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HBS Böckler Impuls

Eu-Binnenmarkt: Europa-Richter stellen Wettbewerb über Arbeitnehmerrechte

Ausgabe 05/2009

Der Europäische Gerichtshof hat zuletzt mehrfach grundlegende Arbeitnehmerrechte beschnitten. Dabei sehen die europäischen Verträge keine EU-Eingriffe ins nationale Arbeits- und Sozialrecht vor - der Gerichtshof stützt sich allein auf Richterrecht.

Seit Dezember 2007 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in mehreren Fällen geprüft, was schwerer wiegt - die europäischen Vorschriften zum Binnenmarkt oder in nationalen Gesetzen garantierte Arbeitnehmerrechte. Für die Luxemburger Richter scheint die Sache klar zu sein, schreibt der Politikwissenschaftler Martin Höpner in einer Studie zum Europäischen Gerichtshof. Die Bedeutung des Binnenmarktes sei so groß, dass selbst Grundrechte wie das Streikrecht zurückstehen müssten. Beispielsweise im Fall Viking: Die finnische Reederei wollte eine Fähre umflaggen und die Belegschaft durch billigere Arbeitskräfte aus Estland ersetzen. Die Gewerkschaft protestierte und rief zum Streik auf. Das Unternehmen klagte gegen die Arbeitsniederlegung. Es sah dadurch seine Freiheit beeinträchtigt, sich in einem EU-Land nach Wahl niederzulassen. Der Fall kam vor den EuGH, der Viking Recht gab: Der Streik war nicht erlaubt. Auch in den Streitsachen Laval, Rüffert und Luxemburg fiel die Abwägung der Richter ähnlich aus (siehe Kasten).

Die vier Entscheidungen des höchsten europäischen Gerichts können Folgen haben, die weit über die Einzelfälle hinaus reichen, warnt Höpner, Privatdozent vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Denn der Europäische Gerichtshof habe sich einen Instrumentenkasten zusammengestellt, "mit dem sich - ob beabsichtigt oder nicht - zukünftig wesentliche Merkmale der nationalen Arbeits- und Sozialordnungen auf dem Rechtsweg aushebeln lassen." Der EuGH verkleinere durch seine Rechtsprechung den Spielraum der Mitgliedsstaaten, der Marktwirtschaft eine soziale Komponente zu geben, erklärt ­Höpner. Es drohe eine "Radikalisierung der Binnenmarktintegration" auf Kosten des Arbeitsrechts - betrieben nicht vom EU-Parlament oder dem Ministerrat, sondern vom EuGH. Der Politikwissenschaftler hat untersucht, warum der Europäische Gerichtshof dazu in der Lage ist und ob er eine Legitimation dafür hat. Und er beleuchtet, mit welchen Strategien das europäische Sozialmodell vor dem Zugriff der Richter geschützt werden kann. Denn Europas Sozialstaaten seien sehr wohl mit den EU-Verträgen und dem Binnenmarkt vereinbar.

Selbst geschaffenes Recht. Der EuGH hat die vier Urteile nicht auf Basis der Europäischen Verträge gesprochen, sondern anhand von selbst entwickeltem Recht, schreibt Höpner. Die Römischen Verträge von 1957, die Grundlage aller Gemeinschafts-Verträge, waren zunächst Völkerrecht, Ansprüche von Staaten an Staaten. Erst der EuGH hat die Verträge so ausgelegt, dass auch Bürger und Unternehmen daraus Rechte ableiten konnten. Daran anschließend hat er den Vorrang des europäischen Rechts postuliert. "In einer Serie revolutionärer rechtsdogmatischer Schritte hatte der EuGH ohne Zutun der Mitgliedsstaaten einen völkerrechtlichen Vertrag zu einer Quasi-Verfassung umgedeutet", so Höpner. Inzwischen überprüft der Gerichtshof wie ein Verfassungsgericht, ob nationales Recht mit höherrangigem europäischem Recht kollidiert.

Die unmittelbare Wirkung der Verträge und der Vorrang des europäischen Rechts: Diese beiden vom EuGH formulierten Grundsätze haben die Durchschlagskraft der Römischen Verträge vervielfacht, legt Höpner dar. Das gilt vor allem für das zentrale Element der Römischen Verträge, das Recht auf ungehinderten Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Die vier so genannten Grundfreiheiten waren als Diskriminierungsverbote konzipiert: Ein EU-Ausländer soll nicht schlechter gestellt sein als ein Inländer. In der Auslegung des Europäischen Gerichtshofes sind daraus strikte "Beschränkungsverbote" geworden, schreibt der Forscher: "Potenzielle Hindernisse des transnationalen Warenverkehrs waren von nun an per se europarechtswidrig, auch wenn sie diskriminierungsfrei und unterschiedslos auf einheimische wie ausländische Anbieter angewendet wurden".

Eingriffe in die Arbeits- und Sozialordnungen. Die Rechtsprechung des EuGHs ermöglicht es, nationales Arbeitsrecht auszuhebeln. Dabei sei diese Option in den Verträgen gar nicht angelegt, kritisiert Martin Höpner wie schon zuvor der ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Fritz W. Scharpf. Die beiden Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Urteile in den Fällen Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg "der ursprünglichen Intention des Ministerrates mit hoher Wahrscheinlichkeit zuwiderlaufen". Ein Indiz dafür: Der europäische Gesetzgeber hat in den Verträgen ausdrücklich anerkannt, dass die EU nicht für die Arbeits- und Sozialordnung zuständig ist. "Es galt als ausgemacht, dass die europäischen Grundfreiheiten die Ausübung der nationalen Grundrechte nicht umzuorganisieren haben", so Höpner. An die Maxime hielt sich auch der EuGH lange Zeit. Beispielsweise erklärte er Demonstrationen auf österreichischen Autobahnen für rechtens, obwohl sie den europäischen Warenverkehr blockierten. Die Versammlungsfreiheit wog schwerer.

Warum kann der EuGH ungehindert agieren? Der Europäische Gerichtshof - ein Gremium von je einem Richter aus jedem EU-Staat - hat nach Höpners Analyse ein primäres Ziel: Er will die Durchsetzung des europäischen Rechts sichern. Bei der derzeitigen Aufgabenteilung zwischen Mitgliedsstaaten und EU bedeutet dies: Er schützt vor allem die Freiheit des Warenverkehrs. Dieses Selbstverständnis wird in der Politikwissenschaft kontrovers diskutiert. Höpner schildert die beiden wichtigsten Positionen: Eine Denkschule vertritt die Haltung, der EuGH sei nicht Hüter des Vertragsrechts, sondern der europäischen Integration. Darum müsse er so handeln wie er es tut. Dem widersprechen andere Experten: Der EuGH habe zwar Spielraum, um die Integration zu stärken. Aber zu weit von der Intention des Vertragstextes dürfe er sich nicht entfernen. Doch genau dies sei nun geschehen, sagen Höpner und Scharpf.

In der Vergangenheit traf der EuGH besonders weit reichende Entscheidungen anhand von Einzelfällen, deren materielle und politische Bedeutung gering waren. Es ging um Handelsschranken für Likör und Mais-Gries. Fälle wie Laval und Viking seien anders gelagert, beobachtet Höpner. Jetzt werden fundamentale Arbeitnehmerrechte verhandelt, und die Streitparteien waren politisiert. Warum regen sich dennoch kaum Stimmen gegen die Urteile, fragt der Max-Planck-Forscher. Er kommt zum Schluss: "Kompetenzanmaßungen des EuGH zehren auch davon, dass etwaiger Widerstand stets Gefahr läuft, vom innenpolitischen Parteienwettbewerb zerrieben zu werden." Protest gegen EuGH-Urteile sei schwer zu koordinieren, da es zahlreiche Interessensunterschiede zwischen den EU-Staaten und auch innerhalb der Länder gebe. Außerdem bearbeiten viele Verbände das Themenfeld ausschließlich juristisch; von den Fachabteilungen gelange es nicht in die politische Arena.

Höpner und Scharpf empfehlen trotz dieser Barrieren eine politische Strategie, um die Rechtssprechung in Einklang mit den Verträgen zu bringen: "Die Lösung kann nur in einer von den Mitgliedstaaten politisch überwachten Selbstzurückhaltung des EuGH liegen." Der Europäische Gerichtshof müsse den Arbeits- und Sozialsystemen der Mitgliedsländer jene Autonomie zugestehen, die in Art. 137 Abs. 5 EGV vereinbart ist. Und das notfalls auch zulasten der so genannten Binnenmarkt-Grundfreiheiten.  

 

EuGH-Rechtsprechung

Der Europäische Gerichtshof hat im Fall Viking zulasten von Arbeitnehmerrechten entschieden - und nicht nur in dieser Streitsache.

Laval: Das lettische Unternehmen entsendet Beschäftigte zum Bau einer Schule nach Schweden, zahlt aber lediglich ein Entgelt, das unter dem schwedischen Mindestlohn liegt. Die schwedische Gewerkschaft will Laval zu Verhandlungen bewegen und blockiert die Baustelle. Der EuGH wägt ab, das in der schwedischen Verfassung verankerte Arbeitskampfrecht gegen die europäische Dienstleistungs­freiheit. Er kommt zum Schluss, dass die Dienstleistungsrichtlinie die Sachverhalte, für die Gewerkschaften streiken dürfen, abschließend benennt. Mindestlöhne fallen nur darunter, wenn sie staatlich festgeschrieben werden. Der Arbeitskampf der Gewerkschaften, so der EuGH, war deshalb illegal.

Rüffert: Das Land Niedersachsen vergibt einen Bauauftrag, geknüpft an die Auflage tarifvertraglicher Löhne. Ein polnischer Subunternehmer zahlt jedoch nur etwa die Hälfte des am Bau üblichen Mindestlohns. Das Land beanstandete dies. Der EuGH gibt dem Unternehmen Recht: Eine Ausschreibung mit Tariftreue-Pflicht sei nicht mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar.

Luxemburg: Die EU-Kommission verklagt das Land wegen eines ihrer Ansicht nach europarechtswidrigen Entsendegesetzes. Das luxemburgische Entsendegesetz sieht einen gesetzlichen Mindestlohn vor, der sukzessive mit den Lebenshaltungskosten steigt. Der EuGH entscheidet: Was entsendende Unternehmen im Gastland einhalten müssen, sei abschließend in der Entsenderichtlinie aufgezählt. Ein Mindestlohn, der automatisch steigt, gehöre nicht dazu. 

  • Nur wenige EU-Bürger haben das Gefühl, dass sie in der europäischen Politik mitreden können. Zur Grafik
  • Trotz aller Probleme – die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU ist eine gute Sache, sagen die meisten Europäer. Zur Grafik
  • Umweltschutz und Unterstützung für wirtschaftlich schwache Regionen, das sind Gemeinschaftsaufgaben. Aber soziale Fragen will die Mehrheit der Europäer lieber auf nationaler Ebene regeln. Zur Grafik

Martin Höpner: Usurpation statt Delegation. Wie der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politischer Kontrolle bedarf, Diskussionspapier des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Köln, 2008

mehr zum Thema Soziales Europa, in: Magazin Mitbestimmung 03/2009

Interview mit dem Politikwissenschaftler Fritz Scharpf zum EuGH, in: Magazin Mitbestimmung 07+08/2008

Martin Höpner: Das soziale Europa findet nicht statt, in: Magazin Mitbestimmung 05/2008

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