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Magazin Mitbestimmung

Interview: „Den Gewerkschaften fehlt es sehr an Erfahrung“

Ausgabe 07+08/2012

Sozialattaché Peter Senft über Löhne, die nicht zum Leben reichen, und die Hoffnung auf deutsche Unternehmen. Mit Peter Senft sprach bei einem Besuch in Berlin Jeannette Goddar.

Seit Ende Juni steht fest, dass mit Mohammed Mursi ein Muslimbruder der erste frei gewählte Präsident Ägyptens wird. Was wird das für die Gewerkschaftslandschaft bedeuten?
Das ist schwer einzuschätzen. Hoffnung macht, dass er angekündigt hat, ein Präsident für alle Ägypter sein zu wollen. Was das konkret für die Gewerkschaften bedeutet, ist aber bisher noch unklar. Der unabhängige Dachverband ägyptischer Gewerkschaften EFITU, die Egyptian Federation of Independent Trade Unions, vereint Mitglieder aller politischen Lager. Im Prinzip sind die Chancen auf eine überparteiliche Interessenvertretung gut, wie es sie auch beim DGB gibt.

Wie ist heute die Lage der unabhängigen Gewerkschaften?
Sie sind noch sehr im Aufbau. Erst seit 2004 war es – unter größten Schwierigkeiten – überhaupt möglich, Gewerkschaften zu gründen. Ein Jahr später nahm, unterstützt von US-amerikanischen NGOs, das „Center for Trade Union and Workers Services“ seine Arbeit auf; als erste Anlaufstelle für lokale Gewerkschaften wie für Arbeiter. Offiziell erlaubt ist die Gründung von Betriebsgewerkschaften erst seit August 2011. Seither haben sich – allerdings nur im öffentlichen Dienst und in Staatsbetrieben – 260 Betriebsgewerkschaften gegründet?…

… und sich im Januar zum Dachverband EFITU zusammengeschlossen. Ist damit eine durchsetzungsfähige Organisation entstanden?
Den Mitgliedern der EFITU fehlt es noch sehr an Erfahrung, und zwar nicht nur, wie man eine Gewerkschaft organisiert. Auch dass man gemeinsam stärker ist, dass es etwa am 1. Mai Sinn macht, nicht nur mit einem versprengten Häuflein auf der Straße zu stehen, sondern großflächig zu mobilisieren, ist noch keine verankerte Erkenntnis. Zugespitzt muss man sagen: Wir haben es mit Grüppchen von Aktivisten zu tun, nicht mit einer einheitlichen Gewerkschaft.

Was sind Ziele und Motive der Menschen, die sich in unabhängigen Gewerkschaften engagieren?
Ein zentrales Ziel ist die Schaffung humaner Arbeitsbedingungen. Im Prinzip sind viele Errungenschaften der Arbeiterbewegung zwar geregelt – in der Praxis werden diese aber täglich hundertfach unterlaufen. Aber auch die regulären Löhne sind unzureichend. Ein Einkommen reicht meist nicht zum Leben.

Was heißt das konkret?
Ein Zementarbeiter verdient etwa 4,30 Euro pro Tag – das sind weniger als 100 Euro im Monat. Davon ernährt er nicht nur seine minderjährigen Kinder, sondern all jene Familienmitglieder, die keinen Job haben. Hinzu kommen die Fahrtkosten zum Arbeitsplatz, der in der 22-Millionen-Stadt Kairo häufig ein bis zwei Stunden entfernt ist. Dazu Schulgeld; schon ein Grundschulbesuch schlägt mit rund 15 Euro im Monat zu Buche. Weiter die allerdings vergleichsweise günstige Miete. Seit die Mieten unter Präsident Nasser, der Ägypten von 1954 bis 1970 regiert hat, eingefroren wurden, sind sie nicht erhöht worden.

Gibt es ein Sozialversicherungssystem?
Im Prinzip ja – aber es nützt nicht viel. Zu Nasser-Zeiten wurde eine staatliche Kranken- und Rentenversicherung eingeführt. Allerdings muss die Finanzierung, die für elf Millionen Einwohner konzipiert wurde, heute für mehr als 80 Millionen Menschen reichen. Wer krank wird, bekommt nicht mehr als eine Minimalversorgung umsonst; jeder chirurgische Eingriff, jede Zahnbehandlung muss privat bezahlt werden. Die Renten sind so niedrig, dass alle bis an ihr Lebensende arbeiten. Auch das ist ein gewerkschaftliches Ziel: an die im Prinzip positiven sozialdemokratischen Ansätze anzuknüpfen – und sie vom Stand der 50er und 60er Jahre auf einen aktuellen Stand zu bringen.

Auf wen sollten die Unterstützer der Gewerkschaftsbewegung in Ägypten setzen?
Gute Frage. Ich hoffe auch weiterhin, dass es gelingt, die unabhängigen Gewerkschaften zu professionalisieren. Aber auch von den rund 80 deutschen Unternehmen in Ägypten könnten positive Impulse ausgehen.

Inwiefern?
Bereits heute ist die Lage in ihnen besser als in den ägyptischen. So wählen sowohl bei der Bavarian Auto Group, BAG, dem BMW-Werk wie auch bei der Egyptian German Automotive Company (EGA), dem Produktionswerk in Kairo, an dem die Daimler AG beteiligt ist, die Arbeitseinheiten Delegierte, die monatlich mit den Personalleitungen anstehende Probleme besprechen. Das kommt klassischer Betriebsratsarbeit schon sehr nahe.

Wurde dieses Prinzip erkämpft?
Nein. Dahinter steckt schlicht vernünftiges Management – und eine Betriebsleitung, die begriffen hat, dass zu reibungslosen Produktionsabläufen eine integrierte Arbeitnehmerschaft gehört. Dennoch könnte noch viel mehr passieren. Wie wirkungsvoll das Engagement deutscher Gewerkschaften sein kann, haben wir am Beispiel Südafrika in den 80er Jahren erlebt. Dort bewegte das 14-Punkte-Programm des Vorstandes der IG Metall, das Franz Steinkühler nach einem Besuch in dem Apartheid-Staat entwickelte, einiges. Binnen eines Jahres verpflichteten sich – nicht zuletzt auf Druck der Betriebsräte in Deutschland – mehr als zehn deutsche Unternehmen, in ihren Niederlassungen gewerkschaftliche wie menschenrechtliche Mindeststandards einzuhalten. Das ganze Land schaute hin! Ähnliches wäre auch in Ägypten denkbar.

Die ägyptische Revolution war vor allem eine Revolution der Jugend. Was ist deren größtes Problem: dass sie keine Chance auf Bildung hat oder dass es im Anschluss keine Arbeit für sie gibt?
Beides. Am Bildungssystem muss noch viel gearbeitet werden. Viele Kinder gehen gar nicht zur Schule. Auf der anderen Seite verlassen jedes Jahr Hunderttausende junge Ägypter Schulen und Universitäten, und viele haben Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Es ist zentral, der Bevölkerung Perspektiven in Ägypten zu bieten – denn schon heute arbeiten viele gut ausgebildete Ägypter im Ausland.

Könnten deutsche Unternehmen auch hier etwas tun?
Erste Ansätze gibt es. Noch während der Revolution haben einige in der deutsch-arabischen Handelskammer vereinte Unternehmen einen nationalen Beschäftigungspakt aufgelegt. Mit 25.000 Euro von der Kammer, 75.000 Euro aus deutschen Unternehmen und 100.000 Euro vom Auswärtigen Amt wurden in zwölf Monaten 5000 Arbeitsplätze – inklusive transparentem Arbeitsvertrag, Krankenversicherung und Fortbildungsangeboten – geschaffen. Weitere Vorhaben im Bereich Beschäftigung und Ausbildung werden derzeit umgesetzt und vom Auswärtigen Amt mit insgesamt rund 7,5 Millionen Euro gefördert. Und auch Gewerkschaften tun etwas: Auf Initiative der IG Metall Esslingen und von 15 Firmen wird in wenigen Wochen in der Stadt Luxor ein Projekt gestartet, 20 Jugendliche zu Elektrikern und Metallhandwerkern auszubilden. Sie alle haben die Garantie, anschließend in der Tourismusbranche angestellt zu werden.

Sind 20 Ausbildungsplätze angesichts von eineinhalb Millionen Schul- und Uni-Abgängern im Jahr nicht ein sehr kleiner Tropfen auf einem sehr heißen Stein?
Natürlich – aber entscheidend ist: 200 Multiplikatoren reden darüber. In Luxor stehen alle hinter dem Projekt – die Schulen, die Lehrer, die Hoteliers, der Gouverneur. Wenn es uns gelingt, Vorbilder zu schaffen, ist schon viel gewonnen. Was wir brauchen, ist ein Bewusstseinswandel – und dazu ist ganz wichtig, zu zeigen: Es geht – und es geht auch anders.

Interview und Foto: Jeannette Goddar

Zur Person

Peter Senft, 63, ist seit Ende 2011 Sozialreferent an der Deutschen Botschaft in Kairo. Zuvor war der gebürtige Bremer und Altstipendidat der Böckler-Stiftung in derselben Funktion an der Deutschen Botschaft in
Pretoria, Südafrika. Der Bankkaufmann und Jurist arbeitete für die IG Metall u.a. im Berliner Büro des Vorstandes; zudem war er beim EMB in Brüssel.

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