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Neue Studie: Kreditfinanzierte Investitionen ermöglichen: IMK rechnet Ideen von u.a. Helge Braun, Sachverständigenrat und eigenes Konzept durch

05.07.2021

Die Maßnahmen gegen die Coronakrise haben den Staat viel Geld gekostet. Es bleibt kaum Spielraum für notwendige Investitionen, wenn die Schuldenbremse im Grundgesetz wie bisher kreditfinanzierte Ausgaben einschränkt. Damit der Rückstand in Bereichen wie Digitalisierung, Schule, Gesundheit oder Infrastruktur nicht noch größer wird, müssen Wege gefunden werden, öffentliche Investitionen zu ermöglichen. Entsprechende Konzepte kommen sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Politik. Welche finanziellen Freiräume welcher Vorschlag eröffnet, hat das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Studie untersucht. Kernergebnisse: Kurzfristig würde es am meisten bringen, bis zum Wiedereinsetzen der Schuldenbremse – wie schon nach 2009 – erneut eine Übergangsfrist einzuführen, wie von Kanzleramtsminister Dr. Helge Braun (CDU) vorgeschlagen. Längerfristig, bis Ende des Jahrzehnts, könnten Investitionsgesellschaften außerhalb des Bundeshaushalts den größten Spielraum bringen, sofern es gelingt, auch die Europäischen Schuldenregeln entsprechend zu reformieren.

Schon vor der Krise war der Investitionsbedarf in der Bundesrepublik groß. Die zusätzlichen Ausgaben, die dringend nötig sind, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, haben das IMK und das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) 2019 auf rund 460 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren beziffert. Der wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums hält diese Zahlen in einem aktuellen Gutachten für „nicht unplausibel“. Noch nicht eingerechnet sind dabei die Erfordernisse, die durch die Coronakrise entstanden oder offenbart worden sind. Im Zuge der Krise hat sich gezeigt, wie gering die Kapazitäten in vielen öffentlichen Bereichen sind – es existiert nur wenig Puffer, bevor die Daseinsvorsorge eingeschränkt werden muss.

Auf der anderen Seite ist die Neuverschuldung in der Pandemie massiv gestiegen, was den Handlungsspielraum weiter einschränkt. Die Schuldenbremse des Bundes erlaubt zwar zusätzliche Kredite in unverschuldeten Notlagen, diese müssen aber getilgt werden. Erste Tilgungen beginnen bereits 2021 und steigen Mitte des Jahrzehnts allein für den Bund auf 20,5 Milliarden Euro pro Jahr, wenn man die aktuelle Haushaltsplanung zugrunde legt.

Um in dieser Situation zusätzliche Freiheiten für öffentliche Investitionen zu schaffen, sind verschiedene Optionen denkbar, die Prof Dr. Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des IMK, und IMK-Fiskalexpertin Dr. Katja Rietzler in ihrer Studie durchrechnen: Zum Beispiel eine Übergangsfrist von fünf Jahren, bevor die Schuldenbremse wieder voll greift, ein Aussetzen der Tilgung von Corona-Schulden, sobald das Vorkrisenniveau bei der Schuldenquote wieder erreicht ist, eine konjunkturfreundliche Anpassung der Tilgungsregelungen oder die Einrichtung von Investitionsgesellschaften, die allein für die Modernisierung der deutschen Infrastruktur zuständig sind. Solche Gesellschaften, die IMK und IW 2019 vorgeschlagen hatten, müssen eine konkrete Sachaufgabe verfolgen, also beispielsweise selbst Planung und Bau organisieren. Sie müssen rechtlich selbstständig sein. Unter diesen Bedingungen dürften sie nach dem deutschen Grundgesetz Kredite aufnehmen, die nicht bei der Schuldenbremse mitgezählt werden. Allerdings begrenzen hier die EU-Fiskalregeln den Rahmen. Derzeit überprüft die EU-Kommission, ob sie diese Regeln lockern will.

Mehr als 200 Milliarden Euro zusätzlicher Spielraum

Für sechs mögliche Optionen haben Dullien und Rietzler berechnet, wie diese sich im Einzelnen auf die Finanzen des Bundes auswirken könnten. Dabei handelt es sich nicht um eine Simulation mit gesamtwirtschaftlichen Rückwirkungen, sondern rein um die Ermittlung zusätzlicher Spielräume für eine Kreditfinanzierung. Dabei wurde die Haushaltsplanung des Bundes bis 2022 als gegeben unterstellt. Das Ergebnis: Langfristig am meisten würde der schnelle und umfassende Einsatz von Investitionsgesellschaften bringen, wenn gleichzeitig die EU-Fiskalregeln gelockert werden. Bis 2030 käme dadurch ein zusätzlicher Spielraum von nominal 222 Milliarden Euro zustande, davon knapp 80 Milliarden in der kommenden Legislaturperiode bis 2025. Die Übergangsregel bis zum Wiedereinsetzen der Schuldenbremse, wie von Kanzleramtsminister Braun vorgeschlagen, würde bis zum Ende des Jahrzehnts mit rund 216 Milliarden Euro etwas geringere Freiheiten ermöglichen, davon entfielen mehr als 193 Milliarden Euro auf die anstehende Legislaturperiode (siehe auch die Tabelle in der pdf-Version dieser PM bzw. Tabelle 2 der Studie; Link unten). Ein Unterschied zwischen beiden Optionen besteht allerdings darin, wie die zusätzlichen Mittel verwendet werden könnten. Während sie im ersten Fall ausschließlich für Investitionen eingesetzt werden dürften, wären beim zweiten Vorschlag auch Steuersenkungen oder Zuschüsse an die Sozialversicherungen denkbar.

Eine Streichung der Tilgungsverpflichtung für Schulden der Coronakrise würde bis 2030 rund 108 Milliarden Euro an finanziellen Kapazitäten eröffnen, in der anstehenden Legislaturperiode allerdings nur circa 6 Milliarden Euro. Auch die vom Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgeschlagene konjunkturgerechte und relative Tilgung würde in der nächsten Legislaturperiode vergleichsweise wenig bringen.

Durch eine „alternative Anwendung“ der Schuldenbremse sei es möglich, relevante Spielräume für die Finanzpolitik in Deutschland zu schaffen, lautet das Fazit von Dullien und Rietzler. Der grundsätzliche Rahmen der Schuldenbremse bliebe bestehen, auch wenn für einzelne Maßnahmen möglicherweise eine Grundgesetzänderung notwendig wäre. Die Stabilität der Staatsfinanzen bliebe ohnehin gewährleistet: Bei allen untersuchten Optionen würde die Schuldenquote bis 2030 spürbar zurückgehen, selbst wenn man die positiven Wachstumseffekte von Investitionen bei der Kalkulation außen vor lässt. Allerdings zeigten die Rechnungen auch, wo die Grenzen liegen, wenn man die fiskalische Einschränkung durch die Schuldenbremse nicht grundsätzlich reformiert: Zusätzliche Investitionen von 460 Milliarden Euro, wie sie in den kommenden zehn Jahre mindestens erforderlich sein werden, ließen sich auf diese Art und Weise nicht vollständig finanzieren.

Weitere Informationen:

Sebastian Dullien, Katja Rietzler: Finanzpolitische Spielräume bei unterschiedlichem Umgang mit der Schuldenbremse, Projektionen für den Zeitraum 2022-2030, IMK Policy Brief Nr. 108, Juli 2021.

Die Pressemitteilung mit Tabelle 

Kontakt:

Dr. Katja Rietzler
IMK, Expertin für Fiskalpolitik

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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