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Daniel Seikel zur Entsenderichtlinie: „EuGH-Urteil zeigt Spielraum für soziale Rechte in Europa“

Der Europäische Gerichthof hat eine Klage Ungarns und Polens gegen die veränderte Entsenderichtlinie zurückgewiesen. WSI-Europaexperte Daniel Seikel erklärt, warum die Entscheidung eine Signalwirkung für die Durchsetzung sozialer Rechte in Europa haben könnte.

Im Mai 2018 stimmte das Europäische Parlament einer Revision der Entsenderichtlinie zu. Sie regelt die Frage, welche Standards für Arbeitskräfte gelten, die vorübergehend in einem EU-Staat tätig werden, in dem sie nicht beschäftigt sind. Ziel des Beschlusses ist, dass die Arbeitsbedingungen entsandter ArbeitnehmerInnen denen heimischer Beschäftigter weiter angeglichen werden. Die Revision setzt somit das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ um.

Die Entscheidung wurde von Gewerkschaften und Sozialverbänden als wirksames Mittel gegen Lohndumping begrüßt. Polen und Ungarn hingegen klagten gegen die Änderung der Richtlinie vor dem Europäischen Gerichthof (EuGH) – erfolglos, wie nun entschieden wurde.

Daniel Seikel, Politikwissenschaftler und Referatsleiter für Europäische Politik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), hat sich intensiv mit den politischen Entscheidungsprozessen beschäftigt, die zur erfolgreichen Änderung der Entsenderichtlinie geführt haben und erklärt, warum der Fall als eine Art Lackmustest für die sozialen Potenziale europäischer Politik gelten kann.

Polen und Ungarn waren mit ihrer Klage gegen die Revision der Entsenderichtlinie nicht erfolgreich. Eine gute Nachricht?

Absolut.

Warum ist der Entscheidungsprozess um die Revision der Entsenderichtlinie europapolitisch so interessant?

Beim Thema Entsendung kommt einfach alles zusammen, was an Europa politisch wie wissenschaftlich so spannend ist. Aus der Revision können wir einige Rückschlüsse darüber gewinnen, wie groß der Spielraum der europäischen Politik ist, den Binnenmarkt zu regulieren. Diese Fähigkeit ist wiederum von enormer Bedeutung für die nationalen Sozialordnungen. 

Welche neuen Erkenntnisse liefert die Urteilsbegründung?

Als erstes natürlich, dass die Revision der Entsenderichtlinie rechtmäßig ist. Über den konkreten Fall der Entsendrichtlinie hinaus stellt der EuGH klar, dass der europäische Gesetzgeber auf Grundlage seiner Binnenmarktkompetenz wirtschaftliche Grundfreiheiten einschränken darf, um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Einheitliche europäische Regelungen mögen zwar für den Einzelnen eine Einschränkung seiner wirtschaftlichen Freiheiten bedeuten, z.B. den niedrigst möglichen Lohn zu zahlen.

Sie können aber dennoch die grenzüberschreitende Ausübung von Grundfreiheiten insgesamt erleichtern, indem sie das Nebeneinander vieler unterschiedlicher nationaler Regeln beseitigen und für Rechtssicherheit sorgen. Des Weiteren ist es zulässig, Grundfreiheiten zugunsten konkurrierender allgemeiner Interessen wie z.B. dem Schutz und der Gleichstellung von entsandten Beschäftigten zu beschränken. Der EuGH gesteht dem europäischen Gesetzgeber dabei einen weiten Ermessenspielraum zu. Bei nationalen Maßnahmen urteilt der EuGH deutlich restriktiver.

Die neue Entsenderichtlinie gilt jetzt seit zwei Jahren. Was gibt es über die Umsetzung in nationales Recht zu sagen? Hat sie schon zu spürbaren Veränderungen für die Betroffenen geführt?

Die  Umsetzungsfrist ist erst diesen Sommer abgelaufen. Es war den Mitgliedstaaten sogar verboten, die Revision vorher umzusetzen. Leider hat die Bundesregierung die neuen Möglichkeiten der Revision nicht voll ausgeschöpft. Es wäre absolut möglich gewesen, die Arbeitsbedingungen entsandter Beschäftigter noch weiter zu verbessern. Die Revision hätte es beispielsweise erlaubt, ganze Tarifverträge, auch regionale, auf entsandte Beschäftigte anzuwenden. Dazu konnte sich die Große Koalition wohl nicht durchringen.

Stattdessen sollen nur die drei untersten Entgeltgruppen von bundesweit geltenden Tarifverträgen für entsendete Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gelten. Schließlich ist Frage, ob sich die Situation der Betroffenen verbessert, auch stark davon abhängig, ob ihre Rechte durchgesetzt werden. Bei beiden Aspekten gibt es noch erheblichen Handlungsbedarf.  

Warum haben Ungarn und Polen eigentlich gegen die Revision der Richtlinie und damit offenbar gegen die Interessen der landeseigenen Arbeitnehmerschaft geklagt?

Die Entsendeunternehmen aus Ländern mit niedrigeren Lohnniveaus verlieren damit einen großen Teil ihres Wettbewerbsvorteils. Insofern haben Polen und Ungarn genauso wie die Revisionsbefürworter im Rat aus ökonomischem Eigeninteresse gehandelt.

Können wir davon ausgehen, dass das EuGH-Urteil die Grundlage dafür legt, Doppelstandards für einheimische und entsandte Beschäftigte zu  beenden?

Nein. Der EuGH hat hier keine Doppelstandards beseitigt. Er ist im Prinzip sogar durch seine frühere Rechtsprechung dafür verantwortlich, dass es Doppelstandards für heimische und entsandte Beschäftigte überhaupt gibt. Das Grundproblem der Entsendung, dass die Arbeitsbedingungen entsandter Beschäftigter den Bestimmungen des Entsendelandes entsprechen und nicht denen des Aufnahmestaates, geht genauso auf seine Rechtsprechung zurück wie das Verbot, über die Standards der ursprünglichen Entsenderichtlinie hinauszugehen.

Aber er hat zumindest den europäischen Gesetzgeber nicht darin gehindert, den angerichteten Schaden zu reparieren. Wie weit die Gleichstellung zwischen entsendeten und heimischen Beschäftigten geht, hängt letztlich von der Umsetzung der Revision durch die Mitgliedstaaten ab. Klar ist aber auch, dass auch nach der Revision Unterschiede bleiben werden, etwa bei der sozialen Absicherung von entsendeten Beschäftigten. Die richtet sich weiterhin nach dem Herkunftsland.

Was können wir aus der „Causa Entsenderichtlinie“ für die Durchsetzung sozialer Rechte in Europa lernen?

Offenbar sind die Spielräume europäischer Politik bei der Stärkung sozialer Rechte doch etwas größer, als man das bisher vermutet hat. Die Revision zeigt, dass es ganz entscheidend auf den politischen Willen der Entscheidungsträger in der Kommission, im Europäischen Parlament und im Rat ankommt, die soziale Dimension der EU zu stärken. Insofern sollte man sie auch zukünftig viel stärker in die Pflicht nehmen. Es führt kein Weg daran vorbei, die Grenzen des politisch Machbaren weiter auszutesten.

Uns sollte aber auch klar sein, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Revision zeigt auch, dass schon sehr viel zusammenpassen muss, um angesichts der heterogenen Interessen zwischen Mitgliedstaaten, den komplexen Entscheidungsprozessen der EU und der rechtlichen Schranken des Binnenmarktrechts etwas in Richtung eines sozialeren Europas zu bewegen. Daher sollte uns bewusst sein, dass wir noch auf lange Sicht auf funktionierende nationale Sozialordnungen angewiesen bleiben.

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