Praxis: Wie das Leben so spielt
Ob als Auszubildender auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, als Soloselbstständige, als Mutter ohne Altersvorsorge oder als Mensch mit einer chronischen Krankheit – es gibt viele Lebenslagen, in denen Menschen einen starken Sozialstaat brauchen. Von Jeannette Goddar, Clara Libovsky und Kay Meiners
790 Euro kostet ein WG-Zimmer in München im Durchschnitt, 682 Euro beträgt die Mindestvergütung für Auszubildende in Bayern im ersten Lehrjahr – eine Rechnung, die nicht aufgeht. Wer in der bayrischen Landeshauptstadt eine Ausbildung macht, hat ein Problem: Wohnen ist fast unbezahlbar. Umso größer ist das Glück für diejenigen, die einen der raren Wohnheimplätze ergattern, so wie Magdalena Wesselly. Die 20-Jährige ist duale Studentin der sozialen Arbeit in München und bekam 2023 ein kleines Appartement in einem Wohnheim für Auszubildende. Die Plätze werden häufig über ein Losverfahren vergeben. „Wenn man Glück hat und das Los gezogen wird, dauert es nur ein halbes Jahr, ansonsten muss man sich in der nächsten Losrunde wieder bewerben“, berichtet Wesselly.
Zwischen 2019 und 2024 stiegen die durchschnittlichen Quadratmeterpreise für Mieter in der bayrischen Landeshauptstadt um fast 70 Prozent. Diese Entwicklungen treffen junge Menschen, die für ihre Ausbildung auf Wohnraum in der Stadt angewiesen sind, besonders hart.
Daher schob die DGB-Jugend in München vor vier Jahren eine alte Idee neu an: die Einrichtung eines Azubiwerks, das, nach dem Vorbild der Studierendenwerke, bezahlbaren Wohnraum schafft und sich um die Anliegen junger Menschen kümmert. Heute teilt sich die DGB-Jugend die Trägerschaft des Azubiwerks mit dem Kreisjugendring und der Stadt.
In einem dieser Wohnheime lebt Magdalena Wesselly in einem 17 Quadratmeter großen Einzelappartement mit eigener Küche und Bad. Die Miete beträgt regulär 550 Euro, doch ihr Arbeitgeber unterstützt sie finanziell, sodass sie noch 300 Euro übernimmt. „Ich bin privilegiert, weil ich in der dualen Ausbildung mehr verdiene als in einer traditionellen Ausbildung“, erklärt sie. Bei vielen Auszubildenden frisst die Miete fast die Hälfte des Gehalts.
Vor zwei Jahren wurde Magdalena zum ersten Mal zur Sprecherin des Wohnheims gewählt. Seither sieht sie selbst, wie groß der Bewerberandrang ist. „Da kommen teilweise mehrere Hundert Bewerbungen auf eine Handvoll freier Wohnungen“, erzählt sie. Angesichts der großen Not vieler Auszubildender schätzt sie ihren Platz im Wohnheim noch einmal mehr: „Es ist echt erschreckend, wenn du dir denkst: Ich habe eine Wohnung, und jemand, der es vielleicht noch mehr braucht, kriegt keine.“
In München fangen jedes Jahr etwa 10 000 Auszubildende an. Um weiter Druck vom Wohnungsmarkt zu nehmen, will die Stadt fast 700 neue Wohnplätze schaffen. Doch auch das wird der hohen Nachfrage kaum gerecht werden, zumal für viele mit dem Wohnheimplatz das Thema nicht beendet ist. Denn nach dem Abschluss müssen die Bewohnerinnen und Bewohner das Wohnheim innerhalb von drei Monaten verlassen.
Ein Mitbewohner des Hauses erzählte Magdalena Wesselly kürzlich halb scherzhaft, dass er zelten war, quasi um seine neue Wohnung nach der Ausbildung schon einmal zu testen. Manche Arbeitgeber bieten zwar Mitarbeiterwohnungen an, doch auch hier sind die Kapazitäten begrenzt. Das Problem hat auch der Münchner Stadtrat erkannt und das Pilotprojekt „StarterWohnen“ ins Leben gerufen, das jungen Menschen den Übergang von der Ausbildung in die eigene Wohnung erleichtern soll. Auch der Freistaat Bayern hat ein Programm namens „Azubiwohnen“ gestartet, das gemeinnützige Träger und Arbeitgeber bei der Schaffung von Wohnraum für Auszubildende unterstützt.
Doch die Lage auf dem Wohnungsmarkt bleibt angespannt. Die Zahl der Wohnheimplätze reicht nicht aus, und viele Auszubildende blicken mit Sorge in die Zukunft. Wesselly hofft, dass sich die Situation verbessert – für sie selbst und für alle, die nach ihr kommen.
Druck auf Kranke wächst
Er tut es ungern, aber an manchen Tagen – an den schlechten – bleibt Johann Wiebel (Name geändert) nichts anderes übrig: Er muss sich am Arbeitsplatz krankmelden. Wiebel leidet an Colitis ulcerosa, einer chronischen
Entzündungskrankheit des Dickdarms, die in Schüben verläuft. Zu den typischen Symptomen gehören unter anderem Bauchschmerzen, Durchfall und Müdigkeit. „An schlechten Tagen habe ich ein Dauerticket für die Toilette gebucht“, erzählt Wiebel. Manchmal quält er sich trotz eines Schubs noch zur Arbeit, doch das funktioniert nicht immer: „Im Betrieb muss ich etwa 100 Meter zu den Toiletten laufen und dann noch eine Treppe in die erste Etage hoch“, erklärt der Karosseriebauer. Seiner Genesung dient es nicht, und da bleibe ihm teilweise nichts anderes übrig, als krankheitsbedingt zu Hause zu bleiben. Andererseits sorgt er sich um miese Stimmung unter den Kolleginnen und Kollegen, wenn er öfter ausfällt.
Arbeitgeber wie Allianz-Vorstandschef Oliver Bäte oder der Wissenschaftler Bernd Raffelhüschen unterstellen Beschäftigten aufgrund der gestiegenen Krankentage teilweise Missbrauch von Krankmeldungen. Sie fordern die Wiedereinführung des sogenannten Karenztages. Dieser hätte zur Folge, dass Beschäftigte trotz Vorlage eines ärztlichen Attests kein Gehalt für den ersten Krankheitstag erhalten.
Das Narrativ vom arbeitsfaulen Deutschen, der angeblich immer häufiger krankfeiert, verfestigt sich zunehmend. Laut dem Statistischen Bundesamt meldeten sich die Beschäftigten 2023 im Schnitt 15,1 Tage krank, 2013 waren es noch 9,5 Tage. Medien wie die Bild-Zeitung sprechen beispielsweise von einem „Bettkantenproblem“ der Deutschen, und auch die Tagesschau suggeriert, Deutschland stecke aufgrund des hohen Krankenstands in einer Rezession.
Bäte argumentiert, dass in Deutschland jährlich 77 Milliarden Euro für die Gehälter kranker Beschäftigter ausgegeben werden, während die Krankenkassen weitere 19 Milliarden Euro tragen. Dies entspreche rund sechs Prozent der gesamten Sozialausgaben, während der EU-weite Durchschnitt bei etwa 3,5 Prozent liege. Bernd Raffelhüschen, Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg, forderte gegenüber der Bild-Zeitung sogar, dass Arbeitnehmer drei Krankheitstage lang keinen Lohn beziehen sollen.
Dann gehen wir wieder in die Steinzeit zurück.“
Eike Windscheid-Profeta, Sozialexperte bei der Hans-Böckler-Stiftung, sieht dagegen andere Ursachen für den steigenden Krankenstand. Dazu zählt er unter anderem eine zunehmende Arbeitsbelastung, Fachkräftemangel und eine alternde Belegschaft.
Wiebel, wie auch viele andere Menschen mit chronischen Krankheiten, würde die Einführung von Karenztagen erheblich belasten. Er müsse nach eigenen Angaben zwar nur alle zwei Monate wegen seiner chronischen Erkrankung ausfallen, doch das würde für ihn am Ende des Jahres eine ganze Woche weniger Gehalt bedeuten. Der Karenztag wurde in den 1970er Jahren nach gewerkschaftlichen Streiks abgeschafft. „Dann gehen wir wieder in die Steinzeit zurück“, sagt Wiebel über die mögliche Wiedereinführung. Er befürchtet einen indirekten Zwang, sich rechtfertigen zu müssen, was seine Erkrankung betrifft, um die Karenztage zu vermeiden. „Das Betriebsklima
geht dann noch mehr kaputt, als es vielleicht teilweise schon ist“, sagt er. „Dann gehe ich vielleicht trotzdem zur Arbeit, obwohl ich eigentlich nicht kann, und das ist doch für niemanden gut.“
Windscheid-Profeta fordert präventive Maßnahmen in den Betrieben, um krankmachende Faktoren zu reduzieren und eine gesunde Arbeitsumgebung zu fördern. Auch für Wiebel steht fest: „Wettbewerbsfähigkeit darf nicht über
Gesundheit gestellt werden.“
Auf der Seite der Versicherten
Wenn irgendwo in der Republik ein neuer Vorschlag ausgebrütet wird, wie man die Rente reformieren könnte, oder wenn neue Sondierungspapiere für Koalitionsverhandlungen geschrieben werden, hat Rebecca Liebig sie meist schnell auf dem Tisch. „Über die Gewerkschaft bin ich gut vernetzt, und wir bekommen solche Dinge schnell“, sagt die Verdi-Gewerkschafterin, die nach einer langen Karriere mit viel ehrenamtlichem Engagement im Olymp der Selbstverwaltung angekommen ist: Als Vertreterin der Versicherten gehört sie dem Vorstand der Deutschen Rentenversicherung Bund an. Mindestens zwei volle Tage im Monat braucht sie für das Ehrenamt: „Ich sitze ja auch in dem ein oder anderen Ausschuss.“
Liebig, die 1972 in Gyadam in Ghana geboren wurde, arbeitete zuerst als Arzthelferin, machte ihr Abi und studierte Jura, um dann viele Jahre für eine Innungskrankenkasse zu arbeiten, wo sie sich im Personalrat engagierte. Seit 2023 gehört Liebig auch dem Bundesvorstand von Verdi an. Man hat den Eindruck, dass sie für ihr Thema brennt. Das sperrige Image der Selbstverwaltung, die magere Wahlbeteiligung, kaum über 20 Prozent, bei den Sozialwahlen, die alle sechs Jahre stattfinden, haben Liebig nie abgeschreckt. Sie sagt: „Die Selbstverwaltung ist nicht sperrig. Sie wird nur sperrig dargestellt, und es gibt wenig Wissen in der Öffentlichkeit über das, was wir tun.“ So sei kaum bekannt, dass viele der „freien“ Bewerberlisten bei den Sozialwahlen in Wahrheit arbeitgebernah seien: „Da braucht es viel mehr Aufklärung.“
Im Vorstand ist Liebig eher für die großen Linien zuständig, also etwa für neue IT-Projekte oder die Auswirkungen gesetzlicher Änderungen. „Natürlich kriege ich auch den ein oder anderen Brief von Verdi-Mitgliedern, die Schwierigkeiten haben“, sagt sie. „Wir versuchen dann, auf dem kleinen Dienstweg zu gucken, dass da noch mal genauer hingeschaut wird. Aber im Vorstand bearbeiten wir keine Einzelfälle.“ Da hat sie einen klaren Kompass: „Als Gewerkschafterin stehe ich immer auf der Seite der Versicherten und frage, was ihnen nützt.“ Ist ein neues Onlineportal benutzerfreundlich? Was macht man mit älteren Menschen, die damit nicht gut klarkommen? Stimmt der Personalschlüssel im eigenen Haus, sodass die Aufgaben auch bewältigt eerden können? Was bedeutet eine aktuelle Änderung am Ende für die Menschen?
Rebecca Liebig ist überzeugt davon, dass auch in einem reichen Land wie Deutschland die Rente den Lebensstandard der Menschen nicht sichern kann: „Die gesetzliche Rente und die Betriebsrente erreichen nicht den alten Lohn“, sagt sie. Das Argument, dass ja eine dritte Säule, die private Vorsorge, dazukomme, lässt sie nicht gelten. Wer kann das schon, fragt sie. Daher hat sie klare Forderungen an die Politik: „Das Rentenniveau darf nicht weiter sinken.“ Aktuell liegt es bei 48 Prozent; die Rechengröße gibt das Verhältnis der Standardrente zum Durchschnittsdienst aller Versicherten an. Die Zahl entscheidet nur sehr bedingt über die Höhe der individuellen Rente. Sie hängt, wie Liebig erklärt, ein ganzes Stück davon ab, ob die Versicherten während des Arbeitslebens anständig bezahlt worden sind: „Deswegen sind wir auch so hinter Themen wie dem Mindestlohn und der Tarifbindung her.“
Die Gewerkschaften werden weiter dafür kämpfen, das ist sicher. Genauso sicher ist, dass es in der neuen Regierung wieder Streit um den Bundeszuschuss gibt, der in diesem Jahr bei rund 120 Milliarden Euro liegen wird, und viele Diskussionen um neue Vorschläge wie die „Aktiv-Rente“, die einen steuerfreien Hinzuverdienst im Rentenalter ermöglichen soll, oder die „Frühstart-Rente“, bei der der Staat für jedes Kind Aktiendepots mit kleinen Beiträgen anlegt. Liebig muss all das unvoreingenommen prüfen.
Der Preis der Freiheit
Ulrike Frühwald ist Freiberuflerin aus Überzeugung. „Ich liebe die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann und was ich arbeite“, erzählt die Lektorin aus Hamburg, die früher viele Jahre fest angestellt war. Die Freiheit hat allerdings ihren Preis. Ulrike Frühwald weiß, dass sie im Alter von der gesetzlichen Rente allein nicht leben kann. Deshalb zahlt sie zusätzlich in einen Riester- und einen Rürup-Rentenvertrag ein und behält stets so viel Geld auf dem Tagesgeldkonto, dass sie zur Not zwei, drei Monate überbrücken kann. Eine Krankentagegeld- und eine Berufsunfähigkeitsversicherung hat sie allerdings nicht – das Risiko geht sie ein.
Mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland machen es wie Ulrike Frühwald. Sie arbeiten selbstständig – als IT-Fachkräfte und Clickworker, Sprach-, Musiklehrerinnen und -lehrer, Hebammen, Handwerkerinnen und Handwerker, Landwirte oder Künstler. Etwa die Hälfte von ihnen sind Soloselbstständige ohne Angestellte. Die meisten haben den Weg in die Selbstständigkeit aus freien Stücken angetreten. Laut einer Befragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung sind Freiheit, Selbstverwirklichung und Weiterentwicklung die häufigsten Motive. Dafür verzichten Selbstständige auf Sicherheit und Einkommen. Sie verdienen im Schnitt etliche Hundert Euro weniger als ihre fest angestellten Berufskolleginnen und -kollegen. Und: Sie müssen sich selbst versichern.
Anders ist das bei den rund 190000 Versicherten in der Künstlersozialkasse (KSK). Sie wurde 1983 auf Initiative des damaligen Bundesarbeitsministers Herbert Ehrenberg (SPD) gegründet und bezieht selbstständige Künstler und Publizisten in den Schutz der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung ein. Das KSK-Modell basiert auf einer Mischfinanzierung: Die Versicherten bringen – auf Basis eines geschätzten Jahreseinkommens – die Hälfte des Beitrags auf, 30 Prozent übernehmen die Auftraggeber, 20 Prozent der Staat. Das WSI schlägt vor, alle Selbstständigen verpflichtend in die gesetzliche Rentenversicherung aufzunehmen und den fehlenden Arbeitgeberanteil „in Form einer Auftraggeberabgabe oder durch Zuschüsse aus Steuermitteln“ auszugleichen.
Besonders die Altersvorsorge ist bei vielen Selbstständigen heikel. Nicht alle können so umfassend vorsorgen wie Ulrike Frühwald. Laut einer Umfrage des Hauses der Selbstständigen sorgt mehr als ein Viertel der Befragten nicht fürs Alter vor. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die Verdienste schwanken extrem. Stundensätze weit unterhalb des Mindestlohns sind keine Seltenheit. Das Haus der Selbstständigen ist ein vom Bundesministerium für Arbeit und dem Europäischen Sozialfonds Plus gefördertes und von Verdi mitgetragenes Projekt mit Standorten in Berlin, Leipzig, Köln und Hamburg, das Soloselbstständige und Initiativen berät und vernetzt. „Letztlich hängt alles von der Durchsetzbarkeit angemessener Honorare ab“, betont Anna Spenn vom Haus der Selbstständigen Leipzig. „Wer wenig verdient, kann kaum Rücklagen bilden, arbeitet von der Hand in den Mund und auf kurze Sicht. Dann reichen die Rücklagen nicht für eine Absicherung im Alter.“
Auskömmliche Honorare wiederum lassen sich am besten durchsetzen, wenn es starke Gewerkschaften und Berufsverbände gibt. Ulrike Frühwald engagiert sich im Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren und im Beirat der Künstlersozialkasse. Auch sie plädiert für eine stärkere Vernetzung „Nur wenn wir uns besser aufstellen, können wir bessere Konditionen für alle aushandeln.“
Mütter denken oft nicht an die Rente
Anja Prasads Familienphase dauerte, bis ihre Kinder erwachsen waren; im vergangenen Jahr wurde der jüngste Sohn volljährig. „Als Dreifachmama dachte ich lange, eine Festanstellung kommt nicht infrage“, erzählt die Münchnerin. „Was ich nebenbei geschafft habe, waren Minijobs im Unternehmen meines Mannes: Buchhaltung, Material bestellen, solche Sachen.“ Ein paar Hundert Euro im Monat flossen auf diesem Weg in die Familienkasse, in die Rentenversicherung allerdings kein einziger. Auch die Kindererziehungszeiten, die nur angerechnet werden, wenn man sie der gesetzlichen Rentenversicherung angibt, hat Anja Prasad nie gemeldet.
„Rückblickend finde ich das ja auch absurd“, erzählt die 52-Jährige, „doch in meiner Generation ist der Glaube ‚Die Rente ist sicher‘ nicht ungewöhnlich“, so, wie es der von 1982 bis 1998 amtierende Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) stets versprochen hatte.
Da saß ich dann in einem Vortrag und hörte, dass sich Frauen um ihre Rente sorgen, die viel länger eingezahlt hatten als ich.“
Wie kurzsichtig das war, fiel ihr auf, als sie 2024 in ein Projekt startete, das eine Freundin ihr empfahl: Die von der Stadt München geförderte Initiative power_m unterstützt Menschen nach der Familienphase bei der Rückkehr in den Beruf. Fester Bestandteil der Begleitung ist, einen Blick auf die Altersversorgung zu werfen. „Da saß ich dann in einem Vortrag und hörte, dass sich Frauen um ihre Rente sorgen, die viel länger eingezahlt hatten als ich“, erzählt Anja Prasad. „Natürlich hätte ich mich mehr kümmern sollen, auch wenn unsere Familie stabil ist und mein Mann nicht schlecht verdient.“
Solche Geschichten hört Projektleiterin Monika Wegat oft: „Sehr viele Frauen sagen: Wenn alles gut geht mit der Partnerschaft, stehe ich ganz gut da. Doch wenn nicht alles gut geht, führt die fehlende Altersvorsorge schnell in die Katastrophe.“ Individuell rät Monika Wegat, wenn nach der Geburt von Kindern nur ein Ehepartner erwerbstätig ist, könne dieser die Rentenbeiträge des anderen freiwillig übernehmen: „Unter Jüngeren spricht sich das auch zunehmend herum.“
Die Leiterin des zu 99 Prozent von Frauen genutzten Projekts sieht jedoch auch die Politik in der Verantwortung. „Ob Ehegattensplitting oder Minijobs: Das Alleinernährermodell wird nach wie vor gefördert.“ Deswegen lädt das Münchner Projekt dazu ein, typisch weibliche Gedankenmuster zu reflektieren. „Aus Rücksicht auf ihre Familie neigen Frauen oft zu Verdrängung ihrer eigenen Lage – oder auch zu Selbstausbeutung“, beobachtet Wegat.
Die durchschnittliche Projektteilnehmerin ist sieben Jahre aus dem Beruf, Anja Prasad ist insofern ein besonderer Fall. Umso erfreulicher, dass auch sie vor einigen Monaten den Wiedereinstieg geschafft hat: 25 Stunden in der Woche arbeitet sie als Teamassistentin in einem Projekt zur Gesundheitsförderung von Kindern: „Das ist nicht nur irgendein Job“, sagt sie, „sondern auch noch etwas, womit ich mich identifizieren kann.“