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Parkuhr, die auf abgelaufen steht Magazin Mitbestimmung

Lebensarbeitszeit: Alt werden - eine Frage des Einkommens

Ausgabe 03/2023

Länger arbeiten, später in Rente gehen? Menschen mit niedrigem Einkommen würde das benachteiligen. Sie sterben statistisch deutlich früher als Gutverdiener. Von Andreas Molitor

Die Schlagzeilen hatten es in sich. „Späte Rente – früherer Tod?“. Oder: „Wer länger arbeitet, ist früher tot.“ So und ähnlich betitelten Anfang Mai etliche deutsche Tageszeitungen ihre Berichte über die Studie eines Forscherteams der Universitäten Barcelona und Mannheim. Die Wissenschaftler hatten nachgewiesen, dass ein späterer Renteneintritt das Risiko eines früheren Todes erhöht: Ein Jahr Arbeit zusätzlich erhöht das Sterberisiko zwischen 60 und 69 Jahren um 4,2 Prozentpunkte. Am stärksten ist der Anstieg der Sterblichkeit in Branchen mit hoher körperlicher Belastung und häufigen Arbeitsunfällen – etwa auf dem Bau – sowie bei Menschen, die starkem psychischen und sozialen Stress ausgesetzt sind.

Die Studie dürfte bei all jenen für Irritationen gesorgt haben, die derzeit wieder vehement für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit plädieren, womöglich auf 70 Jahre. Ihr Credo lautet: Wir müssen alle länger arbeiten – sonst können wir uns die Rente für immer mehr Ruheständler nicht mehr leisten. Die CDU ist jüngst mit einem Vorstoß in die Offensive gegangen, die Rente mit 63 abzuschaffen. Sie zielt auf Beschäftigte, die über 45 Jahre lang Beiträge eingezahlt haben. Darauf brach ein Sturm der Entrüstung los.

Die Befürworter eines späteren Renteneintritts argumentieren mit der Demografie. Tendenziell nimmt die Lebenserwartung zu – also auch die Zeit im Ruhestand. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die  Lebenserwartung Neugeborener in Deutschland ungefähr verdoppelt – auf heute 83,4 Jahre bei Frauen und 78,5 Jahre bei Männern. Nach der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts werden Frauen im Jahr 2070 etwa 90 Jahre und Männer 86 Jahre alt. Die Menschen werden aber nicht nur älter, sondern bleiben auch länger geistig und körperlich gesund. Allein zwischen 2005 und 2013, so eine Auswertung des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, gewannen 65-jährige Frauen 2,8 gesunde Lebensjahre hinzu, Männer immerhin 2,3 Jahre.

Doch von der gestiegenen Lebenserwartung profitieren längst nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich stark. Silke van Dyk, Professorin für Politische Soziologie an der Universität Jena, hält die Debatte über einen späteren Renteneintritt für verfehlt und verkürzt – „weil sie völlig ausblendet, dass die Lebenserwartung in Deutschland klar mit dem Einkommen und dem sozialen Status korreliert“. Der Unterschied zwischen der niedrigsten und der obersten Einkommensgruppe beträgt in Deutschland 8,6 Jahre bei Männern und 4,4 Jahre bei Frauen. Die Lebenserwartung der einkommensschwächsten Männer ist erst heute da angelangt, wo die der Bestverdiener Anfang der 80er-Jahre schon war. Rente mit 70 im Jahr 2030 hieße für einen durchschnittlichen
Gutverdiener, dass er noch 18 Jahre Ruhestand genießen kann; ein Gleichaltriger aus der niedrigsten Einkommensgruppe kann lediglich mit zehn Jahren rechnen. Silke van Dyk kritisiert, dass diese soziale Schieflage nicht aufgegriffen wird. „Dass in diesem Land bei Männern fast neun Jahre Lebenserwartung vom Einkommen abhängen, ist doch ein Riesenskandal – vor allem, weil es zu einer eklatanten Umverteilung von unten nach oben in der Rentenversicherung führt.“

Nur jeder achte Erwerbstätige würde, wenn er die Wahl hätte, bis 67 Jahre arbeiten, ergab vor knapp zwei Jahren eine Umfrage. Drei Viertel der Befragten sehen sich körperlich und mental nicht in der Lage, bis zum Alter von 67 Jahren im Job durchzuhalten. Ist es also gerecht, gewonnene Lebensjahre mit Arbeit aufzufüllen – auch für jene, die froh sind, nach 40 oder 45 Jahren in Fabrik, Büro, Altersheim oder auf dem Bock des Lastwagens der Maloche endlich entronnen zu sein? Muss es nicht eine Altersgrenze geben, ab der man sich nicht rechtfertigen muss, wenn man nicht mehr arbeitet? Silke van Dyk hat den wunderbaren Begriff  „Moralökonomie der verdienten Erwerbsentpflichtung“ geprägt. „Ich halte die Freiheit von Lohnarbeit im Ruhestand für eine historische Errungenschaft, die es zu verteidigen gilt“, sagt sie. Die zunehmende Erwartungshaltung an die Rentnergeneration missfällt ihr. Mit der „Vorstellung in den Köpfen vieler, die Alten hätten, weil sie nun mal so alt werden, für die dadurch verursachten Kosten auch gefälligst selbst aufzukommen“, werde „eine soziale Verteilungsfrage in ein Problem zwischen Alt und Jung umdefiniert“.

Vor allem die schichtspezifischen Unterschiede in der Lebenserwartung sind ein gutes Argument gegen eine undifferenzierte Verlängerung der Lebensarbeitszeit. „Eine weitere pauschale Anhebung des Rentenalters über die ‚Rente mit 67‘ hinaus würde das Problem der Erreichbarkeit des Ruhestands verschärfen“, konstatiert Florian Blank, Leiter des Referats Sozialpolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Aber sollte man die unterschiedlichen Lebenserwartungen bei künftigen Rentenreformen berücksichtigen? Sollten Malocher, die vermutlich vergleichsweise früh sterben, früher in Rente gehen dürfen als jene Gutsituierten, die statistisch eine höhere Lebenserwartung haben?

Sinnentleerte Arbeit macht schneller alt

Florian Blank ist nicht wohl bei dem Gedanken, „eine völlig neue Rechnungslogik in das Rentensystem“ Einzug halten zu lassen und die Rentenversicherung in ein Verrechnungsinstrument für sämtliche Unbill des Lebens umzuwidmen. „Die Rentenversicherung wird nicht alle Verwerfungen am Arbeitsmarkt und alle  Fehlentwicklungen in der Gesellschaft ausgleichen können“, sagt er. Abschläge bei der Rente oder einen späteren Renteneintritt individuell von der statistischen Lebenserwartung abhängig zu machen – das würde die Büchse der Pandora öffnen.

Blank würde gern weniger über eine längere Lebensarbeitszeit oder eine komplett neue Arithmetik der Rentenformel diskutieren. „Die rentenpolitischen Konsequenzen sind doch nicht das größte Problem“, sagt er. „Der eigentliche Skandal sind die gravierenden Unterschiede in der Lebenserwartung in einem der reichsten Länder der Welt.“ Der WSI-Forscher plädiert für eine stärkere Debatte darüber, wie man die Menschen
„so gesund hält, dass sie das Rentenalter überhaupt erreichen und dann selbstbestimmt über den Zeitpunkt ihres Austritts aus dem Arbeitsleben entscheiden können“. Da ist er sich einig mit der Psychologin und Alternsforscherin Ursula Staudinger, seit 2020 Rektorin der Technischen Universität Dresden. Immer wieder hat sie den Einfluss der Arbeit auf das Altern von Geist und Körper untersucht. „Don’t lose your brain at work“ heißt eine der bekanntesten Arbeiten – „Verlier bei der Arbeit nicht deinen Verstand“. Sinnentleerte und in Routine erstarrte Jobs beschleunigen den geistigen Alterungsprozess, lautet Staudingers Credo; sie lassen die Beschäftigten regelrecht verdummen, indem sie Teile des Gehirns, die sowohl motorische Leistungen als auch Wahrnehmungsprozesse steuern, schrumpfen lassen. „Es ist unmenschlich, wenn Menschen ein Leben lang immer nur die gleiche Tätigkeit ausüben“, sagt sie. Die Produktivität gehe „nicht primär mit zunehmendem Alter zurück, sondern mit der Anzahl der Jahre, die eine Person die gleiche Arbeit verrichtet“. Die Arbeitgeber schieben den Produktivitätsverlust meist aufs Alter und sortieren die Beschäftigten aus – dabei ist der Job selbst in vielen Fällen die Ursache für den Leistungsabfall.“ Man müsse „viel stärker über Gesunderhaltung und Arbeitsbedingungen sprechen, insbesondere in den letzten Beschäftigungsjahren“, findet auch Florian Blank. „Da tun Arbeitgeber bisher nicht genug.“

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