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Internationale Konferenz zu Corporate Governance und Mitbestimmung: Arbeitnehmerbeteiligung in Europa: Neue Perspektiven oder drastische Einschränkung durch den EuGH?

22.09.2016

Durch das Brexit-Votum verschieben sich die Gewichte in der europäischen Politik. Nach zwei Jahrzehnten, in denen die Europäische Kommission vor allem Anstöße in Richtung Privatisierung und Deregulierung gegeben hat, ist wieder offen: Welches Wirtschafts- und Sozialmodell setzt sich in Europa durch: das neoliberale, angelsächsische oder ein sozialpartnerschaftliches, kontinentales?

Eine Schlüsselfrage bei der politischen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung Europas – und für die Glaubwürdigkeit bei seinen Bürgerinnen und Bürgern – wird sein, ob Arbeitnehmerrechte auf Mitsprache und Beteiligung gestärkt oder geschwächt werden. Darüber waren sich die Experten einig, die auf Einladung der Hans-Böckler-Stiftung und der Chambre des Salariés Luxembourg diskutiert haben. Die Vertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Leitungsgremien von Unternehmen ist in Europa weit verbreitet: 18 von 28 EU-Staaten verfügen heute über gesetzliche Regelungen, die Beschäftigten eine Beteiligung in den Aufsichts- oder Verwaltungsräten ihrer Unternehmen garantieren. So gibt es in Deutschland die Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Europäische Länder mit starker Arbeitnehmerbeteiligung schneiden auch ökonomisch gut ab (detaillierte Informationen in unserer digitalen Pressemappe; Link unten).

„Das Europa der Zukunft kann nicht funktionieren ohne mehr Engagement der Gesellschaft. Und eine faire, verbindliche Einbeziehung der Arbeitnehmer ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, weil sie tief in entscheidende Fragen des Alltags reicht. Aus diesem Grund hat auch unser Land entsprechende Regelungen“, sagte Luxemburgs Minister für Arbeit, Beschäftigung sowie Sozial- und Solidarwirtschaft Dr. Nicolas Schmit auf der Konferenz. „Wir Gewerkschaften wollen zukunftsfeste Arbeitsplätze und Standorte. Mitbestimmung hilft uns dabei. Wir freuen uns zu sehen, dass diejenigen EU-Staaten mit entwickelter Mitbestimmung in wichtigen Zukunftsfeldern besser dastehen als Länder mit schwacher oder keiner Mitbestimmung“, erklärte Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). „Die Beteiligung der Arbeitnehmer ist erst einmal ein Wert an sich. Sie ist aber auch wichtig, um Unternehmen auf einen langfristigen und nachhaltigen Investitionspfad zu bringen und eine Kurzfristfixierung in den Aufsichtsgremien aufzubrechen“, erklärte Pierre Habbard vom Trade Union Advisory Committee der OECD.

Je eigenverantwortlicher und technologisch anspruchsvoller Arbeitsbedingungen sind, desto wichtiger sei die Partizipation der Beschäftigten, betonte Hoffmann. Das sei auf europäischer Ebene schon vor knapp 20 Jahren herausgearbeitet worden. Hoffmann erinnerte an den Abschlussbericht einer EU-Expertenkommission von 1997: „Die Arbeitskräfte, die die europäischen Unternehmen benötigen, nämlich qualifizierte, mobile, engagierte und verantwortliche Arbeitnehmer, die in der Lage sind, technische Innovationen aufzunehmen und sich die Zielsetzungen einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und einer Verbesserung der Qualität zu eigen machen, können nicht einfach als Empfänger von Anweisungen gesehen werden, die vom Arbeitgeber diktiert werden. (…) Dieses Konzept der Arbeitnehmerschaft setzt eine enge, ständige Beteiligung am Entscheidungsprozess auf allen Unternehmensebenen voraus“, hatte der vormalige EU-Vizepräsident Etienne Davignon erklärt. Allerdings, so Hoffmann, „hat die EU diese kluge Analyse nur höchst unzureichend in konkrete Gesetzgebung umgesetzt. Insbesondere das europäische Gesellschaftsrecht hat für die Arbeitnehmerpartizipation bisher weitaus mehr Gegen- als Rückenwind gebracht.“

Die aktuellen Entwicklungen bewerteten die Fachleute in Luxemburg als widersprüchlich. Einerseits ist sogar in Großbritannien die Debatte voll entbrannt. Die neue Premierministerin Theresa May hat eine „bold positive vision” für ihr Land angekündigt. Teil dieser Vision ist, dass Beschäftigte und Kunden künftig in den Boards britischer Unternehmen vertreten sein sollen. Noch in diesem Herbst will die Regierung mit den Vorarbeiten für eine Reform beginnen.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker möchte das kontinentale Modell wahren, wie sein Vorschlag zu einer neuen „pillar of social rights“ zeigt. Und im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europaparlaments wird gerade ein Berichtsentwurf zur Arbeitnehmervertretung in Leitungsgremien diskutiert, die Abstimmung ist im September geplant. Doch unumstritten sind beide Initiativen nicht; Gegner erweiterter Rechte im Arbeitsleben haben sich in Stellung gebracht. Und die bisherigen Kommissions-Vorschläge für die „soziale Säule“ sind nach Analyse von Juristen des Europäischen Gewerkschaftsinstituts alles andere als tragfähig. Zur Förderung der Mitbestimmung findet sich in der Vorlage der EU-Kommission nichts. Dabei ist es das erklärte Ziel der europäischen Verträge, die EU-Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung der sozialpolitischen Ziele zu unterstützen. Das umfasst ausdrücklich auch die Mitbestimmung.

Zugleich droht der Arbeitnehmerbeteiligung in ganz Europa akute Gefahr aus einer anderen Richtung. Das zeigte Prof. Dr. Johann Mulder von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Oslo. Derzeit ist eine Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig, in der ein Kleinaktionär des Reisekonzerns TUI bestreitet, dass die deutsche Mitbestimmung europarechtskonform ist. Der Kläger argumentiert, Auslandsbeschäftigte deutscher Unternehmen würden diskriminiert, weil sie bei den Wahlen der Beschäftigtenvertreter für den Aufsichtsrat nicht mitstimmen dürfen. Ähnliche Klagen hatten deutsche Gerichte in den vergangenen Jahren immer wieder zurückgewiesen.

„Wir vermuten stark: Dem Kleinaktionär der TUI AG geht es nicht um die Verbesserung der Mitbestimmungsrechte. Ihm geht es um ihre Abschaffung!“, sagte der DGB-Vorsitzende Hoffmann. Viele Rechtswissenschaftler, etwa der Göttinger Arbeitsrechtsprofessor Dr. Rüdiger Krause, halten das juristische Argument für konstruiert. Schließlich dürfen die Belegschaften der Auslandsgesellschaften und -filialen schlicht nicht mit abstimmen, weil Deutschland nicht in die Rechte anderer Länder eingreifen und ihnen Regeln zur Aufsichtsratswahl vorschreiben kann. Es sei völlig normal, dass sich bestimmte Rechtsansprüche verändern, wenn Beschäftigte zu einem Betrieb ins Ausland wechseln, zum Beispiel beim Kündigungsschutz (mehr in der digitalen Pressemappe). Es komme auch niemand auf die Idee, in deutschen Niederlassungen französischer Konzerne müsse das französische Streikrecht gelten. „Es ist essenziell im Recht der EU, dass Gesetzgebung zur Arbeitnehmerbeteiligung Sache des nationalen Gesetzgebers ist“, bekräftigte auch der Osloer Rechtswissenschaftler Mulder. „Deshalb kann man es nicht als Diskriminierung ansehen, wenn nationales Recht auf einen inländischen Beschäftigten oder Arbeitgeber angewandt wird – unabhängig von dessen Nationalität – aber nicht auf einen Beschäftigten oder Arbeitgeber außerhalb der Landesgrenzen.“

Doch auch wenn es gute juristische Argumente gegen die Klage gibt – das Verfahren ist offen und die potenziellen Folgen weitreichend, betonten die Experten in Luxemburg. Während die deutsche und die österreichische Regierung vor dem Gerichtshof gegen die Klage argumentieren, haben Juristen der EU-Kommission in einer Stellungnahme Argumente des Klägers übernommen. Bekäme er Recht, wären die Rechtsfolgen für Eingriffe in nationale Arbeitnehmerrechte über Deutschland hinaus gravierend, warnte Dr. Norbert Kluge, Mitbestimmungsexperte der Hans-Böckler-Stiftung. „Die Unternehmen wären mit einem kritischen Ausmaß von Rechtsunsicherheit konfrontiert. Sie können nicht mehr sicher sein, ob ihre Kontrollgremien rechtlich korrekt zusammengesetzt sind“, so Kluge. "Dadurch würden auch die Mitbestimmungsregeln in den anderen Ländern drastisch geschwächt, auch bei uns in Luxemburg. Das wäre ein großer Rückschritt für das soziale Europa. So kann man den Bürgern und insbesondere den Arbeitnehmern Europa nicht vermitteln", sagte Luxemburgs Arbeitsminister Schmit.

„Es kann nicht angehen, dass die europäische Rechtsprechung eine gut funktionierende nationale Mitbestimmungsstruktur in Deutschland unter Druck setzt, während die europäischen Institutionen gleichzeitig keinerlei Ansatz für eine faire, gesetzlich solide abgesicherte Arbeitnehmerbeteiligung auf europäischer Ebene anbieten“, sagte Peter Scherrer, Stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes EGB. Die europäischen Gewerkschaften hatten bereits vor zwei Jahren einen Weg dahin aufgezeigt. Ihr Vorschlag: Über eine EU-Richtlinie ließe sich ein Mindeststandard für bindende Arbeitnehmerbeteiligung in Unternehmen europäischer Gesellschaftsform sicherstellen. Weitergehende nationale Regelungen zur Arbeitnehmerbeteiligung blieben hierbei unberührt, es gäbe also eine belastbare Untergrenze ohne die Gefahr eines Verdrängungswettbewerbs.

Weitere Informationen:

Digitale Pressemappe (pdf) Arbeitnehmerbeteiligung in Europa und das EuGH-Verfahren zur Aufsichtsratsbesetzung bei der TUI AG.

Englische Version der Pressemitteilung (pdf)

Kontakt:

Dr. Norbert Kluge
Leiter Mitbestimmungsförderung

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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