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HBS Böckler Impuls

Arbeitswelt: Hilflos vor dem Bildschirm

Ausgabe 13/2017

Viele Beschäftigte tun sich schwer mit Lesen und Schreiben. Weil Computer und Tablets auch in die sogenannten einfachen Berufe einziehen, wird es für sie immer schwieriger.

Es betrifft mehr Menschen, als die meisten denken: 14 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter – 7,5 Millionen Personen – gelten als funktionale Analphabeten. Das heißt, sie können einzelne Wörter oder kurze Sätze lesen und schreiben, sind aber nicht in der Lage, zusammenhängende Texte zu verstehen oder zu verfassen. Wer glaubt, mit diesem Handicap sei keine Teilnahme am Erwerbsleben möglich, irrt: 57 Prozent der funktionalen Analphabeten sind berufstätig  – oft als Hilfskräfte in körperlich anstrengenden Jobs. Allerdings wird es auch an solchen Arbeitsplätzen immer schwieriger, ohne Grundbildung auszukommen, so Sandra Saeed, Uwe Kühnert und Anja Gerhardt in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung. 

Um herauszufinden, wie Unternehmen des Schienenverkehrs mit dem Problem umgehen, haben die Arbeitsmarkt- und Bildungsexperten die Situation in fünf Betrieben untersucht. Dort sind viele Menschen beschäftigt, die im Arbeitsalltag – noch – weitgehend ohne Schriftsprache auskommen, sei es als Rangierer, Gleisarbeiter, Service- oder Reinigungskraft. Aber die Anforderungen nehmen zu: Arbeitsanweisungen werden nicht mehr mündlich erteilt, sondern kommen immer häufiger als elektronische Nachricht, Arbeitsfortschritte oder Kundenbeschwerden müssen per Computer oder Tablet schriftlich dokumentiert werden. Wo Stellen durch technischen Fortschritt wegfallen, müssten die Betroffen neue Aufgaben übernehmen, was ohne bessere Fertigkeiten im Umgang mit Texten jedoch oft unmöglich ist. 

Was tun die Betriebe, um Beschäftigte entsprechend fortzubilden? Dazu haben die Forscher Personalverantwortliche und Betriebsräte befragt. Ihr Ergebnis: Es gibt Unterstützung, aber keine systematisch angelegten Bildungsprogramme. Ob sich bei Grundbildungskursen, wenn es sie gäbe, viele Beschäftigte anmelden würden, ist allerdings fraglich. Denn die wenigsten Betroffenen mögen ihr Defizit öffentlich eingestehen. Sie haben oft Tricks entwickelt und Netzwerke von Unterstützern aufgebaut, die es ihnen ermöglichen, ohne viel Lesen und Schreiben durchzukommen; etwa indem sie eine Vertrauensperson ansprechen, die dann den geforderten schriftlichen Bericht verfasst. 

In den von Saeed, Kühnert und Gerhardt untersuchten Betrieben sind es oft Männer ab 50 mit Migrationshintergrund, die mit der Schriftsprache hadern. Wobei nicht immer ganz klar ist, ob ihnen nur die Lektüre deutscher Texte nicht gelingt oder ob sie in ihrer Muttersprache dieselben Schwierigkeiten hätten. Die andere größere Gruppe, in der funktionaler Analphabetismus regelmäßig vorkommt, ist die der Auszubildenden. Insofern könne nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Problem mangelnder Grundbildung in naher Zukunft von selbst erledigt, warnen die Forscher. 

Viele Personalverantwortliche haben von funktionalem Analphabetismus noch nie gehört. Andere kennen das Problem, fühlen sich aber überfordert. Wieder andere entwickeln mit viel Engagement eigene Nachhilfeformate oder kämpfen darum, dass einzelne, im Job gute, aber im Umgang mit Texten schwache Azubis bestimmte Prüfungen mündlich statt schriftlich absolvieren dürfen. 

Natürlich gibt es Angebote für Menschen mit Lese- und Schreibschwächen, vor allem an Volkshochschulen. Allerdings fehlt diesen Kursen den Forschern zufolge der Bezug zum betrieblichen Alltag. Hier gelte es, Brücken zu schlagen. Entscheidend sei außerdem die „Erstansprache“: In der Praxis habe sich gezeigt, dass Weiterbildungsangebote, die sich offen an Beschäftigte mit Defiziten in Sachen Schriftsprache wenden, auf wenig Akzeptanz stoßen. Besser geeignet seien „gesichtswahrende Huckepackangebote“, die Hilfestellung beim Schreiben von Behördenbriefen oder im Umgang mit Computern in Aussicht stellen. Nachdem auf diese Weise der Kontakt hergestellt sei, müssten sehr individuell ausgerichtete Lernangebote in kleinen Gruppen entwickelt werden. Sich für die Einführung der nötigen Strukturen im Unternehmen einzusetzen, sei nicht zuletzt Sache der Betriebsräte.  

  • Auch Berufstätige haben Schwierigkeiten im Umgang mit Texten. Zur Grafik

Sandra Saeed, Uwe Kühnert, Anja Gerhardt: Grundbildung in Eisenbahnverkehrsunternehmen, Working Paper der Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 41, Mai 2017 

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