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Das FGB-Projektteam Kathrin Biegner, Benjamin Krautschat und Melanie Frerichs (v.l.n.r.) Magazin Mitbestimmung

Zukunftsdialog: Nicht nur darüber geredet

Ausgabe 02/2022

Vor vier Jahren schickte der DGB-Bundesvorstand ein Projektteam mit dem Auftrag los, mit Menschen im ganzen Land über die Zukunft zu reden. Dabei erlebte es auch die eine oder andere Überraschung. Von Fabienne Melzer

Einfach mal fragen. Klingt banal. Doch Melanie Frerichs vom DGB spürte schon an den ersten Reaktionen, dass das gar nicht so banal ist: „Als Gewerkschaften haben wir ja meist Antworten, und nun zogen wir los und stellten Fragen. Das hat doch einige irritiert, und zwar so sehr, dass sie sich offenbar gedacht haben: ‚Da machen wir mit.‘“ 

Vor vier Jahren startete der DGB den ­Zukunftsdialog unter dem Motto „Reden wir über … “ . Der Bundeskongress hatte den DGB-Bundesvorstand beauftragt, einen gesellschaftlichen Dialog in allen neun DGB-Bezirken anzustoßen. „Das sollte der rote Faden sein, und das war er auch vier Jahre lang“, sagt Melanie Frerichs, die mit Kathrin Biegner, Katja Wessel und Benjamin Krautschat das Projektteam bildete. Anfangs bangten alle vier, ob sie die Idee ans Laufen bringen. „Wir konnten ja nicht versprechen, wir setzen das eins zu eins um, und es gab auch keinen Preis zu gewinnen“, sagt Kathrin Biegner. Doch nach vier Jahren ist das Team rundum zufrieden. Kathrin Biegner hatte sich zum Ziel gesetzt, ein Ergebnis wie das Bundesarbeitsministerium mit einem ähnlichen Prozess vor sechs Jahren zu erreichen. Rund 5000 Antworten hatte das Ministerium damals erhalten. „Und am Ende haben wir diese Benchmark geknackt“, freut sich Kathrin Biegner.
 

  • Simone Burger und Kristofer Herbers
    Simone Burger und Kristofer Herbers

650 Euro für ein WG-Zimmer sind bei Azubis nicht drin

Wer in München eine Bleibe sucht, braucht vor allem eins: Geld. Auszubildende besitzen davon bekanntlich nicht im Überfluss. Selbst WG-Zimmer kosteten bereits 2019 in der Stadt ab 650 Euro aufwärts. Das können sich auch gut bezahlte Auszubildende nicht leisten. Im öffentlichen Dienst der Gemeinden verdienten sie nach einer Analyse des WSI-Tarifarchivs 1043 Euro brutto im ersten Jahr, im Bankgewerbe 1036 und bei der Deutschen Bahn 1004 Euro. Von Friseurinnen oder Erzieherinnen will Kristofer Herbers, DGB-Jugendsekretär in München, gar nicht erst reden. 

Die Untätigkeit in der Stadt nervte ihn schon lange: „Alle Unternehmen beklagen, dass sie keine Auszubildenden finden, aber in München können sich selbst Metall-Azubis keine Wohnung leisten.“ Deshalb schob der DGB München im Rahmen des DGB-Zukunftsdialogs vor zwei Jahren eine alte Idee neu an: die Einrichtung eines Azubiwerks, das nach dem Vorbild der Studierendenwerke bezahlbaren Wohnraum schafft und sich um die Anliegen junger Menschen kümmert. „Die Idee gab es schon in den 1990er-Jahren“, sagt Kristofer Herbers. Damals scheiterte das Vorhaben. Diesmal hatte es Erfolg. Der Stadtrat stimmte fast einstimmig zu und bewilligte in einer ersten Charge 30 Millionen Euro.
Das erste Azubi-Wohnheim mit 118 Appartements ist fertig, das nächste mit 221 im Bau. Insgesamt sollen es 1000 Appartements werden. Einen Teil der monatlichen Kosten übernehmen Arbeitgeber, indem sie Belegrechte kaufen. Azubis kostet das Appartement monatlich 327 Euro.

Doch das Azubiwerk, das von der DGB-Jugend, dem Kreisjugendring und der Stadt getragen wird, will mehr sein als eine Wohnheimverwaltung. Es will die jungen Menschen durch die mehr als 2000 Beratungsstellen in München zur richtigen Adresse lotsen, wenn sie ein Problem haben. Und die jungen Menschen sollen mitbestimmen können. Deshalb wählen sie in jedem Wohnheim einen Hausrat, der jemanden in den Vorstand des Azubiwerks entsendet. „Was wir hier geschafft haben, können auch andere Städte erreichen“, sagt Herbers. „Wir beraten gerne jeden, der das Modell nachahmen möchte.“
 

Zwar antworteten die meisten Menschen auf die Frage, wie sie leben und arbeiten wollen, viel Erwartbares. Sie wünschen sich Solidarität und Gerechtigkeit, selbstbestimmte Arbeitszeiten, ein selbstbestimmtes Berufsleben oder selbstbestimmtes Wohnen in jedem Alter. Für Melanie Frerichs ist es dennoch ein bemerkenswertes Ergebnis: „Wir haben diese Debatte in der Öffentlichkeit geführt, auch mit Nichtmitgliedern. Das bedeutet, ein Großteil der Gesellschaft teilt unsere gewerkschaftlichen Positionen.“

Dabei kennen sie viele Positionen oft gar nicht. So konnte der Zukunftsdialog auch überraschen. Als sie zum Thema Wohnen eine bundesweite Aktionswoche machten, hatten manche Frage­zeichen in den Augen: „Was hat denn Gewerkschaft mit Wohnen zu tun?“ Sie machten klar, dass Wohnen auch eine Frage des Einkommens ist, dass es mit Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort zusammenhängt, und die Fragezeichen lösten sich auf.
Für die bundesweite Aktionswoche unter dem Motto „Bezahlbar ist die halbe Miete“ hatte das Team ein Wohnzimmer zum Schnellaufbau entwickelt. Auch hier waren sie gespannt, ob die Kolleginnen und Kollegen das Wohnzimmer aufbauen oder doch lieber einen klassischen Stand. Benjamin Krautschat fand es nicht nur toll, wie viele in den DGB-Regionen, Kreis- und Stadtverbänden ihre Materialien nutzten, er freute sich auch über den Erfolg der Aktion: „Wir waren in einer Woche als DGB überall präsent, von der Lokalzeitung bis zur bundesweiten Presse. Das hat uns sichtbar gemacht, und es war ja ein Ziel des Dialogs, dass der DGB und seine Gewerkschaften als politischer Gestalter vor Ort wahrgenommen werden.“

Die Ergebnisse des Zukunftsdialogs gingen nun in konzentrierter Form in den Dachantrag des DGB-Bundeskongresses im Mai ein. „Damit haben wir ein Versprechen eingehalten“, sagt Melanie Frerichs, „das Versprechen, dass die Impulse der Menschen etwas bewirken.“

  • Edeltraud Nülle im Beller Feld
    Edeltraud Nülle im Beller Feld.

Kampf gegen Amazon geht in die zweite Runde

Als Gewerkschafterin muss man Niederlagen einstecken können. Nur aufgeben, das wird Edeltraud Nülle, Vorsitzende des DGB-Kreisverbands Lippe, nicht. Zwei Jahre lang kämpfte der DGB-Kreisverband gemeinsam mit einer Bürgerini­tiative gegen die Ansiedlung eines Logistikzen­trums von Amazon im Industriegebiet Beller Feld. Nun hat die Gemeinde Horn entschieden: Amazon kommt. Edeltraud Nülle ist überzeugt: „Es wäre nicht zum Schaden von Horn gewesen, wenn Amazon woandershin gegangen wäre.“ Aber sie ist auch Verdianerin, und deshalb kämpft sie weiter: nun eben für gute Arbeitsbedingungen bei Amazon im Beller Feld.

Angefangen hatte die Geschichte 2019 mit den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Der DGB-Kreisverband stellte sich im Rahmen des Zukunftsdialogs die Frage: „Wie wollen wir in Zukunft leben und arbeiten in Lippe?“ Sie diskutierten, was sie von der Kommunalpolitik für ihre Region erwarten. „Ein Teil unserer Forderungen ging dann auch in den Koalitionsvertrag ein“, sagt Edeltraud Nülle.

Aus Gewerkschaftssicht gehört zu einer guten regionalen Wirtschaftsentwicklung auch gute Arbeit. Auf diesen Punkt sprach die Initiative „Beller Feld“, die sich schon länger gegen die Ansiedlung von Amazon wehrte, den DGB an: „Amazon kann doch nicht im Sinne eurer Ziele einer guten Wirtschaftsentwicklung sein.“ Von nun an hatten der DGB-Kreisverband und die Bürgerinitiative ein gemeinsames Ziel. Sie setzten sich mit der SPD der Stadt Horn zusammen, doch das Ergebnis war für Edeltraud Nülle ernüchternd: „Ihr Argument war, besser schlechte Arbeitsplätze als keine.“ Die Stadt ist strukturschwach, und viele Menschen leben von Grundsicherung. Amazon will 1000 Arbeitsplätze schaffen, und Horn hofft, dass dadurch viele aus der Grundsicherung herauskommen. Nülle glaubt das nicht: „Wir wissen von anderen Amazon-Zentren, dass sie die Beschäftigten in eigenen Bussen von weit her heranfahren. Und bei den Löhnen werden viele weiter auf staatliche Unterstützung angewiesen sein.“ Die erste Runde ging aus Sicht der Gewerkschaft verloren. Die zweite Runde beginnt erst noch.

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