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HBS Böckler Impuls

Arbeitsmarkt: Eine Versicherung für alle Erwerbslagen

Ausgabe 12/2008

Die Arbeitslosenversicherung fängt nur den eine Zeitlang auf, der eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verliert. Heutige Erwerbsbiografien sind jedoch viel facettenreicher. Eine weiter gefasste Beschäftigungsversicherung könnte besser dazu passen.

Von der Lehre bis zur Rente im gleichen Betrieb: Das war einmal. Erwerbsverhältnisse und Erwerbswünsche sind immer vielfältiger geworden, so Professor Günther Schmid vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Viele Erwerbstätige wechseln heutzutage mehrfach zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit, zwischen Vollzeit und Teilzeit. Auch die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen hat Auswirkungen auf die mögliche Teilhabe am Arbeitsleben.

Vor allem atypische Beschäftigungsverhältnisse und kritische Übergänge zwischen verschiedenen Arbeits- und Beschäftigungsformen werden von der Arbeitslosenversicherung nicht ausreichend abgesichert, konstatiert der Arbeitsmarktexperte. Um solche Übergänge besser managen zu können, sollten auch deren Risiken abgesichert und durch eine lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik unterstützt werden. Schmid hat die Entwicklungen am Arbeitsmarkt gründlich analysiert. Und als zeitgemäße Lösung für die Risiken im Erwerbsverlauf eine Beschäftigungsversicherung entwickelt. "So wie sich Arbeit lohnen muss, muss auch die Bereitschaft zu riskanten Übergängen 'belohnt' werden", rät der Politikprofessor. Anderenfalls "entsteht Arbeitslosigkeit auch deshalb, weil die anderen Risiken im Erwerbsverlauf nicht, nur mangelhaft oder falsch abgesichert sind".

Schmid hat fünf für den Erwerbsverlauf charakteristische Risikotypen ausgemacht:

Mangelhafte Einkommenskapazität - sprich: das Risiko der Jugendarbeitslosigkeit - wegen des schwierigen Übergangs von der Bildung in den Beruf. Auf dem Weg in die erste reguläre Beschäftigung liegen für viele junge Erwachsene Praktika, Werkverträge und befristete Arbeitsverhältnisse. 1,36 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 29 Jahren blieben nach Daten des Mikrozensus von 2004 völlig ohne Ausbildung. Das sind fast 15 Prozent dieser Altersgruppe. Bei Jugendlichen ausländischer Herkunft sind es sogar 37 Prozent.

Unstetige oder zu geringe Einkommen. Immer häufiger wechseln Beschäftigungsformen zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit, Teilzeit und Vollzeit, Arbeit und Weiterbildung, niedrig und hoch bezahlten Tätigkeiten. Diese Übergänge sind mit Risiken unstetiger Einkommen oder gar Arbeitsarmut verbunden. Eine besondere Risikogruppe sind die so genannten Solo-Selbstständigen: Anders als in der Mehrzahl der europäischen Länder werden sie in Deutschland nicht von den staatlichen Pflichtversicherungssystemen erfasst.

Reduzierte Erwerbseinkommen wegen anderer Verpflichtungen wie Pflege und Erziehung. In den skandinavischen Ländern fangen schon seit längerem eine öffentliche Kinderbetreuung und Lohnersatzleistungen das Einkommensrisiko der Elternschaft auf. In Deutschland bedeuten Kinder immer noch Risiken für die in der Regel zunächst zu Hause bleibende Frau. Steigt sie wieder in den Beruf ein, bleibt ihr Einkommen unter dem, welches sie ohne Babypause erreicht hätte.

Zeitweiser Einkommensausfall aufgrund von Arbeitslosigkeit. Für viele wird der Übergang zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zu einer wiederholten, schlimmstenfalls zu einer andauernden Lebenserfahrung. Als zentrales Problem bewertet Schmid dabei das Risiko der lange andauernden Arbeitslosigkeit. Seit Oktober 1992 hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen auf 1,45 Millionen verdoppelt. Gering Qualifizierte sind um ein Mehrfaches stärker betroffen.

Dauerhafter Einkommensausfall wegen Krankheit, Invalidität oder Ruhestand. Die "an sich erfreuliche Verlängerung der Lebenszeit" fordere "auch entsprechend variablere Übergänge in den Ruhestand" so der ehemalige WZB-Direktor.

Diese vielen neuen Risiken lassen sich jedoch grundsätzlich managen, so Schmid - und plädiert für einen Ausbau der Arbeitslosenversicherung zu einer Beschäftigungsversicherung. Sie enthält drei Elemente:

Universelle Grundsicherung für alle erwerbsfähigen Arbeitslosen. Sie entspricht weitgehend dem Arbeitslosengeld II, sollte aber "noch armutsfester" gestaltet sein - und müsste aus Steuergeldern finanziert werden.

Lohnbezogene Einkommenssicherung, in etwa das Arbeitslosengeld I. Entscheidender Unterschied: Alle Erwerbstätigen würden diese neue Form der Sozialversicherung finanzieren und gegebenenfalls Leistungen daraus enthalten - unabhängig vom Beschäftigungsstatus. Anders als heute wären also auch Selbstständige mit im Boot.

Lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik, die heutige "aktive" Arbeitsmarktpolitik. Sie wird ergänzt um Elemente wie die Unterstützung von Klein- und Mittelbetrieben bei deren Personalpolitik und Weiterbildungs-, Langzeit- oder Lernkonten zur Absicherung von Übergängen.

Schmid schlägt vor, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu splitten: in einen Versicherungsbestandteil und in ein persönlich zu verantwortendes Entwicklungskonto. Jeder Erwerbstätige könnte selbst entscheiden, ob er daraus Gelder entnimmt für Weiterbildung, den Ausgleich reduzierter Arbeitszeiten oder die Überbrückung geminderter Verdienste. Nutzt er es nicht, verfällt es am Ende des Erwerbslebens. Ein Prozentpunkt des bisherigen Beitrags könnte in ein solches Konto fließen. Zusätzlich müsste es aus allgemeinen Steuermitteln so ergänzt werden, dass alle Beschäftigten unabhängig von ihrem Beitrag auf den gleichen Kontostand kommen. Auch Tarifverträge könnten das Konto aufstocken.

Hauptvorteil der Beschäftigungsversicherung sei die "Stärkung des innovativen Risikos", so Schmid. Denn mit ihr würde bei Beschäftigten wie Arbeitgebern die Bereitschaft steigen, riskante Investitionsentscheidungen zu treffen. "Vor allem die Flexibilität der Arbeitszeiten im Lebenslauf, die zwischenbetriebliche Mobilität und die Weiterbildungsbereitschaft würden steigen." Damit könnte die neue Versicherung nicht nur die ökonomische Wohlfahrt steigern, sondern auch eine größere Selbstbestimmung und balanciertere Gestaltung von Lebens- und Arbeitswelt bringen.

Darüber hinaus sollen viele weitere institutionelle Arrangements "die neuen Risiken kalkulierbar machen und für eine faire Teilung der zu erwartenden Gewinne und Verluste sorgen". Als Beispiel nennt der Arbeitsmarktexperte die Akzeptanz von Niedriglöhnen für Arbeitslose. Wer wieder in den Arbeitsmarkt eintritt, der sollte erwarten können, dass er die Chance hat, sich aus einem Niedriglohnjob hochzuarbeiten, so Schmid. Hilfreich wären hier unter anderem Qualifizierungsgutscheine für berufsbegleitende Weiterbildung sowie ein reichhaltiges Angebot an regionalen Beratungs- und Bildungsinstitutionen.

Beim Start in eine neue Beschäftigung müssen Langzeitarbeitslose, für die kaum noch Chancen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bestehen, eine hohe psychologische Schwelle überwinden. Denn sie tauschen vertraute Sicherheiten - und sei es auch nur die Zuverlässigkeit der Transferzahlungen - gegen unbekannte und risikobehaftete Chancen. Langzeitarbeitslose müssten deshalb mehrere Beschäftigungen ausprobieren dürfen, ohne gleich streng sanktioniert zu werden, so Schmid.

Auch sollte es ihnen möglich sein, bei einem Start in die Selbstständigkeit den Anspruch auf Arbeitslosengeld aufrechtzuerhalten. Ebenfalls hilfreich: die befristete Befreiung Langzeitarbeitsloser von Steuern und Abgaben bei der Aufnahme eines riskanten neuen regulären Jobs.

Die derzeit geltende Abgabenfreiheit für eine Nebenbeschäftigung bis zu 400 Euro gehöre hingegen abgeschafft, denn: "Sie stellt eine sozialpolitische Fehlallokation in der Größenordnung von ein bis zwei Milliarden Euro dar, die den 'Insidern', aber nicht den arbeitslosen 'Outsidern' zugute kommt", urteilt der Wissenschaftler.

  • Eine wachsende Risikogruppe sind die Solo-Selbstständigen, also die Selbstständigen ohne Beschäftigte: Sie werden nicht von den staatlichen Pflichtversicherungssystemen erfasst. Zur Grafik
  • Viele Erwerbstätige wechseln heutzutage mehrfach von einer Erwerbsform in die andere. Vor allem atypische Beschäftigungsverhältnisse und Übergänge zwischen verschiedenen Arbeitsformen sind jedoch nicht ausreichend abgesichert. Zur Grafik
  • Viele junge Erwachsene bleiben heutzutage ohne Ausbildung. Für Jugendliche ausländischer Herkunft gilt dies besonders Zur Grafik

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