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HBS Böckler Impuls

Tarifpolitik: Tariftreue - ein Erfolgsmodell auf der Kippe

Ausgabe 07/2008

Acht von 16 Bundesländern haben in den vergangenen Jahren Tariftreue-Regelungen eingeführt, zwei weitere wollten in Kürze nachziehen. Ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes stützte diesen Trend, der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt ihn in Frage.

Mehr als 360 Milliarden Euro geben die etwa 30.000 Vergabestellen des Bundes, der Länder und der Kommunen jedes Jahr für öffentliche Aufträge aus. Damit bewegt die öffentliche Hand rund 16 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Als Einkäufer mit erheblicher Marktmacht beeinflusst der Staat Arbeitsbeziehungen und Tarifsystem zwangsläufig mit. Das zeigen Thorsten Schulten, WSI-Tarifexperte, und Michael Pawicki in einer neuen Untersuchung.* Denn Vergabeordnungen sind notwendigerweise relativ starr. Wenn sie - scheinbar neutral - lediglich auf den Preis einer Leistung abstellten, "würde der Staat selbst zur weiteren Erosion des Tarifvertragssystems beitragen, da er normalerweise gezwungen ist, das günstigste Angebot anzunehmen, und damit nicht-tarifgebundenen Unternehmen einen strukturellen Wettbewerbsvorteil einzuräumen", schreiben die beiden Autoren.

Tariftreue-Regelungen versuchen diesen Effekt auszuschalten oder sogar umzukehren, indem sie die Vergabe an die Einhaltung von örtlichen Tarifnormen binden. Sie "verfolgen demnach das Ziel, bei der öffentlichen Vergabe gleiche Wettbewerbsbedingungen herzustellen, so dass die Konkurrenz nicht primär über die Lohn- und Arbeitskosten, sondern über die Qualität der Leistungen ausgetragen wird", so Schulten und Pawicki. Dabei setze der Verweis auf Tarifverträge mit ihren differenzierten Strukturen nicht nur eine absolute Untergrenze, sagt WSI-Forscher Schulten. Zudem garantiere er jedem Beschäftigten eine Bezahlung nach Tarif abhängig von Tätigkeit und Qualifikation. Für die öffentlichen Auftraggeber bedeutet das erst einmal Mehrkosten. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium spricht von bis zu zehn Prozent Sparpotenzial, falls die Vergabe sich nur am günstigsten Preis orientiert. Solche Rechnungen würden allerdings sehr schnell zunichte gemacht, wenn der Staat als Folge seiner Einkaufspolitik an anderer Stelle mehr Geld ausgeben muss, gibt Schulten zu bedenken. Etwa dadurch, dass Beschäftigte von Billiganbietern mit öffentlichen Aufträgen so wenig verdienen, dass sie ergänzende Sozialleistungen beziehen müssen.

Die meisten westdeutschen Bundesländer, SPD- wie unionsregierte, haben in den vergangenen Jahren Tariftreuegesetze eingeführt. Auf Berlin, das 1999 den Anfang machte, folgten zwischen 2000 und 2004 Bayern, das Saarland, Niedersachsen, Bremen, Schleswig-Holstein und Hamburg. Im Dezember 2007 kam Hessen dazu. Rheinland-Pfalz hat für diesen Sommer ein entsprechendes Gesetz angekündigt, die Große Koalition in Mecklenburg-Vorpommern denkt darüber nach. Damit würde sich das West-Ost-Gefälle etwas abschwächen, das die Forscher bei den Tariftreuebestimmungen beobachten. Bislang hatte lediglich ein ostdeutsches Bundesland kurzzeitig eine Tariftreue-Vorschrift: Sachsen-Anhalt zwischen 2001 und 2002. Nach einem Regierungswechsel hob die neue CDU-FDP-Koalition die Regelung wieder auf. Das Gleiche passierte in Nordrhein-Westfalen, wo es von 2002 bis 2006 ein Tariftreuegesetz gab. Ein von der rot-grünen Bundesregierung 2002 vorgelegter Entwurf für ein bundesweit einheitliches Tariftreuegesetz scheiterte an der Ablehnung durch den von der Union dominierten Bundesrat.

In ihrem Geltungsbereich unterscheiden sich die verschiedenen Landesgesetze teilweise erheblich, zeigt die Detailanalyse von Schulten und Pawicki: Während sich die älteren Regelungen auf Vergaben für Bauleistungen und den ÖPNV beschränken, beziehen die neueren auch weitere Branchen wie die Abfallentsorgung, die Gebäudereinigung oder das Bewachungsgewerbe mit ein. Am weitesten vorangeschritten ist dieser Trend beim kürzlich novellierten Tariftreuegesetz für Berlin, das für sämtliche öffentliche Aufträge gelten soll. Berlin ist außerdem das erste Bundesland, das seine Vergaberegelung mit einer Mindestlohnvorschrift gekoppelt hat: Die beauftragten Unternehmen müssen sich verpflichten, ihren Beschäftigten - ohne Auszubildende - mindestens 7,50 Euro in der Stunde zu zahlen.

Wie sich Tariftreue-Regelungen in der Praxis auswirken, kontrolliert wiederum das Land Hamburg besonders intensiv: Eine zehnköpfige Ermittlergruppe, die "Soko Bau", überprüft, ob die Bestimmungen etwa auf Baustellen eingehalten werden. Mit dieser bundesweit einmaligen Stelle, so Schulten, "ist es Hamburg gelungen, eine hohe Kontrolldichte sicherzustellen und zugleich eine hohe Akzeptanz bei den betroffenen Unternehmen zu erzielen". In einer Umfrage des Senats unter Bauunternehmen nannten 97 Prozent die Tariftreue-Regelung sinnvoll, 90 Prozent gaben an, durch die Bestimmungen keinen signifikant höheren Aufwand zu haben.

Dass Tariftreue-Regelungen in den vergangenen Jahren Konjunktur hatten, führt WSI-Experte Schulten auch auf die rechtliche Absicherung durch ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli 2006 zurück. Die Karlsruher Richter entschieden, das Berliner Tariftreuegesetz sei verfassungskonform, weil der Gesetzgeber damit verfassungsrechtlich legitime Ziele verfolge.

Dazu zählten sie unter anderem die Verhinderung eines Verdrängungswettbewerbs über die Lohnkosten, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Entlastung der sozialen Sicherungssysteme. Auch "die Unterstützung des Tarifvertragssystems als Mittel zur Sicherung sozialer Standards" führten die Verfassungsrichter auf. Die Europäische Vergaberichtlinie weist in ihrem Artikel 26 ebenfalls ausdrücklich darauf hin, dass öffentliche Auftraggeber die Möglichkeit haben, zusätzliche Bedingungen für die Ausführung des Auftrags vorzuschreiben. Etwa "soziale und umweltbezogene Aspekte", zitiert Schulten.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied jedoch Anfang April, die Tariftreue-Regelung im niedersächsischen Vergaberecht sei mit der europäischen Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar. Zentrales Argument des Gerichts: Es sei nicht ersichtlich, dass ein Beschäftigter lediglich dann eines besonderen Schutzes bedürfe, wenn er im Rahmen eines öffentlichen Auftrags beschäftigt werde. Das Land hätte Unternehmen aus anderen EU-Staaten die Einhaltung des örtlichen Tarifs nur vorschreiben dürfen, wenn er für alle gelte, also durch eine staatliche Allgemeinverbindlicherklärung.

Nach dem überraschenden Urteil - der EuGH folgte dieses Mal anders als in den meisten Fällen nicht dem Plädoyer des Generalanwalts - nennt Tarifexperte Schulten die Zukunft der Tariftreue-Regelungen "mehr als ungewiss". Die Bundesregierung könne nun zwar versuchen, im Rahmen der aktuell anstehenden Revision des deutschen Vergabegesetzes doch noch einen europarechtskonformen Weg zu finden, um Tariftreue-Regelungen abzusichern. Zudem hätten verschiedene Europaparlamentarier angekündigt, auf europäischer Ebene nach einer Lösung zu suchen, sagt der Wissenschaftler. Doch sollte das nicht gelingen, drohe bei öffentlichen Aufträgen "ein rigoroser Lohnkostenwettbewerb". Der Staat würde das Tarifvertragssystem dann nicht stabilisieren, sondern - in vielen Bundesländern wider Willen - selbst noch zu seiner weiteren Erosion beitragen. Um das zu verhindern, sieht Schulten zwei Wege: die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns sowie eine Reform, die die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen deutlich erleichtert.

  • Acht von sechzehn Bundesländern haben in den vergangenen Jahren Tariftreuegesetze eingeführt. In einigen setzt die Pflicht zur Tariftreue allerdings erst bei Aufträgen oberhalb einer gewissen Schwelle an. Diese Schwellenwerte reichen von 10.000 bis 50.000 Euro Zur Grafik
  • Mehr als 360 Milliarden Euro geben die rund 30.000 Vergabestellen von Bund, Ländern und Gemeinden pro Jahr für öffentliche Aufträge aus. Damit bewegt die öffentliche Hand in Deutschland rund 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Großbritannien, Frankreich, Österreich oder Schweden ist der Anteil noch etwas höher, in den Niederlanden mit 24 Prozent am höchsten in der EU-15. Zur Grafik
  • Hamburger Bauunternehmen begrüßen die Tariftreueregelung in der Hansestadt. Das zeigt eine Umfrage des Hamburger Senats. Mehr als 97 Prozent der Befragten halten das Gesetz für sinnvoll, 90 Prozent gaben an, wegen der Bestimmungen keinen höheren Aufwand zu haben. Zur Grafik

Thorsten Schulten/Michael Pawicki: Tariftreueregelungen in Deutschland - Ein aktueller Überblick (pdf), in: WSI-Mitteilungen 4/2008 

 

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