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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Flüchtlinge nicht vom Arbeitsmarkt abschotten"

Ausgabe 01/2016

Herbert Brücker erklärt, was die Flüchtlingswelle für den deutschen Arbeitsmarkt bedeutet und warum wir Integration in Arbeit und Bildung brauchen – nicht Abschreckung. Die Fragen stellte Cornelia Girndt

Herr Brücker, für den Satz „Wir schaffen das“ hat Angela Merkel viel Lob, aber auch viel Kritik geerntet. War die Haltung klug, die die Bundeskanzlerin zur Flüchtlingswelle eingenommen hat?

Das ist zunächst mal eine selbstverständliche Haltung. Die Kanzlerin hat einen Eid auf die Verfassung abgelegt – und es ist ein Verfassungsauftrag, dass Menschen, die von Krieg, Bürgerkrieg und politischer Verfolgung betroffen sind, bei uns Schutz genießen. Das ist ein humanitäres Gebot. Eine andere Frage ist, wie man das Ganze organisiert. Und da hat die Bundesregierung zwar vieles richtig, aber auch eine Reihe von Fehlern gemacht. 

Sie plädieren schon seit Langem für mehr Zuwanderung. Warum? 

Durch den demografischen Wandel wird das Arbeitsangebot in Deutschland massiv zurückgehen. Wir bräuchten eine Netto-Zuwanderung von gut 500 000 Menschen pro Jahr, um das Erwerbspersonenpotenzial konstant zu halten. Und selbst dann würde der Anteil der Nicht-Erwerbstätigen an der Bevölkerung immer noch steigen – weil ja die Lebenserwartung steigt. Wenn aber immer weniger Beschäftigte immer mehr Rentner finanzieren müssen, führt das zu Verteilungskonflikten. Dabei geht es nicht nur um die Umverteilung zwischen den Generationen. Die Spielräume des Sozialstaats würden generell geringer, und das würde naturgemäß die Schwächeren in der Gesellschaft treffen. Mehr Zuwanderung kann das Problem nicht lösen, aber entschärfen.

Vorausgesetzt, die Zuwanderer gehen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach?

Ja. Damit Zuwanderung den sozialen Sicherungssystemen zugute kommt, müssen die Menschen möglichst gut in den Arbeitsmarkt integriert werden. Das ist das Allerwichtigste. Je höher ihre Einkommen sind, umso höher werden die Gewinne für den Sozialstaat ausfallen.

Nun kommen zurzeit aber nicht die begehrten hoch qualifizierten Fachkräfte, sondern Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind und oftmals noch nicht einmal eine Ausbildung haben. Was bedeutet das für den Sozialstaat?

Man muss Arbeitsmigration und humanitäre Migration unterscheiden. Gegenwärtig geht es ja vor allem darum, Menschen vor Krieg und Verfolgung zu retten. Und nicht um wirtschaftliche Nützlichkeit. Diese Flüchtlingsmigration kostet erst einmal Geld: Der Sachverständigenrat rechnet für das Jahr 2015 mit zusätzlichen Ausgaben des Staates und der Sozialversicherungen von acht Milliarden Euro und für 2016 mit bis zu 14 Milliarden. Das sind aber überschaubare Kosten: Sie entsprechen 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts – nichts, was diesen Staat umbringt. Und mit der Zeit werden die Kosten sinken. Ob daraus ein Gewinn für den Sozialstaat entsteht, wird maßgeblich davon abhängen, wie gut die Arbeitsmarktintegration gelingt.

Wie lange wird das dauern?

Bei Flüchtlingen, die in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen sind, waren nach fünf Jahren rund 50 Prozent erwerbstätig. Insgesamt hat es zehn bis 15 Jahre gedauert, bis sich ihre Erwerbsbeteiligung an die anderer Migranten angeglichen hat. Das lag einerseits an der fehlenden Qualifikation. Es lag aber auch an institutionellen Barrieren. Man hat alles versucht, diese Menschen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Und der Staat hat nicht in ihre Integration investiert, sei es durch Sprachkurse, sei es durch Bildung und Ausbildung. Das war ein Fehler.

Aber die Qualifikation der Flüchtlinge, die heute nach Deutschland kommen, ist doch im Schnitt weit geringer?

Nein. Wir haben noch keine belastbaren Daten zur Qualifikationsstruktur, aber bei aller gebotenen Vorsicht können wir sagen: Die Qualifikation der aktuellen Flüchtlinge ist ähnlich wie die der Flüchtlinge in den 1990er Jahren. Es deutet sich eine Polarisierung bei der schulischen Bildung an: Mehr als ein Drittel hat ein Gymnasium oder eine Hochschule besucht, während ein Viertel gar keine oder nur eine Grundschule besucht hat. Ein großer Nachholbedarf besteht bei der beruflichen Bildung. 

Warum gerade dort?

Man muss sehen: 55 Prozent der registrierten Asylbewerber sind jünger als 24 Jahre – ein Alter, in dem junge Deutsche noch zur Schule gehen, studieren oder eine Berufsausbildung machen. Sie können sich also noch qualifizieren. Ungewöhnlich wäre das nicht: Wir wissen aus unseren Befragungen früherer Zuwanderer, dass ein Drittel später noch einen beruflichen Abschluss in Deutschland gemacht hat. Das ist eine Riesenchance. 

Was müsste politisch passieren, damit diese Chance auch genutzt werden kann?

Gegenwärtig dauert es ein Jahr und länger, bis ein Asylverfahren abgeschlossen ist. So lange haben die Menschen kaum eine Chance, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Wir müssen die Verfahren dringend beschleunigen, und wir müssen denen, denen wir Schutz gewähren, eine längere Aufenthaltsperspektive anbieten. Bei einem zeitlich beschränkten Aufenthaltsrecht, wie es jetzt von der Politik verstärkt gefordert wird, lohnt es sich für die Flüchtlinge nicht, Deutsch zu lernen und mit Bildung und Ausbildung in Deutschland durchzustarten. Und die Unternehmen werden sie auch nicht einstellen, weil jede Einstellung eine Investition ist. 

Was wäre hier Ihre zentrale Forderung?

Zuallererst müssen wir stabile rechtliche Rahmenbedingungen für Menschen in Asylverfahren schaffen. Erst dann können wir über ihre Arbeitsmarktintegration reden. Und da brauchen wir eine gezielte Förderung und Heranführung an die regulären Bildungs- und Ausbildungsgänge. Wir müssen Geld investieren in Sprachkurse, in Kinderbetreuung, in Willkommensklassen an den Schulen, in Vorbereitungskurse an Hochschulen und Berufsschulen. Und wir brauchen ein Integrationskonzept, das wie in der Arbeitsmarktpolitik auf dem Grundsatz des Förderns und Forderns aufbaut. 

Was heißt das?

Man schließt Vereinbarungen mit den Flüchtlingen, in denen ihnen ein Programm zur Integration in Schule, Hochschule, Ausbildung oder Arbeitsmarkt zugesagt wird, und gestaltet die Teilnahme verpflichtend. Davon sind wir im Moment noch weit entfernt. 

Es gibt aber auch ganz andere Vorschläge: So wurde von Arbeitgeberseite bereits gefordert, Flüchtlinge vom Mindestlohn auszunehmen. 

Das halte ich für den falschen Weg. Wenn wir für eine Gruppe eine Ausnahme schaffen, dann führt das zu Verdrängungseffekten. Gleichwohl müssen wir niedrigschwellige Angebote schaffen, die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt hineinführen. Maßnahmen wie Praktika, die unter Umständen auch länger dauern können, halte ich durchaus für sinnvoll. Das sind nicht per se Instrumente, um den Mindestlohn zu unterlaufen. 

Könnte die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zum Einfallstor für eine Deregulierung des Arbeitsmarkts werden?

Wir beobachten eigentlich das Gegenteil. Bislang werden Flüchtlinge in Deutschland durch zahlreiche Regulationen vom Arbeitsmarkt ferngehalten: Wer nicht registriert ist, darf sowieso nicht arbeiten. Wer im Asylverfahren ist, darf zwar nach drei Monaten arbeiten, aber nur, wenn kein Deutscher und kein EU-Bürger für den Job infrage kommen. Diese sogenannte Vorrangprüfung verringert die Einstellungschancen von Flüchtlingen erheblich. Was machen die Leute dann? Sie landen in irregulärer Beschäftigung – der dereguliertesten Welt, die ich kenne. Oder vielleicht sogar in kleinkriminellen Aktivitäten. Auch darüber sollte man nachdenken, wenn man über Deregulierung spricht.

Führt massive Zuwanderung nicht zu Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt?

Nach unseren Schätzungen sind von den 1,1 Millionen Menschen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland ­kamen, ungefähr 780 000 heute noch da. Nur ein kleiner Teil hat bereits das Asylverfahren durchlaufen. Wir rechnen damit, dass wir 2016 rund 380 000 anerkannte Asylbewerber im erwerbsfähigen Alter haben werden, von denen wiederum weniger als ein Drittel die Chance auf einen Job haben dürfte. Das hätte marginalste Arbeitsmarktwirkung – die Verdrängungseffekte lägen, seriös kalkuliert, bei maximal einigen Tausend Personen in den geringqualifizierten Bereichen. Dem stehen jedoch erhebliche Beschäftigungsgewinne bei den deutschen Arbeitnehmern gegenüber, weil die Flüchtlingsmigration ein kleines Beschäftigungsprogramm ist. Insgesamt steigt die Beschäftigung von deutschen Arbeitnehmern also.

Trotzdem dreht sich die politische Debatte vorrangig darum, wie man die Flüchtlingswelle eindämmen kann.

Wir haben einen Grundsatzwiderspruch zwischen Inte­gration und Innenpolitik. Die Innenpolitik setzt auf Abschreckung und nimmt dabei billigend in Kauf, dass wir die Menschen nicht bei uns integrieren. Ein Beispiel: Wer eine weniger als 50-prozentige Wahrscheinlichkeit hat, dass sein Asylantrag angenommen wird, darf nicht an Integrationskursen teilnehmen. Sehr viele Menschen hängen so ohne irgendein Angebot in den Einrichtungen herum. Dabei kommen über 90 Prozent der Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Eritrea, in die wir sie sowieso nicht werden zurückschicken können. Deshalb gebietet es die Vernunft, diese Menschen so schnell wie möglich zu integrieren. Je länger wir das verzögern, desto mehr zerstören wir Humankapital. Das ist das kleine Einmaleins der Arbeitsmarktforschung.

Haben Sie das gemeint, als Sie eingangs von den „Fehlern“ der Bundesregierung sprachen?

Die derzeitige Politik beruht auf der Annahme, dass weniger Menschen kommen, wenn die Bedingungen nur res­triktiv genug gestaltet werden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass genauso viele kommen, hier dann aber eine große und weitgehend perspektivlose Gemeinschaft entsteht. Wenn man die Flüchtlingsströme reduzieren will, muss man zunächst die Bedingungen in den Herkunftsländern und den Transitländern verbessern. Das ist das Einzige, was man tun kann. 

Was aber lange versäumt wurde.

Erst seit dem Anstieg der Flüchtlingsmigration 2015 werden erhebliche Anstrengungen unternommen. Wobei die EU auf fragwürdige Maßnahmen setzt, die die humanitären Probleme in andere, in der Regel weitaus ärmere Länder verlagert. Darauf zielt der sogenannte Schutz der Außengrenzen und der Versuch, die Mobilität von Flüchtlingen in der Türkei zu beschränken. 

Was schlagen Sie als Lösung vor?

Es wäre sehr viel klüger, einen regulierten Zugang zu schaffen, indem man humanitäre Visa erteilt – mit einer Berechtigung zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren. So könnte man die Flüchtlingsmigration steuern. Wer von vornherein keine Chance auf Asyl hat, bekäme ein solches Visum nicht erteilt. Dadurch ließen sich die vielen Toten an den EU-Außengrenzen vermeiden. Aber man könnte auch den Eindruck in der Öffentlichkeit vermeiden, dass es keine gesicherten Grenzen mehr gibt. Darüber sollte nachgedacht werden, statt einfach nur reflexhaft alles zu versuchen, was die Flüchtlingsströme verringern könnte. Oder endlos um Obergrenzen zu streiten, die weder juristisch noch praktisch durchsetzbar wären.

Könnte dabei ein Einwanderungsgesetz helfen?

Man muss das gesamte Zuwanderungsrecht überprüfen. Weil die rechtlichen Hürden zu hoch sind, kommen derzeit nur sieben bis acht Prozent der Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten zu Erwerbszwecken nach Deutschland. Und je höher die Schwellen für die Arbeitsmarktmigration sind, desto größer ist der Anreiz, stattdessen den Weg des Familiennachzugs oder auch der Asylmigration zu wählen. Wir brauchen eine erwerbsorientierte, langfristig angelegte Einwanderungspolitik. Das würde in der aktuellen Situation zwar die Asylmigration nicht verringern, die zum größten Teil durch Kriege und Bürgerkriege ausgelöst ist. Hier geht es vor allem darum, das Aufenthalts- und Einwanderungsrecht auch für Flüchtlinge so zu gestalten, dass sie so früh wie möglich in den Arbeitsmarkt kommen. 

Wie könnte das konkret aussehen?

Wenn Flüchtlinge eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung finden und dem Sozialstaat nicht zur Last fallen, sollte man ihnen die Möglichkeit eines Spurwechsels eröffnen und eine befristete Aufenthaltserlaubnis ausstellen, unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens. Selbstverständlich können wir nicht jeden, der als Asylbewerber kommt, im Land behalten. Aber man könnte das Asylrecht wesentlich flexibler und intelligenter gestalten. Einseitig auf Abschreckung zu setzen ist falsch.

Der Wirtschaftssoziologe Christoph Deutschmann plädiert für eine Begrenzung des Arbeitskräfteangebotes, weil sonst unweigerlich Nachteile für Arbeitnehmer entstehen. Was sagen Sie dazu?

Die These beruht theoretisch und empirisch auf einem fundamentalen Missverständnis. Eine Ausweitung des Erwerbspotenzials führt nicht per se zu sinkenden Löhnen oder steigender Arbeitslosigkeit. In Deutschland ist das Verhältnis von Kapital zu Arbeit von 1950 bis heute produktivitätsbereinigt immer konstant geblieben, obwohl das Arbeitsangebot erheblich gestiegen ist. Das lässt sich leicht erklären: Wenn das Arbeitsangebot zunimmt, steigen die realen Kapitalrenditen, folglich wird mehr investiert. Schlussendlich bleibt das Verhältnis von Kapital zu Arbeit – bereinigt um den Produktionsfortschritt – gleich. Deshalb finden die meisten empirischen Studien auch nur geringe oder keine Auswirkungen der Migration auf Löhne und Arbeitslosigkeit. Tariflöhne kommen nur dann unter Druck, wenn Flüchtlinge vom ersten Arbeitsmarkt ferngehalten und damit in irreguläre Beschäftigung gedrängt werden. Deshalb würden die Gewerkschaften den Arbeitnehmern schaden, wenn sie versuchen, die Flüchtlinge vom regulären Arbeitsmarkt fernzuhalten.

Zur Person

Herbert Brücker, 55, ist einer der führenden Migrationsforscher in Deutschland. Der Professor für Volks­wirtschaftslehre leitet den Forschungsbereich für internationale Vergleiche und europäische Integration am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Er habilitierte sich über Migration in Europa und koordiniert derzeit zusammen mit dem BAMF und dem SOEP eine Längsschnittbefragung von Flüchtlingen und anderen Migranten in Deutschland. Brücker berät neben der BA auch die Bundesregierung.

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