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Magazin Mitbestimmung

: Im Land der Bildungsarmut

Ausgabe 05/2008

LERNEN Egal in welche Etage des deutschen Bildungssystems man schaut: Es herrscht ein eklatanter Mangel an Plätzen und Chancen für die Lernenden, besonders für die Risikoschüler, die das Schulsystem produziert.

Von CHRISTIAN FÜLLER, Politikredakteur bei der taz

Es schien wie ein Tag des Jubels. Die Bildungsministerin des Bundes, Annette Schavan (CDU), legte im Kabinett ein 400 Seiten dickes Buch auf den Tisch, den Berufsbildungsbericht. Und verkündete Superlative: Erstmals seit 2001 sei die Marke von 600?000 Lehrstellen überschritten! Die zweithöchste Vertragszahl seit der Wiedervereinigung erreicht!

Nicht einmal das Angstwort Pisa konnte die Hausherrin in der Hannoverschen Straße mehr schrecken: "Ich habe die Initiative ergriffen", sagte Schavan, "ein Berufsbildungs-Pisa mit anderen europäischen Staaten abzustimmen." So wohl fühlten sich deutsche Bildungspolitiker schon lange nicht mehr. Der Generalsekretär des deutschen Handwerks, Hanns-Eberhard Schleyer, warnte bereits vor einem drohenden Lehrlingsmangel. Die Trendwende sei erreicht, so Schleyer.

Doch so weit ist es noch lange nicht. Man muss nur ein paar Seiten im Dossier des Triumphes, dem Berufsbildungsbericht, blättern und einige Grafiken näher studieren, dann kann man leicht erkennen: Der famose Erfolg der beruflichen Bildung ist nur eine Fassade. Die gute Konjunktur verstellt den Blick auf den tatsächlichen Zustand des Ausbildungsmarktes.

Denn nicht einmal dem Aufschwung konnte es gelingen, eine ausgeglichene Lehrstellen-Bilanz zu erzeugen: 385?000 so genannte Altbewerber warten noch immer auf einen regulären Ausbildungsplatz, sie warten in einem Übergangssystem. Und für Nachschub ist gesorgt. Auch im Jahr 2008 werden wieder 200?000 Lehrstellen fehlen, so gesteht es niemand anders als die Bundesregierung selbst.

Es ist ratsam, die Langzeitentwicklung genauer zu betrachten: Die Quote der vermittelten echten Ausbildungsplätze, gemessen am Schülerjahrgang, fällt seit Jahren. Dagegen steigt der Anteil der Jugendlichen, die in Warteschleifen und Ersatzmaßnahmen geparkt werden, stetig an. Die beiden Kurven steuern unaufhaltsam aufeinander zu. Das bedeutet: Eine Trendwende in der Berufsbildung gibt es nicht, die Produktion Hunderttausender junger Ungelernter jedes Jahr hat System.

Das ist keine Besonderheit der beruflichen Bildung. Das deutsche Bildungssysstem insgesamt ist gekennzeichnet durch einen Mangel an Plätzen und Chancen. Es werden im großen Stil Ungelernte, Bildungsverlierer und Desillusionierte entlassen. Das gilt, egal in welche Etage des Bildungshauses man blickt. In der frühkindlichen Bildung fehlen zigtausend Plätze für den Nachwuchs. Bei den Einjährigen finden im Westen zwei von hundert Kindern unter einem Jahr einen Krippenplatz.

Und drei Etagen höher, an den Hochschulen, sieht es nicht anders aus. Auf die Bundesrepublik kommt gerade ein doppelter Abiturjahrgang zu. Der wird dafür sorgen, dass im Jahr 2012 viel mehr Schulabsolventen auf den Markt drängen - und es an den Hochschulen eng wird. In wenigen Jahren rechnen die Kultusminister mit 2,5 Millionen Studierenden. Aber schon heute, bei zwei Millionen Studierenden, sind die Hochschulen derart überfüllt, dass sich 1,8 Studenten einen Studienplatz teilen müssen.

DAS SCHULSYSTEM PRODUZIERT UNGLEICHE BILDUNGSCHANCEN_ Die größte Tristesse aber herrscht im Herzstück des Bildungssystems, der Schule. Die deutschen Schulen haben überall Spitzenplätze inne - von unten gesehen. Nirgends in der OECD sind, wie die internationalen Schulleistungsstudien Pisa zeigen, die Leistungsunterschiede zwischen Schulen als auch Schülern so hoch wie hier.

Kein anderer der Industriestaaten leistet es sich, so viele Talente so systematisch zu vergraulen. Sechs Mal so groß ist die Wahrscheinlichkeit für ein Akademikerkind, auf das Gymnasium zu kommen, wie für ein Kind von Eltern aus der so genannten "unteren sozialen Herkunftsgruppe" - und zwar bei gleicher intellektueller Befähigung. Auch das ist eines der vielen ernüchternden Ergebnisse der Pisa-Studie für Deutschland.

Als Bundespräsident Horst Köhler kürzlich eine Rede zu halten hatte, klang er wie ein Revoluzzer. "Wir wähnten uns weit weg von der feudalen Gesellschaft und ihren durch Herkunft und Geburt bestimmten Lebenswegen", sagte er in der Berliner Akademie der Wissenschaften. "Jetzt haben wir es schwarz auf weiß, dass es bei uns auch heute noch ererbte Privilegien gibt." Man reibt sich die Augen. Aber das ist tatsächlich die Bilanz der deutschen Schulen im 21. Jahrhundert: Aufstiegschancen werden vererbt, die zwingende Folge des Schulsystems heißt Bildungsarmut für viele.

Wie kommt das? In Deutschland herrscht eine Art pädagogisches Apartheidssystem. Durch die Kombination von bildungsschwachen Kindergärten und früher Auslese in den Grundschulen bereits mit zehn Jahren werden rund 800?000 Schüler in Sonder- und besonders schlechte Hauptschulen quasi aussortiert. Diese Auslese erfolgt vor allem aufgrund der Herkunft, Prekariat vererbt sich. Aus den Hartz-IV-Schulen - so der neue landläufige Begriff - wieder herauszukommen ist so gut wie nicht möglich.

Der ehemalige Direktor des Berliner Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung, Wolfgang Edelstein, nennt diese Schulen daher "Armutsfallen". Und der amtierende Max-Planck-Chef, Jürgen Baumert, porträtiert sie als Marienthalschulen. Das heißt, er vergleicht die Situation in diesen Schulen mit jener der "Arbeitslosen von Marienthal".

In der gleichnamigen berühmten Studie hatte der Forscher Paul Lazarsfeld in den 30er Jahren in Marienthal bei Wien einen Zustand der allgemeinen Depression gefunden. Ähnlich ist es in einem von Baumert untersuchten Teil besonders schlechter Hauptschulen. Es sind Schulen, in denen keine Hoffnung mehr herrscht und die Schüler sich gegenseitig herunterziehen.

Die Schulstudie Pisa zeigte im Jahr 2001, dass fast ein Viertel der 15-Jährigen Risikoschüler sind. Kaum ein Thema hat die Öffentlichkeit seitdem so aufgerüttelt wie die neue Bildungskrise. An den strukturellen Problemen aber hat sich seitdem so gut wie nichts geändert. Wer die Bildungsarmut wirksam bekämpfen will, der muss ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergreifen - und zwar so schnell wie möglich. Seit Pisa ist schon zu viel Zeit vergeudet worden.

DER REFORMSTAU IST NICHT AUFGELÖST_ Deutschland versuche, mit einem Bildungssystem aus dem 19. Jahrhundert den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen, sagen internationale Beobachter gerne. Das gilt auch für das einst so viel gerühmte Berufsbildungssystem. Das Duale System sei am Ende, bilanzieren die einen brutal.

Andere sprechen vornehm von einer "Krise der Beruflichkeit". Diese Krise bietet viel Stoff für melancholische Erinnerungen an das Wirtschaftswunder und an Qualität made in Germany. In Wahrheit legt sie eine alte Schwäche des deutschen Bildungssystems bloß - die Schlucht zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung.

Die berufliche Bildung war von jeher nur zur Entlastung des unzureichenden Schulwesens gedacht. Zu diesem Zweck rückte man zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts gewissermaßen die Werkbänke an die niederen Schulen heran. Sollte die Armee die Schule der Nation sein, so galt das Handwerk als die Lehrwerkstatt des Volkes. Ziel war es, die Masse der Jugendlichen "von den Einflüssen der Straße fernzuhalten".

Rund 80 Prozent der Jugendlichen erlitten diese Halbbildung. Höhere Bildung hatte die damalige Klassengesellschaft für Arbeiter- und Bauernkinder nicht vorgesehen. Aus der Notlösung Berufsbildung wurde zwischenzeitlich zwar eine Erfolgsstory. Aber auch das galt im Grunde nur bis in die 1970er Jahre. Seitdem gibt es immer wiederkehrende schwere Krisen der Ausbildung in Betrieb und Berufsschule. Die duale Ausbildung lieferte lange den Nachschub an qualifizierten Facharbeitern.

Für die Industriegesellschaft war das gut. In der heutigen Wissensgesellschaft aber ist das nur noch eine Fußnote der Geschichte. Jene halbgebildeten Absolventen der Volksschulen, die damals nicht auf der Straße herumgammeln sollten, sind die Risikoschüler, die wir heute aus der Pisa-Studie kennen. In den Hauptschulen sammeln sich 60 Prozent von ihnen. Für diese untere Kategorie von Schulabgängern stellt die Wirtschaft nicht mehr genug Lehrstellen bereit. Das gilt heute auch in Branchen, von denen man das nicht erwartet hätte.

KEIN BEDARF AN UNQUALIFIZIERTEN_ Wahrscheinlich lässt sich an keiner Branche der technologische Wandel alter Industrien besser illustrieren als an der Stahlherstellung. Als der Stahl Jobmaschine und Motor für wirtschaftliche Entwicklung war, gab es im Bergbau etwa 40 Prozent ungelernter Kräfte, in der Eisenindustrie ein Viertel. Heute ist das ganz anders. Bei ThyssenKrupp Steel sind unter den rund 1300 Lehrlingen noch ganze sechs Prozent Hauptschüler zu finden.

"Man kann nicht sagen, dass wir sie nicht wollen", sagt Rudolf Carl Meiler von ThyssenKrupp Steel, "aber die Hauptschüler ziehen den Kürzeren bei den Tests." Gleichzeitig explodiert die Zahl der Hochqualifizierten bei Stahlunternehmen. Bei ThyssenKrupp bewarben sich im Jahr 2000 rund 1300 junge Leute mit Abitur oder Fachabitur, zuletzt waren es bereits über 2700. Und sie werden gebraucht. Denn Stahl ist ein intelligentes Produkt geworden.

In den Hallen beobachten Ingenieure auf computerisierten Steuerständen, ob die Stähle in einwandfreier Qualität produziert werden. Hauptschüler ohne Abschluss werden nur noch in einer Art Trostrunde eingestellt - als karitative Maßnahme, finanziert vom Arbeitsamt. Das Dilemma könnte größer nicht sein. Hier Risikoschüler, die kaum in der Lage sind, die Worte eines bedruckten Blatts Papier zu entziffern. Dort die neuen Qualifikationsanforderungen einer hoch technisierten Welt.

Und dazwischen die Schule und der Staat, der sie betreibt. Früher lautete die unausgesprochene Vereinbarung zwischen beruflichem und schulischem Bildungssektor in etwa so: Die eine Seite - die Schule - wirft zu einem frühen Zeitpunkt einen nicht geringen Anteil an Niedrigqualifizierten aus ihrer Bildungskette. Dafür stellt die andere Seite - Betriebe und Berufsschulen - für die Ausgestoßenen Jobs, Berufe und Karrieren bereit. Das war der Pakt.

Er garantierte so etwas wie gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bricht er, hat das dramatische Auswirkungen in beide Richtungen. Zum einen für die Schule. Es tritt ein Effekt ein, den viele Lehrer von Hauptschulen beklagen: Unterricht wird praktisch unmöglich. Die Perspektivlosigkeit schwappt von der Straße zurück in die Schulen - und demoralisiert ihre Insassen. Zum anderen wirkt sich die Entkopplung von Schul- und Ausbildungssystem auf die Gesellschaft aus.

Die Zukunftschancen der Jugendlichen, die keine Lehrstelle bekommen, sinken beträchtlich. Ihnen wird die Eintrittskarte in die Gesellschaft vorenthalten. Der Berufsforscher Martin Baethge warnt daher davor, dass un- und gering qualifizierte Bevölkerungsgruppen dauerhaft ausgeschlossen werden könnten und es zu einer Spaltung der Gesellschaft kommt. Man kann nicht sagen, dass Regierung und Tarifpartner nichts tun würden, um die Berufsbildung zu retten. Zehn schmissige Vorschläge haben sie gerade gemacht.

Aber man muss sich nur eine einzige Zahl anschauen, um zu erkennen, wie kleinherzig die Berufsbildungspolitik agiert. Um Azubis den Sprung an Hochschulen zu ermöglichen, werden 3000 Stipendien eingerichtet. Bei 625?000 neuen Azubis im Jahr 2007 ergibt das Aufstiegschancen für 0,48 Prozent der Lehrlinge. Dieser Wert sagt alles über den Stil der Bildungspolitik: Es fehlen zigtausende Hochqualifizierte - und die Verantwortlichen reagieren mit Maßnahmen auf Promilleniveau.

REFORMVORSCHLÄGE_ Es muss verhindert werden, dass die Schule das Berufsbildungssystem mit Schulverlierern überschwemmt. Das heißt, die Drop-out-Raten von acht Prozent Schülern ganz ohne Abschluss und 20 Prozent Risikoschülern müssen gesenkt werden. Das bedeutet: Die Schule braucht eine neue Philosophie des "no child left behind". Kein Kind darf zurückbleiben. Dazu gehört, das unsinnige Sitzenbleiben und das Abschulen in niedrige Schulformen schrittweise aufzuheben.

Jede Schule ist für ihre Schüler verantwortlich. Um Schulen wieder wirksam zu machen, muss in der Verfassung ein explizites Recht auf Bildung verankert werden. Zudem müssten die Haupt- und Sonderschulen so schnell wie möglich abgeschafft werden - denn sie vermitteln weder Kompetenzen noch Chancen. Eine pädagogische Revolution verlangt aber nach grundlegenden Veränderungen: Dazu gehören das Prinzip "Fördern statt Auslesen", die radikale Veränderung der Lehrerbildung hin zu einem individuellen Lehr-Lernstil und ein gewaltiger Investitionsschub in die Schulen.

Jährlich fehlen im deutschen Bildungssystem 50 Milliarden Euro im Vergleich zu den Ausgaben der wissbegierigsten Industriestaaten. Die duale Berufsausbildung muss mehr mit ihren Teilnehmern anfangen, das heißt, sie muss nach oben offener und nach unten transparenter werden. Es darf nicht sein, dass ausgerechnet die schwächsten Jugendlichen auf das komplexeste Teilsystem der Berufsbildung losgelassen werden, das so genannte Übergangssystem aus Warteschleifen und Ersatzmaßnahmen.

Das heißt, es muss einfache Basisqualifikationen für jene Schüler geben, die mit Defiziten aus den Schulen entlassen werden. Diese Qualifikationen müssen eine Anerkennung in Zertifikaten finden, das heißt, auch in den bundesstaatlich organisierten Maßnahmen des Sozialgesetzbuches müssen Ausbildungsziele verankert werden. Und es müssen nach oben viele Übergänge von der beruflichen in die akademische Bildung geschaffen werden.

Viele Karrierepfade des Berufsbildungssystems sind hochwertig, bieten ihren Absolventen aber keinen Anschluss etwa zu den Fachhochschulen. Das muss sich ändern - schon um den Rückstand der Bundesrepublik im Vergleich zu den Raten der Hochqualifizerten anderer Länder wettzumachen. Die Haupt- und Sonderschulen müssen so schnell wie möglich abgeschafft werden. Sie vermitteln weder Kompetenzen noch Chancen.


MEHR INFORMATIONEN

Der Text basiert auf Christian Füllers Buch: Schlaue Kinder, schlechte Schulen. Wie unfähige Politiker unser Bildungs-system ruinieren und warum es trotzdem gute Schulen gibt. München, Droemer Knaur 2008. 288 Seiten, 16,95 Euro

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