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Magazin Mitbestimmung

: 'Zu wenig Wir, zu viel Ich'

Ausgabe 12/2009

KOALITIONSVEREINBARUNG Was kommt mit Schwarz-Gelb auf uns zu? Wir fragten Konrad Klingenburg, Leiter der Parlamentarischen Verbindungsstelle beim DGB-Bundesvorstand.

Die Fragen stellte Cornelia Girndt, Redakteurin des Magazins Mitbestimmung/Foto: Peter Himsel

Konrad Klingenburg, der DGB-Bundesvorstand hat sich intensiv mit dem Kompass der neuen Regierung, dem 125-seitigen Koalitionsvertrag, auseinandergesetzt. Gab es Überraschungen?
Inhaltlich leider nicht. Dieser Koalitionsvertrag folgt dem liberal-konservativen Leitbild von Privatisierung, Deregulierung und damit Vereinzelung. Dem können wir als Gewerkschaften nichts abgewinnen. Überraschend finde ich allerdings, wie wenig Beachtung die neue Regierung der besorgniserregenden Wirtschafts- und Finanzmarktkrise schenkt und wie wenig sie darüber sagt, wie sie die Krise bewältigen will.

Wissen wir, was auf uns zukommt?
Nein, und es ist richtig ärgerlich, dass sich die Damen und Herren Koalitionäre kaum auf konkrete Maßnahmen verständigen konnten. Da kommt noch so manches durch die Hintertür, vielleicht durch die europäische. Ein Koalitionsvertrag mit so vielen Prüfaufträgen, Evaluationen, Kommissionen ist schon bemerkenswert. Entweder gibt es da doch eine größere Distanz und Entfremdung zwischen beiden Parteien, oder die Hausaufgaben waren nicht gemacht.

Wo sind die krassesten Unterschiede zu gewerkschaftlichen Positionen?
Die neue Regierung verweigert Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit wie Mindestlöhne oder die Abschaffung der Rente mit 67. Die Finanzmarktregulierung ist unverbindlich. Da ist die Kanzlerin auf der internationalen Bühne mutiger als zu Hause! Deregulierung und Privatisierung sollen so weitergehen wie bisher. Sogar der Börsengang der Bahn steht wieder auf der Tagesordnung - unglaublich für Berlinerinnen und Berliner, die die privatisierte S-Bahn genießen dürfen.
Am bedenklichsten ist aber meines Erachtens der "Überbau": Wie ein roter Faden zieht sich die Devise: "Mehr ich, weniger wir" durch den Koalitionsvertrag. Wer hat, dem wird gegeben, die Umverteilung wird verschärft, die Entsolidarisierung geht weiter, soziale Sicherung und Bildung werden weiter privatisiert.

Keine netten Aussichten gerade auch beim Mindestlohn. Denn die uneingeschränkte Freizügigkeit in der Europäischen Union wird ab 2011 mit voller Wucht auf den Arbeitsmarkt treffen.
Von diesem Datum ist im Koalitionsvertrag nicht einmal die Rede. Wir begrüßen Mobilität, deswegen ist es umso bedauerlicher, dass es auf die große Herausforderung, den europäischen Arbeitsmarkt zu gestalten, keine Antwort gibt. Europapolitisch ist das Programm der Koalition eine Kampfansage. Den Anforderungen für eine soziale Gestaltung des Binnenmarktes wird nirgendwo Rechnung getragen. Das ist das Gegenprogramm zu unseren Kernforderungen nach einer sozialen Fortschrittsklausel und einer Überarbeitung der Entsenderichtlinie.

Auf der Homepage des neuen FDP-Wirtschaftsministers Brüderle steht: "Wir brauchen jetzt kleinere Aufsichtsräte, weniger Gewerkschaftseinfluss... Die paritätische Mitbestimmung hat sich als Irrweg gezeigt. Wir sollten endlich zur Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer in Aufsichtsräten zurückkehren." Was haben wir da zu erwarten?
Beim Minister weiß man, was man hat. Aber wir sollten bei aller Kritik nicht zu rasch in eine Vorwurfshaltung verfallen. Die Union hat die Vorschläge der FDP, die auf eine Schwächung der Mitbestimmung zielten, weitestgehend abgewehrt. Wir verlassen uns auf das Wort der Kanzlerin! Klar, eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung werden wir vermutlich in den nächsten vier Jahren nicht erleben. Und dass die Bundesregierung bei der SE immer noch nicht sprechfähig ist, verheißt nichts Gutes.

Aber es wird auch keine Einschnitte bei der Mitbestimmung geben?
Es könnte eine Verkleinerung der Aufsichtsräte auf die Tagesordnung kommen, die nicht in unserem Sinne ist. Schwer wiegt auch, dass unsere Forderung, das Unternehmensinteresse an das Gemeinwohl zu koppeln und dies im Aktienrecht zu verankern, nicht aufgegriffen worden ist. Aber: Es liegt auch an uns, die neuen Regierenden - insbesondere auch die in Brüssel - vom Wert und der Zukunftsfähigkeit der Mitbestimmung zu überzeugen.

Der DGB entdeckt im Koalitionsvertrag "unverhüllte Klientelpolitik". Wer wird denn bedacht?
Bedacht werden Steuerberater, Hoteliers und Architekten. Das hat meines Erachtens System. Das ist ein Politikansatz, der weder liberal noch frei ist. Ich finde es schon ein Stück weit intellektuell beleidigend, wenn Freiheit auf Gebührenfreiheit reduziert wird. Oder auf niedrige Steuern für Gut- und Besserverdiener. Gerade die letzten Monate haben doch gezeigt, dass Freiheit ohne Verantwortung nicht funktioniert.

Derzeit kämpfen Betriebsräte und Gewerkschaften um jeden Arbeitsplatz. Wie kompetent äußert sich die Koalition zu Arbeit und Beschäftigung?
Die vermeintlich große Kompetenz besteht in Wachstumsfixierung, einem Politikansatz also, der uns in die Krise getrieben hat. Immerhin hat das Arbeitsministerium die Regelung zur Kurzarbeit verlängert. Ansonsten ist da im Moment noch vieles im Ungefähren. Mindestlöhne und Allgemeinverbindlicherklärungen für bestimmte Branchen sind zwar nicht kassiert, aber erschwert. Es gibt mehr Spielräume für die Unternehmen bei Befristung und mithin noch mehr Unsicherheit. Das Thema Leiharbeit taucht im Vertrag gar nicht auf, und gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder auch Tariftreue bleiben Zukunftsmusik

Welche politischen Maßnahmen bietet die Regierung den Arbeitnehmern und den Menschen, die dem Jahr 2010 sorgenvoll entgegensehen?
Die Verlängerung der Kurzarbeit kommt, was hilfreich ist. Ansonsten gibt es wenig Konkretes, außer dass die Altersteilzeit nicht verlängert werden wird. Auch Arbeitszeitverkürzungen werden von der Bundesregierung abgelehnt.

Und - welche Industriepolitik will sie betreiben?
Bei der Industriepolitik ist der Koalitionsvertrag ausgesprochen dünn. Da ist es schon interessanter, wie die Kanzlerin die Charta für nachhaltige Entwicklung im internationalen Rahmen befördert. Dass es bei Opel und anderen angeschlagenen Unternehmen weniger Staat geben wird - wenn man das als Industriepolitik bezeichnen möchte - ist laut genug angekündigt.

Wie stark wird der Richtungswechsel bei den Sozialsystemen sein?
Der Bruch mit der solidarischen Finanzierung der Krankenversicherung bekommt eine neue Dimension. Der Gesundheitsminister will die Kopfpauschale. Und der Arbeitgeberbeitrag soll auf sieben Prozent eingefroren werden. Das heißt: Alle künftigen Kostensteigerungen werden von den Versicherten bezahlt. Was die Rente betrifft, so wird die für uns wichtige Flexibilisierung im Koalitionsvertrag gar nicht mehr angesprochen.

Was heißt all das für die DGB-Politik?
Unsere Vorschläge für Krisenmanagement, für den Erhalt des Sozialstaats oder für eine gerechte Steuerpolitik liegen auf dem Tisch. Besonders wichtig ist gerade jetzt das Thema menschliche Arbeitswelt. Es ist absolut alarmierend, dass immer mehr Menschen nur "gedopt" ihren Arbeitstag überstehen, weil sie den Druck und die allzeitige Erreichbarkeit nicht mehr aushalten. Wir sind immer bereit, darüber zu diskutieren. Aber: So wie die Koalition das Thema Gesundheit im Besonderen und Sozialstaat im Allgemeinen angeht, berührt das Grundsätze gewerkschaftlicher Arbeit - und wir werden uns wehren, wenn Kopfpauschalen und Privatisierungen kommen.

Hören wir da schon die gewerkschaftlichen Protestwellen anrollen?
Bei der Ankündigung von breitem gesellschaftlichem Widerstand wäre ich vorsichtig. Unsere Linie bleibt: Konflikt wo nötig, Kooperation wo möglich. Wir müssen dem veränderten Parteiensystem Rechnung tragen. Die Einheitsgewerkschaft war vielleicht noch nie so wertvoll wie heute. Hinzu kommt: Die Gewerkschaften haben ein Mega-Tarifjahr vor sich und unsere Mitglieder viele Sorgen, die wir ihnen nicht auf der Straße nehmen können. Es wird in den kommenden Monaten darum gehen, Arbeitsplätze zu sichern, Arbeitnehmerrechte zu verteidigen und die Mitbestimmung zu erhalten - das ist eher defensiv. Wer dagegen die Backen aufbläst, muss hinterher auch pfeifen.

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