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Magazin Mitbestimmung

: Nach der VW-Krise

Ausgabe 09/2005

Angesichts der pauschalen Vorwürfe, die derzeit gegen die Arbeitnehmervertreter und Betriebsräte laut werden, ist es wichtiger denn je, ein realistisches Bild ihrer Arbeit zu zeichnen.

Von Dieter Schulte
Der Autor war bis Mai 2002 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Die Mitbestimmung ist umkämpftes Gebiet. Der aktuelle Stand gesetzlicher und tarifvertraglicher Regelungen entspricht Kompromissen, die Stillhalteabkommen sind, keine Friedensschlüsse. Das hat die Mitbestimmung mit allen Demokratisierungsprozessen gemeinsam: Das jeweils erreichte Maß an Information, Konsultation und Mitentscheidungsrechten wird politisch kontrovers beurteilt.

Aus der Perspektive der Mächtigen ist es unangemessen hoch, aus der Sicht derjenigen, über die entschieden wird, ungerechtfertigt niedrig. Das Seil, an dessen Enden Arbeitgeber und Gewerkschaften ziehen, bleibt gespannt. Deshalb ist es im Grundsatz nicht verwunderlich, dass Arbeitgeber, ihre politischen und publizistischen Freunde die Gelegenheit auszunutzen versuchen, wenn auf unserer Seite jemand ins Stolpern gerät. Verfehlungen wie jüngst bei Volkswagen werden für Mitbestimmungsgegner immer willkommene Anlässe sein, das deutsche Modell der Unternehmensmitbestimmung in die Mottenkiste der Geschichte zu verweisen.

Verfehlungen Einzelner bedeuten kein Versagen des Ganzen

Für Gewerkschaften, Betriebsräte und Arbeitsdirektoren entsteht in solchen Krisensituationen eine dreifache Aufgabe. Erstens müssen sie die ideologisch motivierten Versuche zurückweisen, einzelne Missstände mit einem Versagen des Ganzen gleichzusetzen. Nebenbei: Dieses Argumentationsmuster erfreut sich parteiübergreifender Beliebtheit, auch wir nutzen es in manchen Zusammenhängen. Zweitens müssen sie immer wieder deutlich machen, was Mitbestimmung in ihrer gegenwärtigen Verfassung leisten kann und was sie nicht kann. Hier ist Realismus angesagt.

Drittens müssen sie Funktionsmängel des real existierenden Mitbestimmungssystems offensiv angehen.
Vorweg einige persönliche Bemerkungen: Peter Hartz, den ich meinen Freund nenne, hat die Verantwortung für die Verfehlungen in seinem Verantwortungsbereich übernommen. Gegen ihn selbst besteht kein Verdacht - trotz der Kampagne der Boulevardpresse. Ungeschmälert bleibt sein Verdienst um eine moderne Politik der Arbeitsumverteilung, wie die 28-Stunden-Woche, die Altersteilzeit, die Zeitkonten, aber auch das Modell 5000 X 5000, das gezeigt hat, dass sich industrielle Arbeit auch heute in Deutschland noch rechnet. Ungeschmälert ist auch sein Verdienst um die Mitbestimmung und um die Hans-Böckler-Stiftung. Und so getrübt auch die Bewertung der Hartz-Reformen ist, mit dem Namen Hartz verbindet sich ein innovatives Reformkonzept der Arbeitsmarktpolitik. Dass nicht überall Hartz drin ist, wo Hartz - insbesondere mit dem Zusatz "IV" - draufsteht, dürfte mittlerweile selbstverständlich sein.

Die Leistungen von Peter Hartz nennen heißt auch, auf den Erfolg der Unternehmensmitbestimmung zu verweisen. Nicht nur Volkswagen, die gesamte deutsche Industrie, viele öffentliche und private Dienstleister wären ohne sie nicht zu den modernsten, produktivsten und innovativsten Unternehmen in Deutschland und Europa geworden. Unternehmensmitbestimmung ist ein Standortvorteil: Sie ermöglicht Transparenz und Kontrolle strategischer Unternehmensentscheidungen und damit eine Verständigung zwischen Management, Anteilseignern und Arbeitnehmerbank. Sie bietet ein Forum, um Fehlentwicklungen zu korrigieren und Innovationen auf den Weg zu bringen. Unternehmensmitbestimmung beseitigt keine Konflikte, aber sie führt dazu, diese Konflikte "auf gleicher Augenhöhe" auszutragen und nach Lösungen zu suchen. Sie fördert damit den sozialen Frieden.

Was kann Mitbestimmung, was kann sie nicht?

Bei aller gebotenen Verteidigung der Vorteile der Mitbestimmung kann zu viel Lob aber auch schaden. Mitbestimmung kehrt die Machtverhältnisse im Unternehmen nicht um. Unternehmensmitbestimmung hat ihre Grenzen: Sie ist Bestandteil der durch die Gesetze geregelten Unternehmensverfassung. Die Rechte des Aufsichtsrates bestimmen sich aus dem Aktien- bzw. dem GmbH-Gesetz. Die Kompetenz der Aufsichtsräte in Gesellschaften mit beschränkter Haftung wird durch die Gesellschafterweisung immer übersteuert werden können. Geschäftspolitische Ziele, die Bestellung der Geschäftsführung und selbst einzelne Unternehmensentscheidungen können in der Gesellschafterversammlung beschlossen und angewiesen werden. Auch der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft kann trotz größerer Rechte an den Willen der Hauptversammlung gebunden werden.

Die Grenze der Unternehmensmitbestimmung liegt aber in der Bindung an das Wohl des Unternehmens. Auch paritätisch besetzte Aufsichtsräte und ein von den Gewerkschaften vorgeschlagener Arbeitsdirektor können die Gesetze des Marktes und die Zwänge des Wettbewerbs nicht aufheben. Im Gegenteil: Nach meiner Erfahrung setzen sich besonders die Arbeitnehmervertreter für eine qualitative Verbesserung der Wettbewerbsposition des eigenen Unternehmens ein. Sie sind es in der Regel, die darauf achten, dass das Management seinen Job macht. Von einer Kungelei zwischen Arbeitnehmervertretern und Management zu sprechen, wie es Hans-Olaf Henkel immer wieder tut, liegt jenseits der Realität der Unternehmen.

Die Gewerkschaften und auch die Hans-Böckler-Stiftung täten gut daran, neben den Vorteilen und den Chancen auch die Grenzen der Mitbestimmung deutlich zu machen. Nur wenn ein realistisches Bild vermittelt wird von dem, was Mitbestimmung leisten kann und was sie nicht leisten kann, lässt sich unterscheiden zwischen Fehlern und möglichen Verfehlungen einzelner Führungspersönlichkeiten, dem Versagen von Vorständen und auch des Aufsichtsrates sowie Funktionsmängeln des Systems Mitbestimmung. Auch diese Funktionsmängel müssen benannt werden: die ungenügende Transparenz des Systems, die manchmal unzureichende Qualifikation der Aufsichtsräte, die Dominanz der Vorstände, die Verflechtung der Anteilseigener und auch die manchmal prekäre Machtbalance zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten in den Aufsichtsräten.

Die mangelnde Transparenz liegt in den strikten Geheimhaltungsvorschriften des Gesetzes begründet. Darum muss der Gesetzgeber mehr Transparenz schaffen. Gegenüber den Analysten müssen börsennotierte Gesellschaften schon heute die Hosen herunterlassen. Aber wie steht es mit den Informationen, die aus den Aufsichtsräten an die Beschäftigten gegeben werden können und dürfen? Zu vieles musste und muss laut Gesetz vertraulich bleiben. Das kann die Mitbestimmung in Misskredit bringen. In unserer Mediengesellschaft wird manches dann über Umwege öffentlich gemacht mit der schlechten Folge, dass die Neigung zur Geheimniskrämerei wächst.

Diese Intransparenz nährt Vorurteile und fördert den Vertrauensverlust. Sie erlaubt es den Henkels, heute von Kungelei und morgen von Klassenkampf zu schwadronieren, wo nichts anderes stattgefunden hat als die ständige Anstrengung, das richtige Maß zwischen Kooperation und Konflikt zu finden. Die Veröffentlichungspflicht für Managergehälter stellt einen wichtigen Schritt für mehr Transparenz dar. Denn dann sind auch die Mitglieder des Präsidialauschusses eines Aufsichtsrates, der hinter verschlossenen Türen über Gehälter und Bonuszahlungen befindet, aufgefordert, ihre Entscheidung zu verantworten.

Die Aufsichtsräte brauchen gut qualifizierte Arbeitnehmer

Viele Aufsichtsräte bringen die notwendige Qualifikation und Kompetenz mit. Die Arbeitnehmerseite verfügt gerade auf Grund ihrer Kenntnisse der innerbetrieblichen Abläufe oft über weit mehr Informationen als mancher Anteilseigner. Dennoch reichen diese Qualifikationen angesichts der rasanten Veränderung der Wirtschaft und des Unternehmensumfeldes oft nicht mehr aus. Immer neue Vorschriften und Regelungen der Bilanzierung, immer neue Methoden und Instrumente der Unternehmensführung, der technologische Fortschritt, neue Formen der Arbeitsorganisation und der Personalwirtschaft lassen Qualifikationen veralten. Es wird ständig schwieriger, ohne fundierte Kenntnisse und Vorinformationen die Fallen und Tücken einer glänzenden Powerpoint-Präsentation des Vorstandsvorsitzenden zu erkennen und zu hinterfragen. Schulungen für Aufsichtsräte werden angeboten. Sinnvoll wäre eine Qualifizierungsoffensive für die Aufsichtsräte durch die Hans-Böckler-Stiftung, zu der die Arbeitnehmervertreter verpflichtet werden müssten.

Qualifizierte Aufsichtsräte können besser kontrollieren. Dennoch können und wollen sie Vorstände nicht ersetzen. Gleichwohl fragt sich, ob die bestehenden Regelungen ausreichen, um der Dominanz des Managements begegnen zu können. Welche Planungen, Strategien, Vorschläge sollten schon vorab mit dem Aufsichtsrat besprochen werden? Aufsichtsräte üben ihre Kontrollrechte in der Regel im Nachhinein aus. Auch der Katalog der zustimmungspflichtigen Geschäfte verhindert nicht, dass wesentliche Weichen gestellt sind, bevor der Aufsichtsrat eine Entscheidung treffen kann. Wer ehrlich ist, wird kaum einen Geschäftsvorfall nennen können, der grundsätzlich im Nachhinein vom Aufsichtsrat geändert worden ist. Aufsichtsräte, und das gilt für die Anteilseigner wie für die Arbeitnehmer, dürfen keine Claqueure getroffener Entscheidungen werden.

Aus gutem Grund begrenzen die Gewerkschaften die Zahl der Mandate pro Aufsichtsratsmitglied auf zwei. Zwei Mandate können verantwortungsbewusst ausgefüllt werden. Dazu reicht die Zeit. Für die Anteilseigner gilt diese Regelung nicht. Und so häufen Anteilseigner nicht nur Mandate und Tantiemen, sondern auch Macht und eine Fülle von Informationen. Gerade die, die tatsächlich oder vorgeblich über so viel wirtschaftlichen und unternehmerischen Sachverstand verfügen, kommen immer weniger ihrer Kontrollfunktion nach. Viele unternehmerische Fehlentscheidungen der Vergangenheit wären nicht getroffen worden, wenn Anteilseigner die Zeit und die Möglichkeit gehabt hätten, verantwortungsbewusst und sachbezogen zu entscheiden. Und oftmals sind es dieselben Personen, die in den Aufsichtsräten auch konkurrierender Unternehmen Mandate wahrnehmen. Wer ist da vor jedem unlauteren Schachzug gefeit?

Mitbestimmung gehört zum europäischen Sozialmodell

"Der Betriebsrat in der Hand ist besser als die Gewerkschaft auf dem Dach." Diese alte Weisheit gestandener Unternehmensführer sollte auch Gewerkschaften und Betriebsräten zu denken geben. Betriebsräte sind nicht dümmer als Gewerkschafter - zu dieser in meiner aktiven Zeit heftig kritisierten Aussage stehe ich. Aber ich füge hinzu: Sie haben unterschiedliche Aufgaben, die sinnvoll miteinander verbunden werden müssen. Starke und mächtige Betriebsräte entscheiden oft, welche Position die Arbeitnehmerbank einnimmt. Aber Betriebsräte vertreten die unmittelbaren Interessen ihrer Belegschaften. Sie sorgen für das Hemd, die Gewerkschaft für den Rock. Wenn das Hemd zu knapp wird und der Rock fehlt, stehen die Beschäftigten schnell im Kalten.

Die Aufgaben der Unternehmensbetreuer dürfen sich nicht nur auf die Vorbereitung der Arbeitnehmervorbesprechung und der Aufsichtsratssitzungen beschränken. Branchen-, Industrie- oder Dienstleistungspolitik, die von den Gewerkschaften entwickelt und mit den Betriebsräten abgestimmt werden muss, kann einen Rahmen bieten, um Unternehmensstrategien aus der Sicht der Beschäftigten bewerten und beeinflussen zu können.

Die stahlpolitischen Leitsätze des Mitbestimmungsbüros oder die Konferenzen und Arbeitskreise der Automobilindustrie und der Gießereien geben Beispiele für solche Strategien. Gleichwohl lässt sich die Balance zwischen Gewerkschaft und Betriebsräten nur herstellen, wenn die Rollen und Aufgaben klar sind, wenn gegenseitiger Respekt und Kompetenz vorhanden sind.

Mitbestimmung in der Praxis verbessern fördert auch ihre Europatauglichkeit. Ich greife dieses Schlagwort der Arbeitgeber und der ihnen nahe stehenden Wissenschaft und Publizistik auf. Denn Mitbestimmung ist nicht nur europatauglich, sie ist geradezu ein Kennzeichen des europäischen Sozialmodells. Wer Freiheitsrechte und Bürgerrechte in Europa verwirklichen will, der darf nicht an den Unternehmenstoren Halt machen. Überall dort, wo Arbeitnehmer mitbestimmen konnten, in welcher Form auch immer, hat dies ihnen und den Unternehmen genutzt.
Arbeitnehmer haben in allen europäischen Ländern ein Recht auf umfassende Information und auf rechtzeitige Konsultation.

Dieser Grundsatz war bisher in der EU unstrittig. Die Richtlinie über die europäischen Betriebsräte verankert diese Rechte. Diese Rechte müssen auch in den Aufsichtsgremien der Unternehmen verankert werden. Und sie sollten darüber hinaus das Recht auf Mitbestimmung im Sinne von Mitentscheidung wahren, das nicht nur in Deutschland errungen wurde. Damit verbunden ist das Recht auf eine angemessene Präsenz der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften in den Aufsichtsgremien der Unternehmen. In welcher Form dies geschieht, soll nach den jeweiligen nationalen Traditionen und Gepflogenheiten ausgehandelt werden.

Als vor zehn Jahren die Davignon-Kommission eine europaweite Drittelparität für die europäische Aktiengesellschaft vorschlug, gab es zu Recht auch Kritik aus den Reihen der europäischen Gewerkschaften, auch der DGB-Gewerkschaften. Ein solches schematisches Modell hätte die deutsche paritätische Unternehmensmitbestimmung beendet, in anderen Ländern mit einer anderen Mitbestimmungstradition der Gewerkschaften wäre es kaum praktikabel gewesen. Die Kompromisse der Mitbestimmungsrichtlinie geben mehr Flexibilität. Aber sie dürfen nicht zum Einstieg in den Ausstieg aus der paritätischen Mitbestimmung missbraucht werden. Die vom Bundeskanzler berufene Kommission zur Überprüfung der Europatauglichkeit der deutschen Mitbestimmung sollte daher schnell ihre Arbeit aufnehmen und Wege zeigen, die bewährte Mitbestimmung weiterzuentwickeln und in der europäischen Unternehmensverfassung fest zu verankern.

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