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Energiepark bei Klettwitz, 2022 Magazin Mitbestimmung

Regionen: Nach der letzten Schicht

Ausgabe 03/2022

Die wirtschaftlich schwer gebeutelte Lausitz könnte Modellregion für die Zeit nach dem Ausstieg aus der Kohle werden. Das DGB-Projekt „Revierwende“ hilft dabei. Von Andreas Molitor

Das Werk atmet schwerer als sonst. Dick und schwarz quillt der Rauch aus dem Schlot, als wollte die alte Fabrik es allen noch mal zeigen. Sie schwitzt, Wasserdampf zischt aus Rohren und Ventilen, und hinten, ganz hinten durch, jagt die letzte Brikett­presse ihren dumpfen Rhythmus durch die riesige Halle. Der Pulsschlag der Fabrik ist aus Kohle, und noch ist Kohle da, noch keucht die Dampfmaschine, surrt der Antriebsriemen, stößt der Pressstempel vor und zurück.

Plötzlich ein gellendes Pfeifen von draußen. Der Pulsschlag beginnt zu flattern. Ein Arbeiter schlägt mit dem Hammer einen Rest Kohle aus dem Trichter in die Presse. „Nu is’ Feierabend“, ruft einer. „Nie wieder Kohle!“ Die Maschine stößt die letzten Briketts aus, ächzt noch einmal. Dann ist es ruhig. 10:07 Uhr. Papiertaschentücher wischen Tränen aus Arbeitergesichtern.

31. März 1995, letzte Schicht in der Brikettfabrik „Fortschritt“ im brandenburgischen Schwarzheide. Solche Szenen waren in der Lausitz, jener mit Tagebauen, Kraftwerken und Brikettfabriken gesäten Region in Südbrandenburg und Ostsachsen, seinerzeit fast wöchentlich zu erleben. Stilllegung, letzte Schicht mit reichlich Schnaps, Verabschiedungsfeier mit Bergmanns­chor und Steigerlied und noch mehr Schnaps. Gewerkschaftssekretäre hatten damals kaum andere Termine im Kalender. Den Soundtrack dazu lieferte der Liedermacher Gerhard Gundermann, im Hauptberuf Baggerfahrer im Tagebau Spreetal. „Gundi“ sang seiner Lausitz, „wo die Kühe mager sind wie das Glück“, wunderschöne Sterbelieder: „Die Gleise rosten und das Förderband ist leer / Die braune Kohle von hier will jetzt keiner mehr.“

Die Weichen in Richtung Dauerkrise waren zu DDR-Zeiten gestellt worden. Nachdem die Energieversorgung in den 1970er Jahren auf Braunkohle getrimmt worden war, hatte sich die kohlereiche Lausitz zum Energiezentrum der DDR gewandelt. Auf die Wiedervereinigung folgte der jähe Absturz. Billiger Strom kam jetzt aus dem Westen, kaum jemand heizte noch mit Briketts. Kraftwerke und Brikettfabriken kamen in schnellem Takt auf die Stilllegungsliste; die alten Pläne für gigantische neue Tagebaue wurden rigoros zusammengestrichen.

Zehntausende Kohlekumpel und Kraftwerksarbeiter wurden arbeitslos. Sie bekamen ein paar Tausend Mark und ein Erinnerungsbrikett in die Hand gedrückt und wurden nach Hause geschickt. Viele fanden nie mehr Arbeit. Wer Glück hatte, durfte seine frühere Fabrik mit abreißen oder bekam eine Umschulung zur Floristin. Der gleichzeitige Zusammenbruch der Glas- und Textilindustrie mit dem Verlust Tausender Arbeitsplätze machte den industriellen Kahlschlag in der Region komplett.

Vom Struktureinbruch jener Zeit hat sich die Lausitz lange nicht erholt. Erst in den letzten Jahren konnte sie in puncto Arbeitslosigkeit Anschluss ans ostdeutsche Mittelfeld finden. Mehr als zwei Jahrzehnte zählte die Gegend zu den strukturschwächsten Regionen Ostdeutschlands. Kaum ein Fabrikherr aus dem Westen traute sich in dieses Industrieabbruchgebiet. Die Arbeitslosenquote lag zeitweise doppelt so hoch wie der ostdeutsche Schnitt. Bei den einschlägigen Zukunftsrankings belegten die Städte und Landkreise der Lausitz zuverlässig Plätze am Ende der Rangliste.

„Kaum eine Gegend in Ostdeutschland wurde nach 1990 so hart vom Strukturwandel getroffen wie diese Region“, sagt Matthias Loehr, Projektleiter Lausitz des vom DGB initiierten Transformationsprojekts „Revierwende“. Wer sich aufraffen konnte, ging fort. Die Lausitz zählt heute fast ein Drittel weniger Einwohner als 1990. Nach wie vor trägt jeder Zehnte sich mit dem Gedanken, die Heimat zu verlassen, bei den 18- bis 29-Jährigen ist es fast jeder Zweite. Vielerorts sahen die Innenstädte schon aus wie vom Onlinehandel heimgesucht, lange bevor es den Onlinehandel gab.

  • Letzte Schicht in der Brikettfabrik 64 in Lauchhammer, 1993
    Letzte Schicht in der Brikettfabrik 64 in Lauchhammer, 1993

Abgebaggert

Eine sehenswerte ZDF-Dokumentation aus der Reihe „37 Grad“ erzählt vom Kampf der Lausitzer um ihre Zukunft angesichts des nahenden Kohle­ausstiegs. Der Film kann über die ZDF-Mediathek abgerufen werden.

 

In den Tagebauen und Kraftwerken sind nur gut 7000 von einst 100 000 Arbeitsplätzen geblieben. Damit ist die Energiewirtschaft allerdings immer noch größter Arbeitgeber. Kein Wunder, dass die Menschen in der Region die Diskussion über den Ausstieg aus der Kohle mit großer Sorge verfolgten. Spätestens im Jahr 2038, nach dem Willen der Berliner Ampelkoalition „unter idealen Bedingungen“, sogar 2030, wird der letzte Bagger stillstehen und das letzte Kohlekraftwerk vom Netz gehen. In manchen Dörfern, die noch den Schaufelradbaggern weichen sollen, stehen sich zwei Lager in bitterem Streit gegenüber: Die einen kämpfen seit Jahrzehnten dagegen, dass ihre Heimat abgebaggert wird, die anderen hoffen noch auf ein paar Jahre Gnadenfrist in der Kohle, vor allem jetzt, wo angesichts des Ukrainekrieges die Sicherheit der Energieversorgung gefährdet ist und eine Renaissance bereits abgeschalteter Kohlekraftwerke diskutiert wird. Fraglich ist allerdings, ob im Ernstfall überhaupt noch genug Beschäftigte da sind, um die Kraftwerksblöcke wieder hochzufahren. Anders als in den 1990er Jahren, als die Leute bis zur letzten Schicht in ihren Jobs verharrten, hat der Exodus der Fachkräfte aus der Kohle längst begonnen. Neue Arbeitgeber wie die Tesla-Fabrik in Grünheide oder der Flughafen BER sind mit dem Auto nur eine gute Stunde entfernt.

Vor allem der Beharrlichkeit der IG BCE ist es zu verdanken, dass die Lausitz nicht noch einmal ins Bergfreie fällt wie nach 1990. Mit der gigantischen Summe von 40 Milliarden Euro unterstützt die Bundesregierung bis zum Jahr 2038 den Strukturwandel in den deutschen Kohlerevieren. 17 Milliarden davon fließen in die Lausitz, damit die Kinder und Enkel der heute in der Kohle Beschäftigten eine Perspektive haben.

Die Revierwende ist bereits in vollem Gange. Den lange vermissten Auftrieb erhält die Region beispielsweise durch die Elektromobilität – mit einer neuen Kathodenfabrik bei BASF in Schwarzheide und der größten Lithiumfabrik Europas in Guben, errichtet vom kanadischen Unternehmen Rock Tech.

Beste Aussichten verspricht nach wie vor die Energieerzeugung – natürlich emissionsfrei aus Wind und Sonne. Bei der Energiewende könnte die Lausitz zur Vorreiterregion avancieren. Platz für Windparks und Solarkraftwerke ist genug da, beispielsweise auf den Kippen und in den Restlöchern ehemaliger Tagebaue. Etliche Solarparks sind bereits in Betrieb, andere im Bau oder in der Planung. Bisher ambitioniertestes Projekt ist der Energiepark Lausitz. Auf einer Abraumhalde des ehemaligen Tagebaus Klettwitz entstehen – um Dutzende Windkraftanlagen herum – Solaranlagen mit einer Gesamtleistung von 300 Megawatt; die ersten 50 gingen kürzlich ans Netz. Derartige Anlagen laufen allerdings, einmal errichtet, fast ohne Personal. Die einstigen Beschäftigtenzahlen aus der Kohle lassen sich so nicht annähernd erreichen.

Auch den Initiatoren des im vorigen Jahr gestarteten Projekts „Revierwende“ – zu den Ideengebern zählen DGB-Vorstand Stefan Körzell und der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis – geht es nicht um die Rettung alter Arbeitsplätze in der Kohle. Von sechs „Revierwende“-Büros aus, zwei in der Lausitz, zwei im mitteldeutschen Kohlerevier sowie je eins im Rheinland und im Saarland, wollen sie die Veränderung vor Ort mitgestalten, und zwar im Sinne der Beschäftigten. Ideen für die Transformation der ehemaligen Braunkohlenreviere sollen vor allem aus den Regionen selbst kommen. „Wir suchen dazu den direkten Austausch mit den Beschäftigten­ und den Betriebsräten“, erklärt Lausitz-Projektleiter Matthias Loehr. Ihr Wissen und ihre Erfahrung sollen, anders als nach dem Ende der DDR, nicht abgeschrieben und vergessen werden.

Wohl wichtigstes Anliegen der „Revierwende“ ist eine detaillierte Begutachtung der Transformationsprojekte, die jetzt finanziert werden sollen. „40 Milliarden Euro sind gleichzeitig Segen und Fluch“, sagt Michael Vassiliadis und hat dabei wohl im Sinn, dass derart viel Geld mancherlei Begehrlichkeiten bei Bürgermeistern und Landräten wecken dürfte. Unter den eingereichten Projekten soll sich auch die eine oder andere Trampolinhalle befinden.

Der IG-BCE-Vorsitzende nimmt schon mal Maß. „Wir müssen sehr darauf achten, dass durch die Investitionen in erster Linie industrielle ­Arbeitsplätze entstehen“, sagt er. „Gute, sichere und gut bezahlte Arbeit – das muss das Ziel sein.“ Das „Revierwende“-Team hat bereits eine Checkliste erstellt. Strahlt das Projekt über die Region hinaus? Zieht es Arbeitskräfte in die Lausitz? Verspricht es langfristig Wertschöpfung? Bietet es Beschäftigten eine Chance, deren Jobs durch den Kohleausstieg wegfallen?

„Revierwende“-Projektleiter Loehr sieht – erstmals seit mehr als 30 Jahren – „eine Riesenchance für die Lausitz, ihre Zukunft erfolgreich zu gestalten“. Leuchtturmprojekt ist für ihn das ICE-Instandhaltungswerk der Bahn in Cottbus, das „Neue Werk“, wo in den nächsten Jahren 1200 hochwertige Industriearbeitsplätze entstehen. Bei Ausbildung und Personalübernahme wagt die Bahn dabei gemeinsam mit dem Tagebau- und Kraftwerksbetreiber LEAG den Schritt in die Zukunft: Bereits in diesem Jahr werden die ersten 80 LEAG-Beschäftigten in das „Neue Werk“ nach Cottbus wechseln – von der alten in die neue Arbeitswelt.

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