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Sozialversicherung: Versicherungsfremde Leistungen

Ausgabe 06/2005

Die Lohnnebenkosten müssen runter - so der breite politische Konsens. Da lohnt sich ein Blick, wofür die Sozialversicherungen das Geld überhaupt ausgeben. Mehr als ein Sechstel der Leistungen gehören eigentlich gar nicht zu den Aufgaben von Renten-, Gesundheits- und Arbeitslosenversicherung - so eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Dass die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat ist, zeigt sich auch beim Geld. 465,31 Milliarden Euro gaben die Sozialversicherungsträger 2002 aus - das sind mehr als 45 Prozent der Staatsausgaben. Überwiegend finanzieren sich die Sozialversicherungen aus Beiträgen. Die Rentenversicherung erhält zudem einen Bundeszuschuss; bei der Bundesanstalt für Arbeit (seit 2004: Bundesagentur für Arbeit) ist der Bund verpflichtet, das Defizit auszugleichen.

Unterm Strich machen die Bundeszuschüsse aber nicht wett, dass die Sozialversicherungen für Leistungen aufkommen, die eigentlich von der Allgemeinheit getragen werden müssten, also aus Steuermitteln. 83,7 Milliarden Euro blieben 2002 als versicherungsfremde Leistungen übrig - dabei geht das DIW von einer weiten Definition der "versicherungsfremden Lasten" aus. Selbst wenn man diese enger fasst, bleiben nach Berechnungen des Instituts 35,3 Milliarden Euro, die falsch - zu Lasten von Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern - finanziert sind.

Kein Pappenstiel: Die fehlfinanzierten 83,7 Milliarden Euro entsprechen laut DIW einem "Aufkommen von gut neun Beitragspunkten". Selbst bei der engen Definition bleibe immer noch ein Aufkommen von knapp vier Beitragspunkten. Um diese Größenordnung ließen sich die Beiträge also senken, wenn die Ausgaben der Sozialversicherung richtig finanziert würden.

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  • Die Lohnnebenkosten müssen runter - so der breite politische Konsens. Da lohnt sich ein Blick, wofür die Sozialversicherungen das Geld überhaupt ausgeben. Mehr als ein Sechstel der Leistungen gehören eigentlich gar nicht zu den Aufgaben von Renten-, Gesundheits- und Arbeitslosenversicherung - so eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Zur Grafik

Rentenversicherung: Den größten Brocken machen die versicherungsfremden Leistungen bei der Rentenversicherung aus. Von zehn Euro, welche die Rentenversicherung ausgibt, gehören vier eigentlich nicht zu ihren Leistungen. Der Bund zahlt zwar einen Zuschuss, aber es verbleiben immer noch 39,2 Milliarden. Den weitaus größten Teil machen Witwen- und Witwerrenten aus. Sie galten bis 1986 als versicherungseigene Leistung. Seitdem werden allerdings die Einkünfte des hinterbliebenen Ehepartners auf die Witwenrente angerechnet. Diese Rentenart sei damit "von einer Versicherungsleistung zu einer Fürsorgeleistung" geworden, die nur noch bei Bedürftigkeit gezahlt wird, sagen die Wirtschaftsforscher.

Auch die Frührenten (Altersrente vor dem 65. Lebensjahr, Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten wegen Arbeitsmarktlage) gelten als versicherungsfremd - dies umso mehr, seitdem es versicherungsmathematische Abschläge für diejenigen gibt, die vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Die "normalen" EU-/BU-Renten (also nicht wegen Arbeitsmarktlage) gehören allerdings zu den Risiken, welche die Rentenversicherung abdecken soll. Rückläufig sind die Ausgaben für Kriegsfolgelasten: 1985 machten sie noch 9,5 Prozent der gesamten Rentenausgaben aus, 2002 waren es nur noch 6,7 Prozent. Auch der Anteil der Anrechnungszeiten wird weiter zurückgehen - weil die Renten auslaufen, bei denen die Ausbildungszeiten großzügig berücksichtigt wurden, und weil Neurentner ab 2005 geringere oder gar keine Anrechnungszeit-Ansprüche mehr erwerben. Rentenzuschläge (etwa für Kindererziehungsleistungen) spielen eine fast untergeordnete Rolle. Ein Teil der Zuschläge ist - ebenso wie die Vereinigungslasten - auf die politisch gewollte deutsche Einheit zurückzuführen.

Krankenversicherung: Hier lässt sich darüber streiten, ob die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen zu ihren Aufgaben gehört. Immerhin schlägt sie mit 18,9 Milliarden Euro zu Buche. Es stelle sich die Frage, "ob die Finanzierung von Ausgaben zur Unterstützung der Familie von einzelnen Gruppen oder gesellschaftlich zu tragen" sei, so das DIW. Wenn Familienförderung als "von der gesamten Gesellschaft zu leistende Aufgabe angesehen" werde, liege ein "Fehleinsatz der Beiträge" vor - zumindest, solange sich ganze Personenkreise der Beitragspflicht entziehen oder ihr entzogen sind - Beamte, Selbstständige und Arbeitnehmer mit Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze.

In der aktuellen Diskussion ziele die so genannte Kopfpauschale darauf ab, Gesundheitsversicherung und Umverteilung zu trennen; durch eine Bürgerversicherung, in die alle Einkunftsarten einbezogen sind, werde die Umverteilung auf mehr Schultern verteilt und dadurch "gerechter" als der gegenwärtige Zustand.

  • Die Lohnnebenkosten müssen runter - so der breite politische Konsens. Da lohnt sich ein Blick, wofür die Sozialversicherungen das Geld überhaupt ausgeben. Mehr als ein Sechstel der Leistungen gehören eigentlich gar nicht zu den Aufgaben von Renten-, Gesundheits- und Arbeitslosenversicherung - so eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Zur Grafik

Arbeitslosenversicherung: Ob eine Arbeitslosenversicherung "das angemessene Konzept für eine Institution ist, die die Arbeitsförderung als Aufgabe hat,", sei "seit langem strittig", stellt die Studie fest. Es stuft Eingliederung und alle anderen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik als versicherungsfremd ein. Sie machen insgesamt 22,1 Milliarden Euro aus. Das sei kein Plädoyer dafür, diese Leistungen einzustellen - sondern sie über Steuern zu finanzieren, betont das DIW. Über die Bundesagentur für Arbeit finde ein "massiver monetärer Transfer von West nach Ost" statt. Im Westen erzielt die Bundesagentur seit 1993 regelmäßig Überschüsse (2003: 11,1 Milliarden Euro). Sie werden genutzt, um die Defizite im Osten auszugleichen. Diese betragen seit zehn Jahren 12 bis 13 Milliarden Euro.

Das DIW weist darauf hin, dass die versicherungsfremden Leistungen keine konstante Größe sind: Durch gesetzliche Veränderungen kommen neue Personengruppen und Ansprüche hinzu; andere fallen heraus. Dabei gab es auch bei den jüngsten Änderungen keine einheitliche Tendenz: Dass die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld in die gesetzliche Krankenversicherung mit einbezogen werden, erhöht die Summe der versicherungsfremden Leistungen. Dass die gesetzliche Krankenversicherung seit 2004 kein Sterbegeld mehr zahlt, verringert sie. Generell - so das DIW - kämen statt einer Beitragsfinanzierung zwei Alternativen in Betracht:

  • eine "stärkere individuelle Zuordnung des Risikos. Sie läuft auf Privatisierung hinaus. Oder:
  • eine Steuerfinanzierung. Sie wirft die Frage auf, welche Steuern erhöht werden sollen.

Gesamtwirtschaftliche Wirkungen einer Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Sozialversicherung, Gutachten des DIW im Auftrag des DGB-Bundesvorstands, der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung, März 2005 (pdf)

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