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Magazin Mitbestimmung

Von CARMEN MOLITOR: „Linde wird nicht mehr das gleiche Unternehmen sein“

Ausgabe 03/2017

Aufsichtsrat Die Konzernspitze der Linde AG will mit dem US-amerikanischen Konkurrenten Praxair fusionieren. Betriebsräte und Gewerkschafter befürchten den Verlust der deutschen Mitbestimmungsrechte. Denn der Firmensitz  könnte bald schon in Irland liegen.

Von CARMEN MOLITOR

Als der Industriegase-Hersteller und Anlagenbauer Linde aus München Anfang März die Geschäftszahlen von 2016 veröffentlichte, hörten Börsenprofis, was ihnen längt bekannt war: Die Linde AG liefert. Sie hat ihre Wachstumsziele erreicht, die Konzernmarge stieg, die Dividende wuchs. Eine stetige, solide Entwicklung. „Zu langweilig“, urteilten die Analysten und rieten: „Kein Kauf!“

Linde, seit 2008 in „The Linde Group“ umbenannt, geht es gut. Knapp 17 Milliarden Euro Umsatz erzielte der Konzern 2016 weltweit. Er hat 60.000 Beschäftigte in mehr als 100 Ländern, davon allein 8.000 in Deutschland. Aber Renditen können immer noch besser sein, Dividenden noch höher steigen. Um das zu erreichen, will die Konzernspitze mit dem US-amerikanischen Konkurrenten Praxair fusionieren.

Die Mitbestimmung würde verloren gehen

Ob es so kommt, entscheidet sich formell erst im Mai bei einer Aufsichtsratssitzung; aber die Verhandlungen sind weit fortgeschritten. Den geplanten „Merger“, der die Augen der Börsenanalysten wieder zum Strahlen bringen könnte, halten Betriebsräte und Gewerkschafter der beiden im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften IG BCE und IG Metall für keine gute Idee. Der Zusammenschluss gefährdet die Mitbestimmung im Unternehmen.

„Im Endeffekt geht uns so die Mitbestimmung verloren“, kritisiert Gernot Hahl den geplanten Deal. Hahl ist Betriebsratsvorsitzender am Standort Worms, er hat den Vorsitz im Konzernbetriebsrat und im Europäischen Betriebsrat und ist Aufsichtsrat der Linde Group. Was ihm besonders Sorgen macht ist die Aussicht, dass bei einer Fusion eine neue Holding gegründet wird, die ihren Hauptsitz nicht in Deutschland haben wird. Als Standorte im Gespräch sind Dublin, London und Amsterdam; aussichtsreichster Kandidat ist – aufgrund der besonders niedrigen Steuern – Dublin.

Der Einfluss der deutschen Seite sinkt aber nicht nur dadurch, dass die Zentrale aus München verlagert wird. Der fusionierte Konzern würde größtenteils aus den USA geleitet werden, denn der designierte Vorstandsvorsitzende und der Finanzvorstand kommen von Praxair. Amerikanische Verhältnisse ziehen in das Unternehmen ein, vermutet Gernot Hahl, und Mitbestimmung hat dort einen schweren Stand: „Linde wird nicht mehr das gleiche Unternehmen sein, das es jetzt ist. Die DNA geht mehr oder weniger verloren.“

Verschlankung auf Kosten von Linde

Bisher hat Linde eine 76er Mitbestimmung – im Aufsichtsrat sitzen je sechs Vertreter der Eigner- und der Arbeitnehmerseite. Bei einem Patt kann der Aufsichtsratsvorsitzende Wolfgang Reitzle mit seinem doppelten Stimmrecht eine Entscheidung erzwingen. Es könnte sein, dass es bei der Entscheidung über die Fusion dazu kommen wird. Denn es regt sich Protest: „Die Arbeitnehmerbank sieht den Deal kritisch und will ihn genau prüfen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man nicht von einer Zustimmung ausgehen“, berichtet Aufsichtsrat Hahl. „Linde ist ein eigenständiges Unternehmen, das ohne Probleme auch alleine weitermachen könnte. Wir haben in jeder Hinsicht eine solide Basis – vom Vermögen und von der Bilanz her.“

Der Linde-Vorstand verspreche sich von der Fusion Synergieeffekte in Höhe von einer Milliarde Dollar. Hahl befürchtet, dass diese Einsparungen in erster Linie auf Kosten von Linde gehen werden, weil Praxair bereits eine Rosskur an Einsparungen und Verschlankung durchlebt hat: „Unser Vorstand argumentiert damit, dass die Umsatzrendite von Praxair wesentlich höher ist und sie besser als wir aufgestellt sind“, sagt Hahl. „Das bedeutet im Klartext, dass die Synergien in erster Linie bei Linde gezogen werden.“

Gegen drohende Einschnitte ist man seit Dezember gewappnet. Gemeinsam mit der IG Metall und der IG BCE hat der Betriebsrat einen Beschäftigungspakt mit dem Arbeitgeber ausgehandelt. Der Tarifvertrag schützt die deutschen Beschäftigten bis zum 31. Dezember 2021 vor betriebsbedingten Kündigungen. Er sichert die Tarifbindung auch im Falle einer Fusion und sorgt für den Erhalt des Standorts Dresden mit derzeit noch 500 Arbeitsplätzen, den das Management ursprünglich im Zuge laufender Restrukturierungsmaßnahmen komplett schließen wollte. „Dass die 76er Mitbestimmung bleibt, das haben wir für die jetzige Linde AG und alle künftigen Linde-Gesellschaften, die in Deutschland neu gegründet werden, festgelegt“, ergänzt Gernot Hahl.

Das könnte für den Bereich Linde Engineering interessant werden. Denn laut Hahl wird darüber nachgedacht, diesen Unternehmensteil in eine eigene Gesellschaft auszugliedern. „Die wird ihren Sitz in Deutschland haben und einen mitbestimmten Aufsichtsrat bekommen“, prognostiziert er.

Es droht ein Aufsichtsrat ohne Mitbestimmung

Trotz dieser Absicherungen befürchten Betriebsräte und Gewerkschaften, dass die Musik bei Linde-Praxair bald woanders und ohne ihre Beteiligung spielt. Die geplante neue Holding im europäischen Ausland würde keinen mitbestimmten Aufsichtsrat nach deutschem Recht mehr haben. Der Aufsichtsrat der Tochter Linde AG (oder einer anderen neuen Linde-Gesellschaft) in Deutschland bliebe noch bestehen, wäre aber bei den zentralen Konzernentscheidungen nicht gefragt. Welche Unternehmensform die neue Holding bekommen soll, stehe noch nicht fest. „Eine SE ist jedenfalls meines Wissens nach nicht angestrebt“, sagt Gernot Hahl. „Wir haben das Modell in die Diskussion eingebracht, weil wir in einer SE die Mitbestimmung zumindest ein bisschen festschreiben könnten. Aber darauf geht der Vorstand nicht ein.“

Auch die guten Arbeitsbedingungen des Europäischen Betriebsrats mit bislang drei Sitzungen im Jahr sieht Hahl durch eine Fusion bedroht. „Bald werden wir auch nicht mehr die Unternehmensspitze selbst als direkten Ansprechpartner haben“, vermutet der Betriebsrat.

Jürgen Wechsler, Bezirksleiter der IG Metall Bayern äußert die Sorge, „dass ein Unternehmen mit einer qualifizierten Mitbestimmung aus Deutschland weggeht, nur aus dem Grund, weil das Management dann Entscheidungen treffen kann, ohne dass sich Arbeitnehmervertreter einbringen können“. Bisher habe die Mitbestimmung bei Linde gut funktioniert: „Das ist für mich eine vorbildliche Kultur, weil man sich auch mal streiten konnte und trotzdem Konflikte gut gelöst hat“, sagt der Gewerkschafter.

Gute Kooperation der beiden Gewerkschaften

So hatte es bereits 2015 die ersten Vorstöße für eine Fusion gegeben, die aber abgebrochen wurden. „Damals haben die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat klar gegen die Fusion gesprochen“, erinnert sich Wechsler. „Über die hat man sich nicht hinweggesetzt – nicht hinwegsetzen können. Insofern ist die Mitbestimmung hier gut praktiziert worden.“

Gut funktioniert laut Wechsler auch die Kooperation zwischen den beiden Gewerkschaften im Konzern. Während die IG BCE vorwiegend im Gasebereich präsent ist, vertritt die IG Metall viele Beschäftigte aus dem Anlagenbau. In ihrer Skepsis über die anstehende Fusion sind die Gewerkschaften vereint.

Ihre Vorsitzenden Jörg Hofmann (IG Metall) und Michael Vassiliadis (IG BCE) forderten auch gemeinsam, den Verdacht eines Insiderhandels schnell zu klären, dem die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) nachgeht. Presseberichten zufolge geriet dabei der Aufsichtsratsvorsitzende Reitzle ins Visier der Behörde, weil er mehrmals Linde-Aktien im Wert von rund einer halben Million Euro gekauft haben soll, bevor die Öffentlichkeit von der Anbahnung einer Fusion erfahren habe.

Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat haben zugestimmt, den Fusionsprozess zu prüfen. „Diese Prüfung muss man jetzt abwarten“, sagt Wechsler. Er selbst plädiert dafür, dass Linde eigenständig bleibt. „Linde ist das größere Unternehmen. Hier will der Kleine den Großen schlucken. Lieber sollte Linde überlegen, ob man Praxair übernimmt und den Unternehmenssitz in Deutschland lässt.“

Der Vorstand drückt aufs Tempo und will vor der Hauptversammlung am 10. Mai einen Fusionsvertrag abschließen. Noch hofft Betriebsrat Gernot Hahl, dass es nicht soweit kommt. Womöglich mache das Kartellamt den beiden Konzernen so strenge und kostspielige Auflagen, dass die Anteilseigner keinen finanziellen Sinn mehr in dem Zusammenschluss sähen. „Es könnte ja sein, dass wir ein Geschäft mit hoher Marge abgeben müssten und Geschäfte mit niedriger Marge behalten sollten. Dann stellt sich auch für Investoren die Frage, ob der ganze Zusammenschluss Sinn ergibt.“ Das Fest an der Börse müsste dann erst einmal ausfallen.

Fotos: Wolfgang Roloff; Timm Schamberger / dpa (Jürgen Wechsler)

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