Arbeit in Deutschland. Mitten in einer Phase neoliberaler Dominanz im medienvermittelten politischen Diskurs stießen das „Schwarzbuch Lidl“ und die nachfolgenden Publikationen (wie das „Schwarzbuch Lidl Europa“) einen gesellschaftlichen Aufklärungsprozess an über die Probleme von Beschäftigten, insbesondere von Frauen, in den sozialen Schattenbereichen des Modells Deutschland. So deutlich sich die Lidl-Kampagne positiv auf das mediale Umfeld gewerkschaftlicher Arbeit auswirkte – im gewerkschaftlichen Organisationsinteresse war der Erfolg durchaus messbar, blieb aber hinter den Erwartungen zurück. Trotz vielfältiger Aktivitäten in und vor den Filialen von Lidl ist es nicht gelungen, eine relevante Zahl von Betriebsräten zu installieren, die – wie Jahre zuvor bei der Drogeriekette Schlecker – als Organisationskerne der Mitgliederentwicklung hätten fungieren können. Zwischen November 2004, also dem Monat vor Veröffentlichung des Schwarzbuchs, bis Ende 2006 hat sich die Zahl der ver.di-Mitglieder bei Lidl um knapp über 200 (bei damals rund 25 000 Beschäftigten in Deutschland) erhöht. In den ebenfalls zur Schwarz-Gruppe gehörenden Kaufland-Häusern war der positive Mitgliedersaldo allerdings deutlich höher. 

GEGENMACHT NICHT GELUNGEN

Ulrich Dalibor, Bundesfachgruppenleiter für den Einzelhandel in der Berliner ver.di-Zentrale, meint im Rückblick auf die Kampagne, es sei zwar gelungen, in der Öffentlichkeit klarzumachen, „was der Billigwahn der Discounter anrichtet“. Aber es sei ver.di nicht gelungen, „im Unternehmen selbst Gegenmacht aufzubauen“. Angesichts der massiven Vorwürfe hätten sich viele Beschäftigte persönlich in ihrer beruflichen Identität angegriffen gefühlt. Dies sei einer der Gründe, weshalb die Lidl-Beschäftigten – anders als die Schlecker-Frauen – ihre Interessen im Unternehmen nicht selbst in die Hand genommen hätten. 

Agnes Schreieder, heute stellvertretende Landesleiterin von ver.di Hamburg, hebt, anders als Dalibor, hervor: „Den Konflikt zwischen Loyalität zum Arbeitgeber und dem eigenen Wunsch nach Verbesserungen gibt es bei solchen Kampagnen immer. Aber ohne den Druck auf den Konzern, der nur durch die Medien und die soziale Bewegung möglich war, hätten wir es nie geschafft, eine spürbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei Lidl zu erreichen.“ 

Ein weiterer Grund für den begrenzten Organisationserfolg der Kampagne ist zu vermuten: Viele Beschäftigte wurden von der überwältigenden negativen Publizität ihres Arbeitgebers eher verschreckt und hatten berechtigte Angst, sich innerhalb der repressiven Lidl-Unternehmenskultur offen für ihre gewerkschaftlichen Interessen einzusetzen. Es ist ihnen nicht entgangen, dass die Lidl-Filiale in Calw im Oktober 2005 trotz öffentlicher Proteste kurzerhand geschlossen wurde, als die Beschäftigten sich anschickten, einen Betriebsrat zu wählen. 

Tatsächlich hat sich die Kampagne positiv für die Beschäftigten ausgewirkt. Das Management bemühte sich in der Folge darum, die schlimmsten Auswüchse im Umgang mit den Mitarbeiterinnen zu unterbinden. In einer Stellungnahme auf Anfrage der „Mitbestimmung“ verweist Stefan Krückel von der mittlerweile bestehenden Lidl-Pressestelle auf die jetzt im Unternehmen geltenden „Verhaltensgrundsätze im Umgang mit den Mitarbeitern“. Darin heißt es unter anderem: „Wir verhalten uns so, dass wir als attraktiver Arbeitgeber bekannt und geschätzt sind.“ 2010 erhöhte Lidl für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Filialen und Lagerbetrieben den Stundenlohn auf zehn Euro. Inzwischen liegt er bei elf Euro und damit bei den meisten Einstiegsgehältern über dem tariflichen Niveau. Beschäftigte bestätigen, das Arbeitsklima habe sich in den letzten Jahren verbessert. 

Die Schwarzbücher Lidl haben die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Geschäftsmodell gelenkt, das nicht nur im Discountbereich des Lebensmittelhandels besteht. Zahlreiche Nachfolgerecherchen (wie etwa die ARD-Reportagen zum Textildiscounter KIK 2007, Bewachungsgewerbe 2007, Amazon ab 2012) deckten Missstände auf: Missachtung gesetzlicher Arbeitsrechtsstandards, Be- und Verhinderung von Betriebsratswahlen, Qualitätsmängel bei den Produkten, Preisdruck auf deutsche und ausländische Zulieferer, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in Zulieferunternehmen der Billiglohnländer Asiens. Die Schwarzbücher haben ganz wesentlich dazu beigetragen, die Kehrseite eines Marktliberalismus in Deutschland und Europa für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. 

Nachfolgerecherchen gab es auch zu Lidl. Im März 2008 veröffentlichte der „Stern“, gestützt auf Dokumente einer von Lidl beauftragten Detektei, dass die Beschäftigten in über 200 Filialen überwacht und bespitzelt wurden. Lidl-Chef Klaus Gehrig erklärte, davon habe die Geschäftsführung des Konzerns nichts gewusst. Aber schon in den beiden Schwarzbüchern war nachzulesen, dass Lidl-Mitarbeiterinnen durch Video, Testkäufer und weitere rigide Kontrollen überwacht wurden. Wie das Magazin „Focus“ im Mai 2008 meldete, wurde gegen den Lidl-Konzern wegen der Bespitzelung der Mitarbeiterinnen und der Missachtung des Datenschutzes ein Bußgeld von 1,462 Millionen Euro verhängt. Im April 2009 enthüllte dann der „Spiegel“ die systematische – und illegale – Erfassung der Krankheitsdaten der Beschäftigten. 

Die Schwarzbücher Lidl haben im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wesentlich dazu beigetragen, den öffentlichen Raum für kritische Medienberichterstattung aus der Arbeitswelt zu erweitern. Anderen gewerkschaftlichen und außergewerkschaftlichen Kampagnen, etwa zum gesetzlichen Mindestlohn oder zum Datenschutz am Arbeitsplatz, wurde eine durch Fakten und Erfahrungen gestützte Plausibilität gegeben. Insofern liegt die Bedeutung des „Schwarzbuchs Lidl“ und des „Schwarzbuchs Lidl Europa“ nicht nur in der Aufklärung über die mit dem Discountmodell einhergehenden Arbeitsbedingungen. Erstmals nach Jahren marktliberaler Dominanz wurde der anwachsende Sektor prekärer Arbeit in Deutschland und anderswo zu einem breiten, allgemein wahrgenommenen Medienthema. Damit verbunden war ein schwer messbarer, aber auf lange Sicht spürbarer Legitimitätsgewinn für gewerkschaftliches Handeln sowohl in den Medien wie auch in der Bevölkerung.

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