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Magazin Mitbestimmung

EU-Recht: Riskanter Vorstoß

Ausgabe 05/2014

In der EU sind Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte massiv unter Druck geraten. Die Gewerkschaften versuchen, mit einer sozialen Fortschrittsklausel, aber auch mit Änderungen im EU-Vertrag gegenzusteuern. Die Strategie ist nicht ohne Risiken. Von Eric Bonse

Die Debatte begann am 11. Dezember 2007 mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg. Die unternehmerische Freiheit im Binnenmarkt sei im Zweifel höher zu bewerten als gewerkschaftliche Rechte, befand das höchste EU-Gericht im Streit um Sozialdumping in Schweden. Zunächst sah es noch nach einem Einzelfall aus. Die sogenannte Viking-Entscheidung sei ein Ausrutscher und werde keine Schule machen, hofften die europäischen Gewerkschaften.

Doch kurz darauf bekräftigten die Luxemburger Richter ihre Linie mit einem zweiten Urteil im sogenannten Laval-Fall. Plötzlich sollte auf EU-Ebene nicht mehr gelten, was in Deutschland sogar im Grundgesetz verankert ist: das Sozialstaatsgebot und die Autonomie der Sozialpartner. Die Urteile offenbarten „einige grundlegende Schwächen des bestehenden Rechtsrahmens“, kritisierte der EGB. Die Richter am EuGH hätten eine inakzeptable Hierarchie zwischen unternehmerischen Grundfreiheiten und sozialen Grundrechten konstruiert. 

Seither sinnen die Gewerkschaften auf Abhilfe. Ihr Ziel ist es, die Soziale Marktwirtschaft, die im EU-Vertrag von Lissabon nach langem Ringen festgeschrieben wurde, endlich auch in den Köpfen der Luxemburger Richter zu verankern – und in der Praxis durchzusetzen. Nach langer Diskussion brachte der EGB ein „soziales Fortschrittsprotokoll“ ins Gespräch. Ein Zusatz zum Lissabon-Vertrag soll sicherstellen, dass soziale Schutz- und Arbeitnehmerrechte im EU-Recht mindestens den gleichen Stellenwert haben wie die Dienstleistungsfreiheit und der Binnenmarkt. Im Zweifel sollten die sozialen Grundrechte sogar Priorität erhalten. Wörtlich heißt es in dem Vorschlag des EGB vom März 2008: „Keine Regelung der Verträge und insbesondere nicht die Grundfreiheiten oder Wettbewerbsregeln sollten Vorrang vor den sozialen Grundrechten und dem sozialen Fortschritt haben. Im Fall eines Konflikts, sollten die sozialen Grundrechte Priorität erhalten.“ Der EGB wählte bewusst die Form eines Protokolls, weil es leicht und schnell zum EU-Vertrag hinzugefügt werden kann. Es genügt das Ja der 28 Staats- und Regierungschefs. Demgegenüber müssen Vertragsänderungen in einigen EU-Ländern per Volksabstimmung genehmigt werden – Ausgang ungewiss. 

Mit kleinen Änderungen sind natürlich auch nur kleine Verbesserungen zu erreichen. Doch genau darum ging es den Gewerkschaften zunächst auch. „Wir wollten ein rechtliches Gegengewicht schaffen, damit das nicht wieder passiert“, sagt Gabriele Bischoff vom DGB-Bundesvorstand mit Blick auf die umstrittenen EuGH-Urteile. Die Fortschrittsklausel sei dabei nur ein Zwischenschritt, so Bischoff. Sie sollte ohne langwierige Beratungen und Regierungskonferenzen eingeführt werden können. 

Eine Zeit lang sah es tatsächlich so aus, als könnten sich die Gewerkschaften mit dieser Forderung durchsetzen. Nach dem Scheitern des Lissabon-Vertrags bei einer Volksabstimmung in Irland im Jahr 2008 stand die soziale Fortschrittsklausel plötzlich auf der Tagesordnung in Brüssel. Doch die Freude sollte nicht lange währen. Großbritannien legte ein Veto ein. Damit war das Vorhaben gescheitert, die Debatte vorerst beendet.

ANGRIFF AUF SOZIALE GRUNDRECHTE

Sie brandete erst wieder auf, als die Finanz- und Eurokrise für einen massiven Angriff auf Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte in den Krisenländern genutzt wurde. Die internationale Troika der Geberländer, die sich aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission zusammensetzt, spielte dabei eine zentrale Rolle. Sie forderte explizit die Senkung von Tarif- und Mindestlöhnen, den Abbau der Tarifbindung, die Lockerung des Kündigungsschutzes und viele andere umstrittene Maßnahmen. 

Dass an dieser Politik des sozialen Kahlschlags nicht nur die EU-Kommission und die EZB, sondern auch Geberländer wie Deutschland beteiligt waren, macht die Sache besonders brisant. Denn fortan wurde der Angriff auf die sozialen und gewerkschaftlichen Grundrechte nicht mehr nur von einzelnen Unternehmen und ihnen gewogenen Richtern am EuGH in Luxemburg geführt. Nun kam er aus der Mitte der EU, auch wenn sich Brüssel und Berlin gern hinter der Troika verstecken.

Damit erreichte der Konflikt eine neue Dimension. Kommission und Zentralbank hätten sich sowohl über Menschenrechte als auch über EU-Recht hinweggesetzt, heißt es in einem Gutachten des Bremer Juraprofessors Andreas Fischer-Lescano für die Arbeiterkammer Wien. Unter anderem seien die Rechte auf Berufsfreiheit, die Tarifautonomie sowie das Recht auf Arbeitsentgelt verletzt worden, so Fischer-Lescano. Zu einem ähnlichen Urteil kam das Europaparlament Anfang März in einem Bericht zur Arbeit der Troika. 

Zwar haben die EU-Kommission, die EZB und auch die Bundesregierung diese Kritik zurückgewiesen. Doch der Schaden ist da: Vor allem in Griechenland, aber auch in Irland, Portugal und Zypern hat ein massiver Sozialabbau stattgefunden, die Gewerkschaften wurden zum Teil entscheidend geschwächt. Reicht vor diesem Hintergrund noch eine soziale Fortschrittsklausel? Oder muss die Diskussion um die soziale Dimension des Binnenmarkts und der Euro-Währungsunion komplett neu aufgerollt werden?

Diese Frage wirft der Regensburger Rechtswissenschaftler Thorsten Kingreen in einem Gutachten für das Hugo Sinzheimer Institut auf. In einer Analyse zu Potenzial und Alternativen des Fortschrittsprotokolls weist er auf die Eingriffe in die Gestaltungsfreiheit der Tarifpartner durch die Troika hin. Auch das von der EU neu eingeführte Europäische Semester zur Kontrolle der nationalen Budgetpläne und das sogenannte Sixpack zur wirtschaftspolitischen Koordinierung hätten erhebliche Auswirkungen auf die sozialpolitischen Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten, so Kingreen. 

„Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist auch eine politische Krise, die die Sozial- und Tarifpolitik massiv in Mitleidenschaft ziehen könnte“, warnt der Rechtsexperte. Das soziale Fortschrittsprotokoll sei zwar ein notwendiger und sinnvoller Vorschlag, aber nicht mehr hinreichend, wenn die „Zwischenschicht“ der Sozial- und Tarifpolitik nicht „unter die Räder kommen“ solle. Vielmehr müssten die sozialen Rechte im Primär- und Sekundärrecht gestärkt werden. Dies gehe aber nur durch eine Vertragsänderung, so Kingreen.

Das sieht man auch beim DGB so. Nach jahrelangem Zögern sprechen sich nun auch immer mehr Gewerkschafter für einen Europäischen Konvent aus, um die Lehren aus der Eurokrise zu ziehen und den EU-Vertrag anzupassen. Zwar birgt eine Vertragsänderung angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse in vielen Mitgliedstaaten das Risiko, dass auch andere Klauseln – etwa die von Großbritannien gewünschte Rückübertragung von EU-Kompetenzen – eingefügt werden können. Ein öffentlich tagender Konvent wäre aber allemal besser als eine von London und Berlin ausgemauschelte „kleine“ Vertragsänderung durch die Hintertür, glauben viele Experten. „Nun gilt es, für den Konvent zu streiten und darauf vorbereitet zu sein“, sagt Gabriele Bischoff. Dazu gehöre, die soziale Fortschrittsklausel weiterzuentwickeln und sie um eine stärkere Absicherung der Tarifautonomie zu ergänzen. Doch wie sollte ein neuer Vorschlag aussehen? Darüber wird derzeit hinter den Kulissen heftig diskutiert. Kingreen glaubt, dass nicht nur eine Stärkung der Sozialpartner nötig ist, sondern auch „Kompetenzübertragungen auf die Union“ fällig werden – also mehr Macht für Brüssel.

Genau davor warnt Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. „Man sollte auf keinen Fall der EU-Kommission ein Mandat geben, in dem Bereich aktiv zu werden, denn das kann nur nach hinten losgehen“, sagt er. Vor allem die sogenannte Sperrklausel im Vertrag über die Arbeitsweise der EU, die das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht von EU-Bestimmungen ausnimmt, dürfe nicht angetastet werden. Denn dies, so Höpners Befürchtung, würde die Kommission nutzen, ihre bisher mageren sozialpolitischen Kompetenzen auszuweiten und die Tarifautonomie in ihrem – liberalen – Sinne auszulegen.

Statt der angestrebten Stärkung der sozialen Grundrechte könnte dann eine weitere Schwächung herauskommen. Der EuGH und die Troika haben ein sozialpolitisches Minenfeld angelegt, aus dem für Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften kein leichtes Entrinnen möglich ist.

Mehr Informationen

Andreas Fischer-Lescano: AUSTERITÄTSPOLITIK UND MENSCHENRECHTE. Rechtspflichten der Unionsorgane beim Abschluss von Memoranda of Understanding. Bremen, Dezember 2013.

Thorsten Kingreen: SOZIALES FORTSCHRITTSPROTOKOLL. Potenzial und Alternativen. HSI-Schriftenreihe, Band 8. Frankfurt am Main, Bund-Verlag 2014. 

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