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Tagungsbericht WSI Herbstforum 2023: Wo geht es hier zum Schlaraffenland?

„Mangel, Macht und Gegenmacht“, lautete der Titel, den das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung für sein diesjähriges Herbstforum gewählt hatte. 120 Menschen diskutierten vor Ort und 226 online die Frage, ob und wie Gewerkschaften und Beschäftigte in Zeiten knappen Personals profitieren können.

[07.12.2023]

Von Jeannette Goddar und Fabienne Melzer

Schlaraffenland – das Wort ließ nicht nur die Zunge von AC Coppens stolpern, auch seine Bedeutung musste Coppens – ein Mensch mit hörbar französischsprachigen Wurzeln – erst einmal nachschlagen. Irgendwas mit Milch und Honig lautete schließlich die Antwort. Coppens moderierte im November das WSI-Herbstforum in Berlin, wo es unter anderem um die Frage ging: Müsste angesichts eines überall beklagten Fachkräftemangels für abhängig Beschäftigte nicht das reinste Schlaraffenland auf dem Arbeitsmarkt herrschen? Das WSI-Herbstforum trug den Titel „Mangel, Macht und Gegenmacht“. Schließlich stehe die Hans-Böckler-Stiftung für ein Modell der Mitbestimmung, „das Gegenmacht organisiert und Menschen ermöglicht, mitzugestalten, wie Geschäftsführerin Claudia Bogedan zur Begrüßung erklärte.

Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg nannte die Lage auf dem Arbeitsmarkt kritisch. Die Arbeitskräfteknappheit liege auf Rekordniveau, und das in wirtschaftlich angespannten Zeiten. „Wenn wir früher über Rezession sprachen, hatten wir andere Sorgen als Arbeitskräfteknappheit“, sagte Weber. Dabei, auch das zeigte Weber, arbeiten in Deutschland zurzeit mehr Menschen als je zuvor. Die Schrumpfung des Arbeitskräfteheers liegt noch vor uns, wenn in ein paar Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen.

Eine Lage, von der abhängig Beschäftigte doch eigentlich nur profitieren können, etwa in Form von steigenden Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen. Die WSI-Experten Martin Behrens und Thorsten Schulten zeigten sich skeptisch. „Der Fachkräftemangel führt nicht automatisch zur Stärkung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht. Er bietet aber Chancen, Organisationsmacht auszubauen.“  

Auch Malte Lübker, Referatsleiter für Tarif- und Einkommensanalysen am WSI, kann in dieser Hinsicht bisher keine Effekte sehen. So stellte er weder bei den Tätigkeitsgruppen mit Expertenstatus noch bei denen mit Spezialistenstatus einen Zusammenhang zwischen Engpassberufen und steigenden Löhnen fest. „Es ist paradox“, sagte Lübker. „Es herrscht Fachkräftemangel, aber das führt bisher nicht dazu, dass die Löhne in den Engpassberufen auf breiter Front steigen.“ Andersherum werde ein Schuh daraus: Gerade in Berufen mit niedrigen Löhnen sei der Mangel besonders ausgeprägt. Das biete Tarifparteien einen Ansatzpunkt, über bessere Arbeitsbedingungen Fachkräfte zu sichern.

  • Martin Behrens, Bettina Kohlrausch u.a.

Ungenutzte Ressourcen heben

„Fachkräftemangel wirkt nicht automatisch. Es bedarf einer aktiven Politik der Gewerkschaften.“, sagte Thorsten Schulten. Doch es brauche weitere Akteure, allen voran den Staat: „Gewerkschaften können nicht allein gute Jobs schaffen“.  Angesichts des jüngsten 60-Milliarden-Euro-Urteils des Bundesverfassungsgerichts warnte der WSI-Experte vor schwierigen Tarifverhandlungen in wichtigen Bereichen wie der Bildung und dem Sozial- und Erziehungsdienst.  

IAB-Arbeitsmarktexperte Enzo Weber sieht im knappen Arbeitskräfteangebot auch eine Chance, Ressourcen zu heben, die bisher nicht genutzt wurden. Dazu gehört unter anderem, ältere Menschen länger in Arbeit zu halten, etwa mit kürzeren und flexibleren Arbeitszeiten und einer rechtzeitigen Entwicklung hin zu verwandten aber weniger belastenden Tätigkeiten. Fachkräftepotenzial liege auch bei Frauen. Denn vor allem Mütter sind häufig unterbeschäftigt. Mattis Beckmannshagen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ehemaliger Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, wies dabei auf einen Bremsklotz für Frauen in Deutschland hin: In kaum einem anderen Land ist der Zusammenhang zwischen Frauen, die nach der Geburt ihrer Kinder Einkommen verlieren und dem Anteil der Menschen, die sagen, dass Mütter zu Hause bleiben sollen, so groß wie in Deutschland. „Wir brauchen auch einen gesellschaftlichen Wandel“, sagte Beckmannshagen.

Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB), präsentierte Daten, die darauf hindeuten, dass es aber auch kulturelle Unterschiede gibt. Fragt man Frauen in Ostdeutschland – nicht nur Mütter – wann eine Mutter wieder voll arbeiten sollte, sagen diese mehrheitlich: Wenn das Kind 8 Jahre alt ist. Im Westen lautet die Antwort auf dieselbe Frage: 12 Jahre. Bei Männern geht die Schere noch weiter auseinander: Diese halten in Ostdeutschland eine Mutter für vollzeitfähig, wenn das Kind 3 Jahre alt ist, im Westen ebenfalls mit 12. 

Einstieg ohne Abschluss

Doch nicht nur Mütter haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt. So zeigte Enzo Weber, dass sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen verfestigt hat und 200.000 über dem Stand vor Corona liegt. Auch die Zahl der Menschen ohne Berufsabschluss ist im Vergleich zu vor der Pandemie um vier Prozentpunkte gestiegen. Ralf Reinstädtler, seit Oktober geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, machte dafür in der abschließenden Diskussionsrunde auch versäumte Investitionen in das Bildungssystem verantwortlich: „Spätestens jetzt sind gute integrative Angebote und zusätzliche Unterstützung gefragt.“  Von der Schule bis zur Weiterbildung prognostizierte Reinstädtler: „Alle Bildungsbereiche werden stärker in den Blick geraten.“ Der Metaller sieht zudem den Betrieb als zentralen Ort, um Menschen auszubilden und zu qualifizieren. „Bildung ohne eine Idee, wofür ich es anwenden kann, fällt jedem schwer“, sagte Reinstädtler. Der Arbeitsplatz biete da häufig den besseren Rahmen.

Einen unkonventionellen Weg geht Cariad, das Softwarenternehmen von Volkswagen. Rainer Zugehör, Personalchef von Cariad, interessiert sich weniger für Schul- oder Berufsabschlüsse: „Die Leute müssen zeigen, dass sie gut programmieren können.“ Auch in einer „Coding-Schule“, die Cariad unter anderem mit Microsoft in Berlin betreibt, bewährten sich Menschen ganz ohne Abschluss. Beschäftigten, die bei VW am Band gearbeitet hatten, gab das Unternehmen ebenfalls die Chance, in die IT-Branche umzusteigen. „Wir waren überrascht, wie gut das funktioniert hat“, sagte Zugehör.

  • Bettina Kohlrausch spricht auf dem Podium WSI Herbstforum 2023

Wir laufen seit Jahren den Pflegekräften hinterher

Während Anna Robra von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) davon sprach, dass die Unternehmen zurzeit erst den Anfang des Fachkräftemangels spüren, erklärte Zugehör, dass man bei Cariad schon seit Jahren mittendrin stecke und inzwischen 60 Prozent der Fachleute im Ausland gewinne. Ähnlich in der Gesundheitsbranche, die Edda Busse von der Mitarbeitervertretung des Johanniter-Krankenhauses Genthin-Stendal in der Abschlussrunde vertrat: „Wir laufen seit Jahren den Fachkräften hinterher.“ Für sie gehören zur Behebung des Mangels bessere Arbeitszeitmodelle, Vereinbarkeit und Stärkung der Belegschaften.

Zuwanderung, auf die auch die Pflege teilweise setzt, löst das Fachkräfteproblem nur bedingt. Da jedes Jahr zehn Prozent der Zugewanderten wieder abwandern, würde die Bevölkerung auch bei einer Zuwanderung von 1,3 Millionen Menschen pro Jahr schrumpfen, rechnete Enzo Weber vor. „Wenn wir bei der Integrationspolitik nicht besser werden, gewinnen wir bei der Zuwanderung keinen Stich“, erklärte der IAB-Experte.

Paradox Aufenthaltsrecht

Jannes Jacobsen vom Deutschem Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DEZIM) mit Sitz in Berlin verwies auf die sehr unterschiedlichen Aufenthaltstitel: Eine drei Viertel Million Menschen leben mit einem Flüchtlingsschutz in Deutschland. Bei 700.000 wird das Bleiberecht immer wieder geprüft und weitere 400.000 werden geduldet. Sie dürfen bleiben, solange eine Abschiebung in das jeweilige Herkunftsland nicht möglich ist. Zugang zum Arbeitsmarkt haben sie kaum. Angesichts von zwei Millionen offenen Stellen – von denen es für jede fünfte keine Qualifizierung brauche – konstatierte Jacobsen ein gewisses Paradox. Dabei sprechen die Daten eine eindeutige Sprache: Ein sicherer Aufenthaltstitel erhöht die Chance, in den Arbeitsmarkt einzumünden.

Vira Bushanska, Expertin für Anerkennung ausländischer Qualifikationen im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), erläuterte das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Dieses weicht in zweifacher Hinsicht von der alten Praxis ab, dass nur kommen darf, wer seine Qualifikationen vorab überprüfen lässt. Zukünftig können auch Menschen mit mindestens zwei Jahren Berufserfahrung und einem Abschluss nach Deutschland kommen. Eine dritte Säule ermöglicht – je nach Qualifikation, Deutsch- und Englischkenntnissen, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und ähnlichem – die Einreise für zunächst zwölf Monate. Bushanskas Bewertung der Reform: „Es tut sich etwas – aber Personen mit ausländischen Abschlüssen werden weiterhin schlechter gestellt als jene mit inländischen.“ Zugleich bleibe der attraktivste Weg, seinen Abschluss in Deutschland anerkennen zu lassen. Für viele Berufe ist das auch weiterhin nötig.

Auch Anna Robra von der BDA sieht in dem neuen Gesetz einen ersten Schritt. Nun brauche es noch ein klares Signal ins Ausland, für welche Berufe Menschen in Deutschland keine Anerkennung mehr benötigen. Das viel gelobte duale Ausbildungssystem sei zwar einmalig: „Doch auch woanders gibt es gute Systeme.“ 

Arbeitszeitverkürzung gegen Fachkräftemangel

Bereits vor dem Abschlusspodium hatte WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch zentrale Ergebnisse zusammengefasst. Frauen sind fast genauso häufig beschäftigt wie Männer, aber mit weniger Stunden. Auch wenn das zunächst paradox klinge: Es brauche eine Arbeitszeitverkürzung für alle:  Mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei allen Geschlechtern führt gesamtgesellschaftlich zu mehr Arbeitsstunden. In der Zuwanderung müsse die Politik bessere Rahmenbedingungen und die Betriebe müssten Strategien schaffen. Angesichts von 2,6 Millionen Menschen ohne berufsqualifizierenden Abschluss verschenke Deutschland ein riesiges Potenzial. Kohlrausch: „Es muss gelingen, daran nachträglich etwas zu ändern.“ In der Weiterbildung seien die Betriebe gefragt; außerdem stelle sich die Frage nach einer individuellen Bildungszeit, über die Menschen selbst entscheiden.

Der Fachkräftemangel verwandelt den Arbeitsmarkt zwar nicht in ein Land, in dem für die Beschäftigten Milch und Honig fließen. Aber er könnte einigen Menschen neue Chancen eröffnen, die ihnen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit verwehrt blieben. 

Brücken und Verbünde

In einer interaktiven Kaffeepause stellten sich auf dem WSI-Herbstforum drei innovative Bildungspolitische
Gestaltungsansätze zur Fachkräftesicherung vor.

In Bremen sollen künftig alle Unternehmen bis zu 0,3 Prozent des Bruttoarbeitnehmerjahreslohns in einen neuen Ausbildungsfonds einzahlen, aus dem ausbildende Unternehmen je Azubi 2.500 Euro erhalten. Investiert werden soll das Geld in Maßnahmen, die außer den Jugendlichen auch die Arbeitgeber begleiten.

Der Verein berami in Frankfurt am Main begleitet seit den 1990er-Jahren Menschen mit Migrationshintergrund auf ihrem oft steinigen Weg in den deutschen Arbeitsmarkt. Seit diesem Jahr qualifiziert das Projekt „Brücke zum Beruf“ Geflüchtete so, dass sie in deutschen Büros arbeiten können.

Das forum wbv, ein Koordinierungszentrum für Weiterbildungsverbünde versteht sich als Impulsgeber neuer Formen und Formate betriebsorientierter Weiterbildung.

Mehr zu den jeweiligen Projekten unter:
https://ausbildungsfonds-bremen.de/ 
https://www.berami.de/bruecke-ins-buero/
https://www.forum-wbv.de/

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