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Lieferando-Fahrer Tobias Horoschko unterwegs auf dem Fahrrad Magazin Mitbestimmung

Work-Life-Balance: Wie lange wollen wir arbeiten

Ausgabe 03/2023

Die Politik diskutiert das Thema Arbeitszeit heiß wie lange nicht. Beschäftigte, Auszubildende und Studierende erzählen, welche Arbeitszeiten sie sich wirklich wünschen. Von Fabienne Melzer

„DIE STUNDEN MÜSSEN REICHEN, UM DAVON ZU LEBEN“

„Wir wollen planbare Arbeitszeiten. Wir wollen arbeiten, wenn wir Zeit haben, länger arbeiten, nur wenn wir es wollen, und genug Stunden arbeiten, um davon leben zu können. Dafür brauchen wir einen Tarifvertrag. Lieferando wirbt ja mit Flexibilität, aber das heißt, der Arbeitgeber plant die Stundenzahl nur nach seinem Bedarf. Für uns Fahrer bedeutet es, du kriegst oft nur das Minimum an Stunden und es passt nicht zu deinem Leben. In Stoßzeiten arbeiten Midijobber mit Zwölfstundenverträgen auch mal 28 Stunden pro Woche, in anderen Wochen fahren sie dann wieder nur zwölf Stunden. Du weißt nie, wie viel du am Monatsende kriegst und ob es zum Leben reicht.

Sobald du etwas in deinem Schichtplan ändern willst, wird es kompliziert, und man bekommt keine brauchbare Auskunft mehr. Wenn du einen Platten hast, dein Diensthandy kaputt ist und du nicht auf dein privates Handy oder Fahrrad umsteigen willst, löscht Lieferando deine Schichten. Dann kriegst du gar nichts.

Deine Schicht endet beim Kunden, was danach passiert, wird nicht bezahlt. Aber wenn du in deinen Arbeitsklamotten mit dem Rucksack 20 Minuten nach Hause fährst, ist das Arbeitszeit. Mit einer einstweiligen Verfügung haben wir erreicht, dass Fahrer einen Auftrag in der letzten halben Stunde ablehnen können, wenn sie danach innerhalb ihrer Schicht nicht nach Hause kommen. Ich mache jetzt immer einen Screenshot von Google Maps, wenn ich nach Ende der Schicht nicht zu Hause bin. Das reiche ich ein. Wenn sie es nicht bezahlen, klage ich. Lieferando bewegt sich nicht von allein, selbst wenn sie offensichtlich gegen Recht verstoßen. Manchmal fühle ich mich wie der Erzieher meines Arbeitgebers. Ohne Betriebsrat würden bei Lieferando wahrscheinlich fast nur Mini- und Midijobber arbeiten, die aufstocken müssten. In Bremen haben wir seit Mai neue 20- und 25-Stunden-Verträge, damit die Leute wissen, wie viel Geld sie am Monatsende haben.“

Tobias Horoschko ist 44 Jahre alt, Fahrer und Betriebsratsvorsitzender bei Lieferando in Bremen und hat einen Sohn.

„EIN TAG MEHR FÜR DINGE, DIE MIR WICHTIG SIND“

  • HBS-Stipendiatin Sara Krämer an der Uni
    Sara Krämer ist 22 Jahre alt und studiert Jura mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf.

„Die Viertagewoche wäre für mich ideal. Ein Tag mehr für Dinge, die mir wichtig sind. Ein Tag mehr für meine Arbeit in der Gewerkschaft, ein Tag mehr für meinen Einsatz als Rettungsschwimmerin bei der DLRG, ein Tag mehr in der Rechtsberatung für Geflüchtete. Mit einer Viertagewoche wären viele Menschen zufriedener und produktiver – davon würden auch Unternehmen profitieren. Das darf natürlich nicht heißen, ich erledige dieselbe Arbeit in weniger Zeit. Die Gefahr sehe ich schon, aber da vertraue ich darauf, dass die Gewerkschaften die Interessen der Beschäftigten schützen.

Ich möchte nicht am Wochenende arbeiten und ich möchte Feierabend haben, wenn ich nach Hause komme, und nicht ständig an meine Arbeit denken. Zurzeit arbeite ich als studentische Hilfskraft vier Stunden pro Woche, immer von zu Hause aus. Da spüre ich schon manchmal den Druck, länger zu arbeiten, einfach weil ein Auftrag fertig werden muss.

Ich möchte nicht umsonst arbeiten. Der Europäische Gerichtshof hat es gesagt: Jede Minute, die der Beschäftigte zur Verfügung steht, muss vergütet werden. Das auf Basis einer objektiv nachvollziehbaren Arbeitszeiterfassung, nicht auf Vertrauen. Vertrauensarbeitszeit kann Beschäftigte unter Druck setzen. Da würde ich vermutlich ständig denken, ich hätte zu wenig gearbeitet. Ich möchte aber nicht mit schlechtem Gewissen arbeiten, ich möchte gerne arbeiten. Auch am Arbeitsplatz sollte die Gesundheit Vorrang haben, genauso wie ein gutes Arbeitsklima.“

„EINE 35-STUNDEN-WOCHE WÄRE SCHÖN“

  • Klaus Brunken, Hochbaupolier auf einer Baustelle
    Klaus Brunken ist 58 Jahre alt, hat fünf Kinder und arbeitet als Hochbaupolier bei einem Bauunternehmen in Krefeld.

„Nach fast 40 Jahren in meinem Beruf habe ich mich an die Arbeitszeiten gewöhnt, die ich habe. Der Polier kommt als Erster und geht als Letzter. Montags bis donnerstags heißt das 7 bis 16.30 Uhr und freitags 7 bis 13.15 Uhr. Im Schnitt komme ich auf eine 41-Stunden-Woche.

Eine 35-Stunden-Woche fände ich schon schön. Es würde mir einfach mehr vom Tag übrig bleiben. Denn zur Arbeitszeit kommt bei mir immer die Fahrtzeit hinzu. Ich wohne in Neunkirchen-Vlyn, mein Arbeitgeber sitzt in Krefeld. Unsere Baustellen liegen in einem Umkreis von 50 bis 60 Kilometern. Die Fahrtzeiten stehlen mir mindestens noch einmal zwei Stunden vom Tag. Da bleibt nicht viel mehr als duschen, essen und schlafen.

Es wäre auch schön, wenn ältere Kollegen ein paar Tage mehr Urlaub bekämen. Aber wenn ich mir den Altersdurchschnitt bei uns so ansehe, wären die Baustellen dann wohl ziemlich leer.“

„ZWÖLFSTUNDENSCHICHTEN NAGEN AN DER GESUNDHEIT“

  • Erik Köhler, Servicetechniker für Windkraftanlagen offshore
    Erik Köhler ist 44 Jahre alt und Servicetechniker für Windenergieanlagen beim dänischen Energiekonzern Orsted in Norden-Norddeich. Er hat zwei Kinder.

„Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wären das Zehn- statt Zwölfstundentage. Seit 23 Jahren arbeite ich in der Windkraft, seit etwa sieben Jahren in Zwölfstundenschichten. Wir arbeiten 14 Tage auf See und haben dann 14 Tage frei. Wenn ich um 9 Uhr anfange, habe ich um 21 Uhr Feierabend. Da bleibt nicht mehr viel außer duschen, essen und schlafen. Das Gute ist, ich muss mich nach der Schicht um nichts kümmern. Das Essen ist gemacht, und die Wäsche wird gewaschen. Wir haben alle Einzelkabinen, ich kann mich auch zurückziehen. Aber man ist halt immer auf See, gefühlt vor allem dann, wenn andere heiraten, wenn irgendwo ein Fest ist.

Jüngere Kollegen nehmen es noch leichter. Einige fahren 14 Tage durch Europa, wenn sie freihaben. Aber die Zwölfstundenschichten nagen an der Gesundheit, und ich muss den Job ja noch gut 20 Jahre machen. Das Unfallrisiko steigt steil an nach acht oder neun Zwölfstundentagen am Stück. Nicht immer können wir an allen 14 Tagen auf See arbeiten, das hängt vom Wetter ab. Aber in Wochen, in denen wir jeden Tag auf den Windmühlen arbeiten, sind die Leute spätestens am elften Tag durch. Dann wird es auch beim Essen stiller. Die Buchdrucker haben vor 150 Jahren den ersten Tarifvertrag abgeschlossen mit Arbeitszeiten von maximal zehn Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich. Wir arbeiten hier heute 84 Stunden pro Woche. Das ist schon verrückt.“

„GUT, SO WIE ES IST“

  • Kaan Can Kerek lernt Logistik bei Adidas und studiert Betriebswirtschaftslehre in Mannheim
    Kaan Can Kerek ist 20 Jahre alt und macht ein duales Studium. Bei Adidas in Herzogenaurach lernt er Logistik, und in Mannheim studiert er Betriebswirtschaftslehre.

„Mit meinen Arbeitszeiten bin ich eigentlich zufrieden. Wir haben eine 39-Stunden-Woche und arbeiten im Schnitt acht Stunden pro Tag. Aber das ist recht flexibel. Wenn ich private Termine habe, kann ich auch mal eher gehen und Stunden abbauen, die ich an anderen Tagen länger gearbeitet habe. Zwei Tage pro Woche können wir mobil arbeiten, das gibt mir schon viele Freiheiten. Ich komme aus Hannover. Manchmal fahre ich dann auch schon mal früher nach Hause und arbeite von dort mobil. Das geht aber nicht immer. Insofern wäre eine Viertagewoche schon besser, aber nicht, wenn wir die gleiche Zahl an Stunden nur in weniger Tagen arbeiten müssten.“

„SELBST BESTIMMEN, WANN UND WO ICH ARBEITE“

  • HBS-Stipendiat Ruben Potthast
    Ruben Potthast ist 23 Jahre alt und studiert mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung Politikwissenschaften und Soziologie in München.

„So wie ich studiere, würde ich auch gerne arbeiten. Ich mag es, mein Arbeitspensum frei über die Woche zu  verteilen. Jeden Tag von 9 bis 17 Uhr anwesend sein und meine Arbeit in dieser festen Zeitspanne erledigen, das liegt mir eher nicht. Arbeit nimmt ja einen sehr großen Teil meines Lebens ein, und da möchte ich schon gerne selbst bestimmen, wann und wo das passiert. Wenn ich einmal Familie habe, möchte ich auch dafür viel Zeit haben. Eltern sollten sich gemeinsam um ihre Kinder kümmern können, und ich möchte nicht irgendwann feststellen, dass meine Kinder erwachsen sind und ich es gar nicht mitbekommen habe. Natürlich ist Care-Arbeit auch Arbeit, die meist noch obendrauf kommt. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, auch mit Familie Vollzeit zu arbeiten – vorausgesetzt, meine Arbeit macht mir Spaß.“

„LÄNGERE SCHICHTEN, ABER WENIGER TAGE“

  • Lena Simon, Auszubildende zur Pflegefachkraft, lernend im Park
    Lena Simon ist 23 Jahre alt und im dritten Ausbildungsjahr zur Pflegefachkraft in einem Krankenhaus. Sie lebt in Münster und ist aktiv in der Verdi-Jugend.

„Ich würde mir längere Schichten wünschen, dafür weniger Arbeitstage. Zur Zeit arbeite ich 7,7 Stunden pro Schicht und habe eine Fünftagewoche. Das heißt aber nicht, dass ich in jeder Woche immer genau fünf Tage arbeite. Es können bis zu zehn Tage am Stück sein – und dann habe ich vier Tage frei. Eine Stunde mehr pro Schicht und dafür eine Viertagewoche – das wäre für mich ein Fortschritt. Gerade nach einer langen Reihe von Arbeitstagen brauche ich einfach ein paar Tage, um mich zu erholen.

Eine Entlastung wäre auch, wenn Schichten sich überlappen würden und wir für ein oder zwei Stunden mehr Leute auf der Station wären. Sicher – dafür bräuchte man mehr Personal, und wir haben sowieso schon zu wenig. Ich denke aber, es würde den Beruf attraktiver machen. Denn wenn die Rahmenbedingungen stimmen, ist es ein sehr schöner Beruf.

Ich möchte andere gern so pflegen, wie ich einmal selbst gepflegt werden möchte. Idealerweise wäre es so, dass Patienten während des gesamten Aufenthalts einen Ansprechpartner haben und der ganze Mensch mit allen Vorerkrankungen im Mittelpunkt steht. Dafür brauche ich Kontinuität – und die würde ich für mich mit längeren Schichten erreichen. In der Wirklichkeit führt der Personal- und Zeitmangel allerdings oft dazu, dass man als Auszubildende bestimmte Tätigkeiten übernimmt, wie den Blutzucker messen oder Injektionen spritzen. Diese Dinge arbeitet man von Patient zu Patient ab.“

„LÄNGER AN EINEM PROJEKT ARBEITEN“

  • HBS-Stipendiatin Merle Zurawski
    Merle Zurawski ist 22 Jahre alt, nicht binär und studiert mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung Regie für darstellende Kunst in Ludwigsburg.

„Es wäre schön, wenn ich mich nicht zwischen meiner Arbeit und meinem Privatleben entscheiden müsste. Nach meinem Studium werde ich meist in Projekten von sechs bis acht Wochen arbeiten. Die Proben laufen in der Regel von 10 bis 14 und von 18 bis 22 Uhr. Das kann von Haus zu Haus unterschiedlich sein. Natürlich müssen wir am Theater auch mal unter Echtzeitbedingungen proben, also abends, aber nicht unbedingt sechs oder acht Wochen lang.

Durch diese Arbeitszeiten und die ständigen Ortswechsel bleibt keine Zeit für ein Leben außerhalb des Theaters. Ich kann nicht jeden Dienstag beim Volleyball sein. Auch für politische Arbeit über meine Theaterpraxis hinaus fehlt mir oft die Zeit. Einerseits mag ich es, für ein paar Wochen in ein Projekt abzutauchen. Andererseits lebt man dort in einer Blase, damit fehlen aber Impulse von außen. Wenn wir darstellende Kunst als etwas verstehen, das gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren und voranbringen soll, darf aber der Kontakt zwischen uns Kulturschaffenden und der Außenwelt nicht abreißen.

Längere Projekte würden mir schon helfen, sie würden mir größere finanzielle Sicherheit geben. In einem längeren Projektzeitraum ließe sich die Arbeit vielleicht auch auf Viertagewochen verteilen. So könnte ich auch während eines Projekts regelmäßig nach Hause pendeln. In Frankreich bekommen Künstler eine Förderung. Schließlich muss ich auch Miete zahlen, wenn ich gerade keinen Auftrag habe. Prekäre Lebensbedingungen in der Kunst werden noch immer viel zu sehr romantisiert. Arbeit, die Spaß macht, sollte nicht automatisch schlechter bezahlt werden. Unter dem Druck, sich oder eine Familie ernähren zu können, kann schwerlich gesellschaftlich relevante Kunst entstehen.“

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