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Magazin Mitbestimmung

: Nico Raabe: Aus dem Aufsichtsratsalltag

Ausgabe 07/2005

Fazit einer Befragung von Vertretern der Wirtschafts- und Gewerkschaftselite: Wenn es in Deutschland Probleme gibt, dann betreffen sie die Gesamtheit des Aufsichtsrats. Da die Mitbestimmung Teil des Aufsichtsrats ist, ist sie somit aber auch Teil des Problems.

Von Nico Christian Raabe
Der Autor hat in Berlin, Lausanne und Stockholm Betriebswirtschaftslehre studiert und im Zuge seiner Diplomarbeit im Laufe des Jahres 2004 rund 60 Aufsichtsratsmitglieder zu ihrer Arbeit im Aufsichtsrat befragt.

Das Innenleben deutscher Aufsichtsräte ist traditionell mit einigen Mythen verbunden. Auch im Kontext der Corporate-Governance-Debatte wurden viele Fragen regelmäßig unter Verweis auf politische Vorgaben oder aber die Vertraulichkeit von Aufsichtsratssitzungen ausgeklammert. Wenn über die Zukunft der paritätischen Mitbestimmung gesprochen wird, wird kaum thematisiert, wie die Mitbestimmungsprozesse in Aufsichtsräten tatsächlich ablaufen. Dazu und wo aus ihrer Sicht Reformbedarf besteht, habe ich 60 zum Teil prominente Akteure aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik befragt.

Was bedeutet die Größe der Aufsichtsräte für den Arbeitsalltag? In einem Gremium von 20 Mitgliedern seien keine offenen Diskussionen möglich, da die Vertraulichkeit nicht mehr gewährleistet sei, lautet ein gängiger Vorwurf. Gewerkschafter verweisen dagegen meist darauf, dass es ein Vorteil von großen Gruppen sei, möglichst viele verschiedene Blickwinkel in die Diskussion im Aufsichtsrat einfließen zu lassen.

Die Gespräche ergaben: Aufsichtsräte von 20 Mitgliedern werden von den allermeisten Befragten als nachteilig empfunden, unabhängig davon, welcher Bank sie angehören. Denn mit Vorständen, Wirtschaftsprüfern und manchmal auch noch Gäste nehmen nicht selten 30 bis 40 Personen an den Sitzungen teil. Die Folge ist: Viele Aufsichtsratssitzungen folgen einem starren Protokoll. "Lebhafte Diskussionen sind die absolute Ausnahme", so ein Vorstand.

Dies bedeutet aber nicht, dass solche Aufsichtsräte generell handlungsunfähig sind, da immer mehr Entscheidungen in Ausschüsse verlagert werden. Neben dem Präsidialausschuss sind dies in der Regel Ausschüsse, die sich mit Personalfragen, mit der Bilanzprüfung oder auch mit den Investitionen, der Strategie oder mit Forschung und Entwicklung des Unternehmens befassen. Die Etablierung der Ausschüsse hat nach einhelliger Meinung der Gesprächspartner zu einer Intensivierung und damit einer Verbesserung der Aufsichtsratsarbeit geführt.

Der Aufsichtsratsvorsitzende hat viel zu tun
 
Daneben treffen sich die Vertreter der Arbeitnehmerbank und die der Kapitalseite in vielen Unternehmen vor der regulären Aufsichtsratssitzung zu informellen Vorbesprechungen, an denen der Vorstand jeweils teilnimmt. In den eigentlichen Aufsichtsratssitzungen werden meist nur solche Beschlüsse gefasst, die vorher mit den Bänken abgesprochen wurden. Von Vorabstimmungen in 90 Prozent der Fälle berichtet auch eine aktuelle Umfrage des Deutschen Führungskräfteverbandes.

Angesichts der Vielzahl an Sitzungen und informellen Vorbesprechungen haben die Aufsichtsratsvorsitzenden einen erheblichen Koordinierungsaufwand zu leisten. Dies wird gerade von den Vorsitzenden als Argument für eine Verkleinerung der Gremien angeführt. Außerdem wird ins Feld geführt, dass sich "ein System des selektiven Informationsflusses" entwickelt habe. Nach Aussage mehrerer Gesprächspartner würden oft nur jene Aufsichtsratsmitglieder laufend über Entwicklungen informiert, die in besonders engem Kontakt zum Vorstands- bzw. Aufsichtsratsvorsitzenden stünden.

"Diese Ungleichbehandlung führt dazu, dass einzelne Mitglieder des Gremiums ihre Überwachungsfunktion faktisch nicht ausführen können", so ein weiterer Gesprächspartner. Wenn sich einzelne Aufsichtsratsmitglieder nämlich in eine Gegenposition zum Vorsitzenden begeben, würden sie meist von allen wichtigen Informationen abgeschnitten. "Es hängt alles vom Aufsichtsratsvorsitzenden und seinem Stellvertreter ab", so der Gesprächspartner weiter.

Die Stärkung der Position des Aufsichtsratsvorsitzenden kann man als ein Ergebnis großer mitbestimmter Aufsichtsräte sehen. Häufig nimmt der Vorsitzende sogar an den Vorstandssitzungen teil. Ein Arbeitnehmervertreter, der vorübergehend das Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden ausüben musste, berichtete, dass es in seinem Unternehmen nahezu keine Entscheidung des Vorstands im Tagesgeschäft gegeben habe, die nicht zuvor vom Aufsichtsratsvorsitzenden abgesegnet wurde. Dies sei ihm erst in seiner Vertretungszeit bewusst geworden.

Die informellen Parallelstrukturen sind, laut Auskunft vieler Gesprächspartner, sehr intransparent, auch wenn die Arbeitnehmerseite über den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden hier eingebunden ist. Gleichwohl sei die Verlagerung von Entscheidungen in Küchenkabinette kein sinnvoller Weg, um Ineffizienzen im System auszugleichen. Die deutliche Mehrheit der Befragten plädiert daher für kleinere Aufsichtsräte bei gleichzeitiger Intensivierung der Arbeit im Plenum. Manche sehen in den häufig bestehenden Parallelstrukturen zudem eine Gefahr für die Mitbestimmung. "Es kann nicht im Interesse der Arbeitnehmervertreter sein, dass sie nur noch formell an Entscheidungen beteiligt werden", so ein Arbeitnehmervertreter.

Indiskretionen gehören häufig zur Tagesordnung

Mitbestimmungskritiker führen häufig an, vor allem die Präsenz von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat verhindere es, dem Aufsichtsrat vertrauliche Informationen zukommen zu lassen. Die Gespräche haben jedoch ergeben, dass die meisten der Befragten nicht primär die Arbeitnehmer für die mangelnde Vertraulichkeit in deutschen Aufsichtsräten verantwortlich machen. Einige Gesprächspartner betonen zwar, dass ihre Anteilseignervorbesprechungen vor allem den Sinn hätten, Indiskretionen an die Presse zu verhindern.

Andere wiederum berichten, dass in ihren Aufsichtsräten vor allem Vertreter der Anteilseignerseite Medien wie das Managermagazin regelmäßig mit vertraulichen Informationen versorgen würden. Insbesondere im Vorfeld von strittigen Beschlussfassungen des Aufsichtsrats würden einige Anteilseignervertreter und Vorstände der Presse Informationen zuspielen, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Indiskretionen durch Arbeitnehmervertreter sind im Vergleich dazu offenbar weniger bedeutend.

Als weiteres Argument gegen die Präsenz von Arbeitnehmern in Aufsichtsräten hört man oft: Es sei für Vertreter der Kapitalseite unmöglich, Vorstände in Gegenwart ihrer Mitarbeiter zu kritisieren, ohne deren Autorität zu untergraben. Viele Anteilseignervertreter befürchten in der Tat, dass öffentliche Kritik an einem Vorstand dazu führt, dass dieser im Konfliktfall gegenüber dem Betriebsrat einknickt. Gerade jüngere Vorstände sind da anderer Auffassung. Sie meinen, ein professionell arbeitender Vorstand müsse Kritik von allen Seiten einstecken können - auch in Gegenwart seiner Mitarbeiter. Insgesamt ergibt sich aus den Schilderungen der Gesprächspartner, dass es in vielen Aufsichtsräten unabhängig von der Mitbestimmung keine konstruktive Diskussions- und Kritikkultur gebe. "Auch in mitbestimmungsfreien Aufsichtsräten empfinden viele Vorstände Kritik als Beleidigung."

Das erstaunlichste Ergebnis ist jedoch, dass mangelndes Vertrauen zwischen den Beteiligten unabhängig davon zu sein scheint, ob und wie stark Aufsichtsräte mitbestimmt sind. "In Unternehmen mit Drittelparität ist das Vertrauen zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsratsvorsitzendem um keinen Deut besser", so ein prominenter Aufsichtsratsvorsitzender. "Vertrauen und Fairness zwischen Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzendem ist in Deutschland der Unregelfall", so ein anderer Aufsichtsratsvorsitzender. Positiv wird dagegen von nahezu allen Aufsichtsratsvorsitzenden das Verhältnis zu ihren Stellvertretern von der Arbeitnehmerseite beschrieben. "Mein Stellvertreter hört Dinge, die ich nicht höre, und ist deshalb eine wichtige Stütze für meine Aufsichtstätigkeit", so ein Vorsitzender.

Mehr Teambildung, weniger Proporz

Die deutsche Aufsichtsratskultur ist geprägt von einer strikten Fraktionsdisziplin - auf der Arbeitnehmer- wie auf der Kapitalseite. Eigenständiges Handeln einzelner Aufsichtsratsmitglieder ist auf keiner der beiden Seiten erwünscht. Jedoch würden sich viele Aufsichtsratsmitglieder ein Aufbrechen der starren Trennung zwischen den Bänken wünschen. Gruppenübergreifendes Teambuilding gehört in Deutschland bisher nicht zum Arbeitsalltag von Aufsichtsräten. Dagegen verstehen sich ausländische Vorstände und Board-Members eher als Team, auch weil sie regelmäßig Klausurtagungen abhielten und ihre Mitglieder die gleichen Wertvorstellungen hätten.

Eines der Hauptargumente gegen die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Aufsichtsräten ist ein vermeintlicher Mangel an Qualifikation. Die Gespräche haben jedoch ergeben, dass die allermeisten Vertreter der Kapitalseite in der Praxis keine Probleme mit der Qualifikation der Vertreter der Arbeitnehmerseite sehen. Die Beurteilungen der Kapitalseite schwanken allerdings sehr von Branche zu Branche. Eingeräumt wird gerade im Finanz- und Chemiesektor, dass auf der Arbeitnehmerbank hoch qualifizierte Mitarbeiter vertreten sind, die durch ihren Hintergrund oftmals über mehr Expertenwissen verfügen als externe Vertreter der Kapitalseite.

Tendenziel sind bei den großen DAX-Unternehmen die Arbeitnehmervertreter sich ihrer Verantwortung bewusst; dort werde auch der Aspekt Qualifikation bei der Aufstellung der Listen zur Aufsichtsratswahl berücksichtigt. Wenn Kritik kommt, dann bezieht sie sich auf das Wahlverfahren der Arbeitnehmerbank, das mehr Wert auf Proporz als auf Qualität lege.

Das Hauptproblem besteht nach Ansicht der meisten Gesprächspartner darin, dass das gesamte deutsche Corporate-Governance-System auf Interessenvertretung anstatt auf bestmöglichen strategischen Rat und Kontrolle für Vorstand und Unternehmen ausgelegt ist. Erst in wenigen Aufsichtsräten beruft die Kapitalseite ihre Mitglieder nach strikten Qualifikationskriterien, auf deren Basis ein Profil zur Suche nach geeigneten Kandidaten aufgestellt wird. Ausländische Gesprächspartner berichteten dagegen, dass in angelsächsischen Ländern ein dramatischer Wechsel in der Art der Zusammensetzung von Boards stattgefunden habe - weg von der gleichmäßigen Repräsentanz aller Anteilseignergruppen, hin zu einem Gremium der am besten Geeigneten. Dies schließt in britischen Aufsichtsräten auch eine angemessene Berufung von Frauen mit ein. Diese Entwicklung hat die deutsche Corporate Governance bisher noch nicht nachvollzogen.

Aus dem angelsächsischen Kontext kommt auch die Forderung nach Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern. Gewählte Arbeitnehmervertreter sind nach dieser Sichtweise alles andere als unabhängig. Gesprächspartner aller Seiten bemängeln jedoch, dass die Frage der Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern überbewertet wird. Insbesondere finden sich keine Belege für die Behauptung, dass es vor allem die Arbeitnehmervertreter seien, welche vorrangig die Interessen ihrer Wähler - statt die des Unternehmens - im Blick hätten.
So wurde von mehreren Gesprächspartnern der Kapitalseite berichtet, dass im Vorfeld großer Investitionsvorhaben potenzielle Auftragnehmer versuchen, einzelne Aufsichtsratsmandate mit ihren Lobbyisten zu besetzen.

Diese würden über den Aufsichtsrat Einfluss nehmen auf die Vergabe von Milliardenaufträgen durch den Vorstand. Auch von Seiten der Arbeitnehmervertreter gäbe es Versuche, Vorstände im Zusammenhang mit anstehenden Vertragsverlängerungen durch unmoralische Angebote zu beeinflussen. Das Problem von Abhängigkeiten und Beeinflussungsversuchen betrifft somit den gesamten Aufsichtsrat. Es ist kein vordergründiges Mitbestimmungsproblem, aber eben auch ein Problem, mit dem sich die Gewerkschaften auseinander setzen sollten.

Viele Anteilseigner schätzen die externen Gewerkschafter

Die Gewerkschaften betrifft die Zukunft der Mandate, für die sie Wahlvorschläge machen, ganz besonders. Hier kamen überraschende Konstellationen zu Tage. So sieht eine bedeutende Gruppe von Anteilseignervertretern die Zusammenarbeit mit den externen Gewerkschaftern eher positiv. Sie ermögliche ein besseres Verständnis zwischen den Sozialpartnern und würde so für eine Einbindung der Gewerkschaftsführer in die Wirtschaftselite sorgen, was gut für den Reformprozess in Deutschland sei. Andere sehen dagegen die Gefahr, dass zunehmend Gewerkschaftsvertreter mit Funktionärsbiografie in die Aufsichtsräte kommen: "Sozialismusexperten sind das Letzte, was wir im Aufsichtsrat brauchen", so ein Gesprächspartner.

Aber auch einige der betrieblichen Arbeitnehmervertreter sehen die Präsenz externer Gewerkschafter kritisch, da sie die Betriebsräte in ihre "Gesamtstrategie" einbinden wollten, die nicht unbedingt die Interessenlage der Belegschaft widerspiegele. Drei Externe sind aus Sicht dieser Gruppe zu viel. Denn die Zeiten hätten sich geändert, die Bedeutung der betrieblichen Ebene habe zugenommen, während die überbetriebliche Gewerkschaftsebene immer unwichtiger werde. Von einigen Arbeitnehmervertretern wurde besonders kritisiert, dass manchen Funktionären das Gespür dafür fehle, in welchen Aufsichtsräten sie gleichzeitig Mitglied sein könnten.

Fazit: Das Stimmungsbild zur Aufsichtsratspraxis zeigt, dass Schwarz-Weiß-Malerei der Realität der Mitbestimmung in Deutschland nicht gerecht wird. Die Befragung machte klar: Viele Probleme der Aufsichtsratspraxis betreffen die Gesamtheit des Aufsichtsrats, seine Größe sowie das Leitbild und die Wertvorstellungen seiner Mitglieder. Da die Mitbestimmung Teil des Aufsichtsrats ist, ist sie somit aber auch zu einem gewissen Anteil Teil des Problems.

Insgesamt begrüßte die große Mehrheit der Befragten, dass sich Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite gemeinsam mit der Weiterentwicklung der Mitbestimmung beschäftigen. Von daher könnte die neue Biedenkopf-Kommission - so sie denn an die Arbeit geht - die Unterstützung derjenigen finden, die derzeit in deutschen Aufsichtsräten eine anspruchsvolle Arbeit machen.

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