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Magazin Mitbestimmung

: 'Unsere Strategie ist konfliktorientiert'

Ausgabe 12/2007

INTERVIEW Die neue Linie der IG Metall ist effizient und knallhart. Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzender, erläutert, wann Betriebsräte von der Gewerkschaft Unterstützung erwarten können.

Das Gespräch führten Cornelia Girndt und Christoph Mulitze.

Detlef Wetzel, wie kommt es, dass die Mitgliederentwicklung für die IG Metall in NRW zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt geworden ist?
Wir haben erkannt, dass wir nur in den Betrieben durchsetzungsfähig sind, in denen wir über einen hohen Organisationsgrad verfügen. Ohne aktive Mitglieder können wir unsere Ziele nicht erreichen, nicht im Betrieb, nicht tariflich und nicht gesellschaftlich. Wir denken unsere Aktivitäten vom Mitglied her, das ist Grundprinzip unserer mitgliederorientierten Offensivstrategie.

Manche behaupten, die IG Metall habe wieder das Siegen gelernt und das habe seine Ursprünge im Siegerland.
Als ich vor zehn Jahren erster Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Siegen wurde, hatten wir ein Minus von 40.000 Mark in der Ortskasse und waren schlicht nicht mehr handlungsfähig. Im Zuge der großen Stahlkrise hatten wir 25 Prozent aller Mitglieder in Siegen verloren. Wir waren fleißig, gaben unser Bestes, aber das änderte nichts am Rückgang der Mitglieder.

Und dann …?
Also fragten wir uns: Welche Themen sind so heiß, dass wir mit ihnen Mitglieder gewinnen und binden? Und wir haben dann die Ergebnisse unserer Arbeit daran gemessen, ob wir unsere Ziele erreicht und die Mitgliederzahlen gesteigert hatten. Später wurde die Mitgliederwerbung zum integralen Bestandteil von allen unseren Kampagnen wie "Besser statt billiger", "Tarif aktiv" oder "Gleiche Arbeit - gleiches Geld". Damit aktivieren wir unsere gewerkschaftlichen Strukturen.

Schaut ihr euch die Entwicklung der Mitgliedszahlen an und messt daran, ob eine Kampagne gut oder schlecht ist?
Im Kern ist das so. Kampagnen sind dann erfolgreich, wenn sie die Organisation und die politische Handlungsfähigkeit stärken. Wir brauchen messbare Erfolge, jeder muss den Mut haben, seine eigene Arbeit zu messen. Natürlich investieren wir auch in Aktivitäten, bei denen der Erfolg nicht schon eine Woche später sichtbar ist oder die inhaltlich wichtig sind, organisationspolitisch aber keinen direkten Effekt haben. Sich dort zu engagieren kann jedoch nur die Ausnahme von der Regel sein.

Muss die IG Metall Konflikte in den Betrieben zuspitzen, damit es zu einem Mitgliedergewinn kommt?
Unsere Strategie ist konfliktorientiert. Wir wissen, nur mit Konfliktbereitschaft und Durchsetzungsstärke sind wir erfolgreich. Stellvertreterpolitik ist eher konfliktvermeidend mit der Folge, dass viele Mitglieder die Bindung zur IG Metall verlieren.

Wenn nun aber ein Betriebsrat mit einem Problem zu euch kommt, das nicht zur Mobilisierung taugt?
Betriebsräte, die von der IG Metall unterstützt werden wollen, bekommen von uns Hilfe in bester Qualität. Aber wir erwarten umgekehrt von diesem Betriebsrat oder Vertrauensmann auch einen Beitrag, der die IG Metall stärkt, indem wir ein Mitgliederprojekt verabreden.

Und wenn nun die Betriebsräte die Gegenleistung nicht erbringen?
Zu meiner Zeit in Siegen haben wir Betriebsräten, die sich organisationspolitisch nicht engagierten, die Unterstützung auch mal verweigert. Ich erinnere mich an den Fall eines Betriebsrates, dem wir mehrmals geholfen hatten. Als er mal wieder um aufwändige Unterstützung bat, die einen Sekretär eine Woche gekostet hätte, haben wir ihm gesagt: "Wenn du einen anständigen Organisationsgrad in deiner Firma hast, kannst du wiederkommen."

Führt das nicht zu Frust bei den Betriebsräten?
Bei den Betriebsräten, die durch unsere Unterstützung stärker werden, weil sie sich organisationspolitisch besser aufstellen, kommt Freude auf, nicht Frust. Wir werden getragen von einer Welle der Zustimmung.

Ist euer Ansatz nicht stark betriebswirtschaftlich geprägt nach dem Motto "Jede Aktivität muss sich auszahlen"?
Es kann ja nicht verkehrt sein, mit unseren Mitgliedsbeiträgen effizient und zielgerichtet umzugehen. Eine zentrale Säule ist dabei die Beteiligungsorientierung. Bei allen Prozessen können sich unsere Mitglieder, unsere Vertrauensleute und Betriebsräte aktiv einbringen.

Wie kommuniziert die IG Metall diese Erwartungshaltung?
Wir ziehen uns nicht in einen stillen Raum zurück, um diskret Verhandlungen mit dem Arbeitgeber zu führen und anschließend einem staunenden Publikum die Ergebnisse mitzuteilen. Sondern wir diskutieren zum Beispiel Abweichungen vom Tarifvertrag mit unseren Mitgliedern, die aktiv Verantwortung übernehmen.

Das hat für die Gewerkschaft den Vorteil, dass viele Schultern ein nicht so glänzendes Ergebnis mitzuverantworten haben.
Je mehr aktive Mitglieder sich einbringen, desto besser werden die Ergebnisse. Wir beziehen heute die Belegschaften in die Prozesse und Entscheidungen ein und sprechen dabei auch jene Beschäftigten an, die sich bisher nicht angesprochen fühlten. Das bringt uns neue Mitglieder. Unser Grundsatz: keine Beratung, kein Konflikt ohne umfassende Mitgliederbeteiligung und -gewinnung.

Ist der Betrieb der Ort der Debatten?
Alle unsere landesweiten Kampagnen sind darauf angelegt, dass sie im Betrieb stattfinden. Unsere Mitglieder sind in der Regel besser informiert durch Mitgliedermailing, Dialogmarketing, SMS-Infos. Unsere Botschaft lautet: Wir kommunizieren intensiv mit unseren Mitgliedern und Funktionären, die Einfluss auf alle Fragen nehmen können. Dagegen bleiben Nichtmitglieder außen vor, solange bis sie eben Mitglied werden.

Trägt aktivierende Betriebspolitik auch Konflikte ins Unternehmen hinein?
Man kann nirgendwo einen Konflikt hineintragen, wo keiner ist.

Man könnte schon etwas anzetteln …
Wenn ein Arbeitgeber die Tarifbindung im Arbeitgeberverband aufgibt, weil er keinen Tariflohn mehr zahlen will - da brauchen wir keinen Konflikt hineintragen, der ist schon da. Auch in den Betrieben, in denen Leiharbeiter eingesetzt und schlecht bezahlt werden, ist der Konflikt schon da. Wir greifen diese Konflikte auf und suchen nach Lösungen.

Die IG Metall hat rund 1000 Leiharbeiter in NRW gewonnen - ist das ein direkter Erfolg der Kampagne "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"?
Wir haben einen Paradigmenwechsel vorgenommen, weil wir die Leiharbeitnehmer nicht in den Leiharbeitsfirmen selbst organisieren können. Dort läuft auch die Betriebsratsarbeit unter anderen Vorzeichen …

Wegen der hohen Fluktuation?
Wir haben als IG Metall in neun oder zehn kleineren Leiharbeitsfirmen Betriebsräte gegründet. Noch ehe wir wussten, wer genau ein Mandat hat, war die Hälfte der Betriebsmitglieder schon wieder weg. Am Ende blieben nur noch Disponenten als Betriebsräte übrig, und die sind die natürlichen Gegner eines Leiharbeiters.

Wie habt ihr umgesteuert?
Wir packen das Thema nun dort an, wo wir stark und schon als IG Metall vertreten sind - bei den Entleihern. Sie knebeln den Verleiher, bestimmen den Preis und das Maß der Ausbeutung. Dort diskutieren wir nun mit Betriebsräten, Vertrauensleuten und der Belegschaft alle Fragen rund um Leiharbeit, und dort organisieren wir auch die Leiharbeiter.

Ist der Leiharbeiter schwieriger zu gewinnen als der Stammmitarbeiter?
Ich kann aus meiner persönlichen Erfahrung sagen: Der Leiharbeiter ist so leicht und so schwer zu organisieren wie andere auch. Er muss nur angesprochen werden, er oder sie muss nur wertgeschätzt werden, man muss ihn nur fragen, was er braucht und was wir zusammen für seine Interessen tun können.

Er muss also nur Mitglied der IG Metall werden.
Nein, das allein wäre keine Lösung. Unsere Lösung heißt: "Gleiche Arbeit, gleiches Geld", und dabei geht es eben nicht um zehn Cent mehr pro Stunde, sondern um fünf Euro.

Was haben die Kampagnen bisher an Mitgliedern gebracht?
Wir haben in NRW unsere Mitgliederentwicklung gedreht. Noch vor vier Jahren hatten wir um die fünf Prozent minus im Jahr. Jetzt liegen wir bei plus/minus null. Bei den betriebsangehörigen Mitgliedern verzeichnen wir sogar ein Plus von fast einem Prozent. Und wir gewinnen Durchsetzungsstärke in den Betrieben und der Gesellschaft. Die Gewinnung und Bindung unserer Mitglieder ist somit die politischste Aufgabe überhaupt.

Was passiert, wenn ein schwach organisiertes Unternehmen vom Tarifvertrag abweichen will?
In manchen Firmen mit niedrigem Organisationsgrad sagen wir zum Arbeitgeber: "Hol dir das Geld bei den Nichtmitgliedern. Da kannst du einsparen." Denn wer sich nicht organisiert, gibt dem Arbeitgeber das Signal, alles mit sich machen zu lassen. Für die Nichtmitglieder sind wir nicht verantwortlich, aber unsere IG-Metall-Mitglieder bekommen weiterhin das, was der Tarifvertrag hergibt.

Die Mitglieder finanzieren durch ihr Geld die Standards des Tariflohns, während andere Trittbrettfahrer sind - ohne Gegenleistung.
Genau, und das ärgert unsere Mitglieder. Es geht um weit mehr als um Mitnahmeeffekte. Wir sagen, ein Nichtmitglied schwächt die Durchsetzungskraft der gesamten Belegschaft. Denn nur mit gut organisierten Belegschaften haben wir gute Tarifverträge. Wir machen betriebsnahe Tarifpolitik zum "Gewinnerprojekt". Unsere Erfolge in den betrieblichen Tarifauseinandersetzungen sind entscheidend für unsere Erfolge im Flächentarifvertrag.

Viele Kampagnen, viele Konflikte - aber so viele Sekretäre hat die IG Metall nicht. Wie ist das flächendeckend zu leisten?
Wir stellen unsere Arbeit auf den Prüfstand und lassen das weg, was keinen Beitrag zu unseren Zielen leistet. Damit haben wir Ressourcen frei, ohne dass es einen Cent mehr kostet. Und wir können eine ganze Menge mehr tun als vorher.

Aber auch einiges weniger. Wenn der IG-Metall-Bevollmächtigte in Siegen nicht mehr ehrenamtlicher Arbeitsrichter ist, hat das auch Folgen.
Nicht alles ist von hauptamtlichen Gewerkschaftssekretären zu leisten. Auch Betriebsräte können hier ihre Erfahrung sehr gut einbringen.

Mitbestimmung ist Mitverantwortung für das Unternehmen und setzt auf den Dialog: Hat eine Konfliktstrategie nicht erhebliche Risiken und Nebenwirkungen?
Wir wollen organisationspolitisch stärker werden. Wer dieses Ziel auf dem Weg vertrauensvoller Kooperation erreicht, kann das gerne tun. Deshalb kommen wir ja auch zu anderen Organizing-Formen als in den USA. "Besser statt billiger" funktioniert als Standort-Konzept nur mit starken Betriebsräten, mit Mitbestimmung und Tarifverträgen. Das ist unser Plus in Deutschland.

Habt ihr euch gezielt Ideen aus den USA geholt?
Nein. Ich war überrascht, als ich vor einem halben Jahr auf dem transatlantischen Dialog der Hans-Böckler-Stiftung hörte, dass einige Amerikaner Nordrhein-Westfalen für die Organizing-Bastion in Westeuropa halten. Natürlich wissen wir, dass die Mitgliederfrage weltweit eine existenzielle Frage für die Gewerkschaften ist. Aber wir haben unsere Strategien selbst entwickelt - aus der Not und aus der Notwendigkeit heraus.

Auf welche Fähigkeiten kommt es an?
Im Moment beschäftigen wir uns mit der Qualifizierung unserer haupt- und ehrenamtlichen Kollegen. Überall werden Schulungen über "Konfliktvermeidung" angeboten. Wir müssen stattdessen lernen: "Wie bearbeiten wir Konflikte produktiv?" Konflikte sind nichts Schlimmes, sie können dazu beitragen, uns stärker zu machen.

Die Gewerkschaft ver.di hat beschlossen, eine Organizing-Akademie zu gründen und 20 Organizer auszubilden. Wird das auch in der IG Metall Schule machen?
Nicht zehn, nicht 20, alle Vertrauensleute und alle Betriebsräte müssen das bei uns können. Wir stellen Standards auf für besonders erfolgreiche Mitgliederbeteiligung und -entwicklung und qualifizieren alle. Nur so kommen wir wirksam in die Breite. Wir brauchen keine Organizer wie in Amerika, die von Betrieb zu Betrieb ziehen, damit sie ihre 50-Prozent-Zustimmung bekommen.

Detlef Wetzel, wie wirst du als Zweiter Vorsitzender der IG Metall diese Arbeit bundesweit weiterführen?
Wir haben im Bezirk Nordrhein-Westfalen die Ressortzuständigkeit aufgelöst und unsere Arbeit in Projekten organisiert. Auch in der Gesamtorganisation sollten wir noch stärker in Projekten denken und kampagnenfähiger werden, wobei die Mitgliederentwicklung ein wesentlicher Erfolgsmaßstab sein muss.


ZUR PERSON
Detlef Wetzel wurde auf dem Gewerkschaftstag von 87,4 Prozent der 500 Delegierten zum Zweiten Vorsitzenden der IG Metall gewählt. Wetzel, 54, ist in Siegen geboren, der Vater Hufschmied, die Mutter Fabrikarbeiterin. Nach Hauptschule und Berufsfachschule wird er Werkzeugmacher. Auf dem zweiten Bildungsweg macht er die Fachhochschulreife und studiert in Siegen Sozialarbeit - mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung. 1980 wird Wetzel in der IG-Metall-Verwaltungsstelle Siegen Gewerkschaftssekretär, 1997 Erster Bevollmächtigter. 2004 wird er Bezirksleiter der IG Metall in Nordrhein-Westfalen, das ein Viertel der 2,3 Millionen IG-Metall-Mitglieder stellt. Wetzel ist seit 1969 SPD-Mitglied und derzeit stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der SMS GmbH und der ThyssenKrupp Steel AG. Sein Hobby ist die Bienenzucht.

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